18.
CHRONIST: Oliver Sevenaer
GESCHICHTE DES II. IMPERIUMS
Selbstdarstellung:
Von den Werkzeugen und Waffen des Chronisten (Auszug)
»Der Roboter wartete geduldig, kannte weder Ungeduld noch war er einer anderen menschlichen Regung fähig, obwohl er eine der vollendeten Schöpfungen darstellte, die das Hirn des Planeten Gammon in Zusammenarbeit mit dem Team des ENIGMA-Schiffes TUTMOSIS hervorgebracht hatte. Die Maschinerie dieses Planeten versorgte unablässig – getreu ihrem Programm, einer intelligenten Rasse zu dienen – das Zweite Imperium mit Robotern. Die feingliedrigen Finger der Maschine waren nur für einen einzigen Zweck geschaffen worden:
(Noch suche ich nach einem Namen für meine bezaubernde Assistentin, deren Vollkommenheit zweier wissenschaftlich-technischen Systeme entstammt). Sie schrieben mit einem besonderen Federhalter und einer Spezialflüssigkeit auf kostbares Papier. Der Robot verwendete dazu eine Schrift, die seit einigen hundert Jahren die Universalschrift des Zweiten Imperiums darstellte. Er wandte den Kopf und sah mich, seinen Herrn, fragend an. Der Augenaufschlag ist in der Galaxis einzigartig. Es war still in dem großen Raum, der den Geruch jahrhundertalter Tusche verströmte.
»Schreibe ...«, sagte ich, der alte Mann. Jetzt huschte, sichtbar nur für die Winzigkeit eines Augenblicks, die Andeutung eines nachsichtigen Lächelns über meine Züge. Ich blickte sinnend aus dem Fenster, das die gesamte Wand des Raumes ausfüllte.
»Ja, Herr«, sagte der Robot leise, »ich warte ...«
Juli 3917: Die Flammen loderten auf. Carid sah mit unbeweglichem Gesicht zu, wie das grell lodernde Feuer die Papiere, Datenträger und Holochips vernichtete. Er saß vor dem offenen Kamin, hatte die Füße in einer Art Yoga unter sich gezogen und beseitigte den Rest seiner wertvollen Aufzeichnungen. Die schlanken Finger des Eurasiers suchten zwischen den einzelnen Aufzeichnungen. Blatt für Blatt schwebte hinunter in die flackernden Flammen. Kleine Stückchen verbrannter Folie flogen auf und wurden vom Luftstrom hochgerissen.
Im Raum war es unnatürlich still. Es dauerte Stunden, bis Carid seine Notizen durchgesehen hatte. Eine farbige Fotografie hing an der Wand. Es war eine Aufnahme des toten Serai Ho, der vor wenigen Jahren mit einem Schiff abgestürzt war. Sein Sohn war auch Biologe geworden – wie der berühmte Vater. Carid Ho hatte die Mikrobiologie gewählt. Auf Grund seiner Fähigkeiten hatte das Imperium ihn nach Khorsabad geschickt – er war ebenfalls zellverlängert. Und jetzt – er sah unruhig hoch und schauderte – würde er das Imperium verraten müssen. Carid stand langsam auf.
Neben ihm, auf einem niedrigen Tisch mit hoch polierter Platte, lag eine lederne Tasche, in der eine moderne Waffe ruhte. Es handelte sich um das letzte Modell eines Lasers, das nur in begrenzter Anzahl für Angehörige der Kapitänsklasse hergestellt wurde. Neben dem Tisch standen Koffer, ein weißer, lederner und ein kleinerer aus Leinengewebe. In diesen Koffern lag die gesamte Habe des Mikrobiologen: alles, was er bisher geschaffen hatte. Notizen und Aufzeichnungen, strahlungs- und weltraumsicher gespeichert. Das Wissen und die technischen Fakten, die diese Datenspeicher enthielten, waren in ihrer Konsequenz furchtbarer als die Feuerkraft einer Raumflotte. Für jemand, der sie lesen konnte, waren sie von unschätzbarem Wert. Carid Ho musste verhindern, dass sie jemand in die Hände bekam, der mit ihnen nicht umgehen konnte – gleichzeitig durfte er sie nicht vernichten. Seine Freunde brauchten sie.
Carid schüttelte den Kopf, um einen dumpfen Schmerz loszuwerden, der ihn seit Stunden quälte. Er warf einen nachdenklichen Blick auf das Kaminfeuer, dann sah er auf die Uhr am Handgelenk.
»Verdammt«, sagte er leise, »noch eine halbe Stunde!«
Einzig das Haus der Familie Ho war von dem Angriff der Barbaren verschont geblieben. Als vor einer Woche der gepanzerte Keil der fremden Schiffe sich bis nach Terra vorgeschoben hatte, wurde vieles zerstört. Auch ein Vorort innerhalb von Terra Center, der Stadt, die fast die gesamte Region Nordamerikas bedeckte. Der Betonwürfel lag geschützt an einem Abhang, von einem Park mit großen Bäumen umgeben. Sie hatten die Druckwellen der explodierenden Geschosse aushalten können. Die Siedlung existierte bis auf wenige Häuser nicht mehr, ihre Bewohner, meist Wissenschaftler und ihre Familien, waren evakuiert worden. Nur einige Straßen waren verschont geblieben.
Traurig sah Carid auf die wertvolle Einrichtung. Er würde dieses Haus so verlassen, wie er jetzt Terra verließ – lautlos im Schutz der Nacht. Das war das Ende seiner Tätigkeit für das Imperium.
»Das Schiff sinkt«, sagte er zu sich, »und die klügsten Ratten gehen von Bord.«
Er fühlte sich bedrückt. Aber diese Furcht verschwand, als er sich vorstellte, was auf ihn wartete. Es war einige Minuten vor Mitternacht. Carid war allein. Auf der entfernten Straße herrschte todesähnliche Ruhe. Auf dem Fluss unter dem Fenster fuhren weder Schiffe noch Boote – in den strahlenden Ruinen der Gebäude war jedes Leben ausgestorben. Nur die kahlen Äste der Bäume um das Haus knackten, als sie der Anprall des Herbstwindes traf. Eine Zone des Todes.
Carid Ho ließ das Feuer ausgehen und begann sich anzuziehen. Über seine bequeme Kleidung zog er einen dreiviertellangen schwarzen Mantel mit Kapuze. Er streifte sich den Stoff über den Kopf und zog lederne Handschuhe an. Einen Moment zögerte er, dann griff er nach dem Gurt mit dem geladenen Laser und schnallte ihn um die Hüfte. Die Hände fassten nach den Griffen der Koffer. Ein Kontakt, den er mit der Stiefelspitze in die Wand drückte, ließ die Lampen erlöschen. Die Tür schwang auf, und Carid trat hinaus in die Kälte der sternflirrenden Herbstnacht.
Durch den anstürmenden Wind hörte der einsame Mann ein starkes Brummen in der Ferne. Es konnte der Wagen sein, der ihn abholen sollte. Es konnte ebenso gut etwas anderes kommen, die Polizei des Imperiums zum Beispiel. Er zögerte. Über den Gräsern, den Ästen der Büsche und der Rinde von Baumstämmen lag der erste Reif. Über der trostlosen Landschaft leuchtete kalkiges Mondlicht. Das Brummen kam näher. Ein Wagen fuhr den Abhang der Hochstraße hinauf. Die Lichtbalken der Scheinwerfer verwandelten den Hügel in einen zackigen Grat, auf dem man die Silhouette eines jeden Steines und jeden Grashalms genau sah. Der Mikrobiologe fröstelte und verschwand im Schatten eines großen Busches.
Carid dachte an die Dinge, die jetzt kommen konnten. Wer saß in dem Wagen? Das Fahrzeug verließ mit aufheulender Turbine die Straße und fuhr über die Rasenflächen des Parks. Die breiten Reifen, mit einem Geflecht von Stahlspiralen und Kunststoffketten überzogen, hinterließen Spuren der Zerstörung. Jetzt erfassten die Scheinwerfer den Umhang des einsamen Mannes.
Als die Barbaren angriffen, wurde auch der Zoo der Siedlung zerstört. Die Tiere waren aus ihren Gehegen entwichen – unter ihnen Wölfe. Einige von ihnen heulten jetzt die Scheibe des Mondes an. Die Musik zu dem mitternächtlichen Schauspiel hatte eingesetzt. Die Akteure waren an Ort und Stelle. Jetzt konnte die Handlung beginnen. Carid trat aus dem Schatten.
In einer Hand trug er die Koffer, in der anderen hielt er unter dem Mantel den schussbereiten Laser. Plötzlich geschah etwas Seltsames. Im gleichen Moment, in dem ihn das Licht der vollen Scheinwerfer traf, leuchtete die Kleidung des Biologen wie wildes Feuer auf. Die Fäden, die man in den Stoff des Mantels versponnen hatte, bewirkten diesen Effekt. Der Busch sah aus, als brenne er.
Das Aufflackern sagte dem Fahrer des Wagens, was er zu tun hatte. Er stellte die Lampen ab und wendete den schweren Wagen. Schonungslos wurde der Rasen zerrissen. Wieder heulte ein Wolf; ein anderer stimmte mit ein. Dann kläffte wütend ein Hund. Hinter den Hügeln brach sich das Echo eines einzelnen Schusses. Der Fahrer klappte die Tür vor seinem Sitz senkrecht in die Höhe. In der schwachen Beleuchtung des Armaturenbretts erkannte Carid die goldene Kleidung eines gammonischen Roboters. Dunkelrote Augen glühten den Biologen an. Eine zischende Stimme fragte in die Finsternis:
»Doktor Carid Ho, Freund des großen Schotten?«
»Hier bin ich!«
Carid ging zur offenen Höhlung des Führerhauses, das eine beachtliche Wärme ausstrahlte. An den Schlepper hatte man einen kleinen Anhänger gekoppelt, der eine Kabine von etwa drei Meter Kantenlänge trug. Die Hand des Eurasiers umspannte den Kolben der Waffe. Die Spitze zielte genau auf den Kopf des Gammoniers.
»Wie geht es Iron McConell?«, fragte er leise.
Die Antwort kam ohne jedes Zögern. Das betreffende Gruppenhirn schaltete gewohnt lichtschnell.
»Gut, soweit meine Informationen richtig sind. Aber der Tausendjährige wird nicht mit uns gehen. Er fühlt sich zu schwach.«
Carid schüttelte im Dunkeln den Kopf. Die Losung war korrekt.
»Ich hatte nicht erwartet, dass er kommen würde. Seine Tochter?«
»Sie wird an seiner Stelle kommen, sagte man mir«, antwortete der Gammonier.
»Noch derselbe Feuerkopf?«, fragte Carid.
»Natürlich – alle mögen sie deswegen.«
»Verlassen wir diesen ungastlichen Ort«, sagte Carid, setzte seinen Fuß auf das Trittbrett und schwang sich hinauf. Vor ihm klappte die Tür herunter. Als der Mikrobiologe saß, ruckte der schwere Motor des Schleppers an. Das Fahrzeug bahnte sich einen Weg durch den Garten und rollte auf die Fernstraße zu. Der Fahrer wartete – und Carid bemerkte auch den Grund. Von rechts näherten sich Lichter. Ein Konvoi kam heran und raste vorbei. Es handelte sich um schwere Wagen, auf denen Geschütze montiert waren. Schläfrige Soldaten saßen in den Kabinen. Griffen die Barbaren wieder an? Carid blickte zum Himmel.
»Es ist nichts. Die Soldaten sollen auf Schiffe gebracht werden. Man fliegt sie auf die Grenzplaneten.«
Die Stimme des Gammoniers war leise, als er auf die Hauptstraße hinausschwenkte. Die wenigen Worte, die er mit dem Robot gewechselt hatte, überzeugten Carid Ho. Während sich der Wagen in schneller Fahrt der Mitte der Stadt näherte, fasste Carid seinen Entschluss. Er stand auf, so gut es ging, klappte seinen Sitz zur Seite und ging geduckt durch den beweglichen Teil der Verkleidung nach hinten. Die rechteckige Kabine nahm ihn auf.
Er stellte sein Gepäck zu seinen Füßen ab, sicherte seinen Laser und steckte ihn zurück. Dann griff er nach einem Schalter, dessen Lage ihm vorher beschrieben worden war. Bevor die stählerne Wand des Würfels wieder hinter ihm herunterglitt, vernahm er noch die flüsternde Stimme des Gammoniers. Sie sagte unbewegt:
»Viel Glück, Doktor Ho.«
Carid nahm einen roten Schimmer wahr, als sich der Robot nach ihm umwandten. Dann schloss sich die Stahlplatte endgültig. Aus dem Schalter kam ein feines Summen, dann knackte es. Diesen Laut hörte Carid nur noch halb. Ein blendender Blitz zuckte durch die Kabine, riss den Wissenschaftler um und verging. Dann fiel Carid in eine unfassbare Tiefe. Der Motor des Schleppers heulte gleichzeitig auf. Dann setzte das Fahrzeug seinen Weg fort, der großen Stadt entgegen.
Ein anderer Ort, eine andere Stunde: Der greise Jorge Andreatta sah kopfschüttelnd seine Tochter an. Jean, schlank, schön und dynamisch, lehnte an einem Tisch und betrachtete das Gepäck zu ihren Füßen. Ihre gepflegten Finger schnippten die Asche der Narkorette in eine Schale, die vor viertausend Jahren auf dem Tisch eines Herrschers in der Region des Rigel gestanden und wertvolles Duftwasser enthalten hatte; ein Geschenk Garry Vipers. »Das werde ich nie verstehen«, sagte der alte Mann. Die Jahre hatten seiner mächtigen, untersetzten Gestalt wenig von ihrer Energie geraubt. Aber er wollte nicht mehr aktiv sein – das war es. Er hatte ein Recht auf Ruhe und Frieden.
»Was verstehst du nicht, Dad?«, fragte seine Tochter behutsam.
»Du bist dreihundert Jahre alt, siehst bezaubernd aus, wie mit zwanzig – und bist eine der fähigsten Biologinnen, die diese Welt außer mir hervorgebracht hat.«
Er konnte diese Worte sagen, denn er wusste, dass er, Jorge Andreatta, zur absoluten Spitze gehörte. Arroganz lag ihm fern – es handelte sich lediglich um eine Feststellung der geliebten Tochter gegenüber. Andreattas Stimme hatte sich erhoben.
»Warum – bei der ewigen Galaxis – hast du nicht wie Milliarden anderer Mädchen geheiratet, dann hättest du jetzt Kinder und einen guten Mann!«
»Die erste Vermutung will ich glauben, bei der zweiten finde ich zu viele Fragwürdigkeiten. Die Männer, die ich kenne, sind zumeist alles andere als das, was du als gut bezeichnest. Außer einem ...«
»Ich weiß«, sagte Andreatta mild, »außer Rapin Viper. Du hast recht. Aber du bist dir nicht im Klaren darüber, dass du dich in eine heikle Situation begibst. Es wird vermutlich nichts anderes dabei herauskommen als Gefängnis oder Tod. Warum?«
Jean hörte die dringende Frage, schluckte und sah dann ihrem Vater voll ins Gesicht. Sie drückte die Narkorette aus.
»Diese Frage kannst du selbst beantworten. Noch vor hundert Jahren wärest du ohne Zögern mit mir gegangen. Es ist einfach so, dass wir Jüngeren zum Handeln gezwungen werden, von etwas, was wir nicht kennen.«
»Ryan Capelt könnte es dir sagen. Er ist Psychologe.«
Mit einem Anfall von nutzlosem Trotz entgegnete Jean: »Bleib mir vom Halse mit Psychologen! Ich kenne sie. Ich fühle mich gesund und normal. Was brauche ich solche Seelenbohrer?«
»Es ist nicht zu fassen, in welchem Ton heute die Jugend mit ihren ehrwürdigen Eltern spricht!«
Jorge lachte. Plötzlich war er wieder jung, so wie ihn seine Freunde und seine Tochter liebten.
»Dazu kommt«, führte Jean lächelnd weiter aus, »dass die Arbeit, die wir leisten werden, in spätestens zehn Jahren die Sachlage entscheidend verändern wird. Der Kampf vor den Grenzplaneten dauert länger, das wissen wir. Es steht zu viel Macht hinter den beiden Imperien.«
»Du hast recht. Aber ich glaube nicht, dass ihr diese Frist unentdeckt überstehen werdet!«, brummte Andreatta.
»Lass dich überraschen, Dad. Iron McConell – du kennst ihn – hat unsere Spuren verwischt. Niemand wird uns finden«, versprach Jean überzeugend.
»Wie lange dauert es noch, bis dieser Wagen kommt?«, fragte der alte Biologe.
»Dreißig Minuten – warum fragst du?«, sagte Jean misstrauisch.
»Ich versuche auszurechnen«, sagte Andreatta und stand behände auf, »ob ich noch immer so schnell bin, wie ich einmal war. Zum Beispiel möchte ich wetten, dass ich innerhalb von fünfundzwanzig Minuten fertig bin, um mit dir zu gehen und euch grünen Kindern zu zeigen, wie man Arbeit richtig anpackt. Nimmst du einen alten Mann, der zufällig etwas von Biologie versteht, noch mit?«
Jean stand erstarrt da. Dann fiel sie ihrem Vater um den Hals, Sie liefen, ihre Sachen zu packen. Andreatta war tatsächlich in der Lage, fünf Minuten vor Ankunft des Wagens fertig zu werden. Auch er brachte Wissen mit, das dem Imperium fehlen und seinen Freunden nützen würde. Schließlich klopfte es an ihre Tür. Grinsend stellte sich Andreatta in einen Winkel des Zimmers, neben eine offene Tür, die in einen Nebenraum führte. Seine Hand hielt einen schweren Laser. Der Lauf der Waffe zitterte nicht um Millimeter.
»Wehe«, sagte er trocken und leise, »wenn jetzt der falsche Mann anklopft. Dann gibt es wilde Dinge zu sehen.«
»Ja?«, rief die junge Frau.
Drei Sekunden voller Unsicherheit verstrichen. Dann öffnete sich die Tür. Es war Tex, ihr Hausroboter. Das Visier über den Augen glitt klickend hoch.
»Ein Wagen wartet, Miss Andreatta.« Sie atmeten erleichtert auf. Jorge steckte die Waffe weg. »Wir sind fertig.«
Der Roboter verriet mit keiner Reaktion, dass er überrascht war. Plötzlich stimmten seine Informationen nicht mehr.
»Hilf uns, das Gepäck herunterzubringen«, befahl die junge Frau.
Tex ergriff die Koffer und hob sie hoch, als wären sie Papier. Dann bewegte er sich geräuschlos die Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Auf dem Wagen war eine schwarze Kabine befestigt, auf der im Licht der Straßenbeleuchtung Buchstaben schimmerten. C. G. Henderson. Spezialumzüge und Transporte las Jorge. Er lachte, dann sprang er seinem Gepäck nach, das Tex auf der Ladefläche des geöffneten Würfels verstaut hatte. Er half seiner Tochter, hinaufzuklettern. Als sie sich in der Dunkelheit des Würfels befanden, merkten sie, dass sich der Wagen entfernte. Sie hörten noch, wie die Uhr des Großen Turmes, der unzerstört geblieben war, eine halbe Stunde nach Mitternacht anzeigte.
Als das Fahrzeug das nächste Mal halten musste, waren weder Jorge Andreatta oder seine Tochter noch ihr Gepäck in seinem Innern. Sie waren einfach verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst.
Rapin Viper wurde beschattet; der Sohn des großen Viper, schlank, trainiert, mit dem typischen Verstand der Männer, die durch die Schulen des Planeten Khorsabad gelaufen waren. Er hatte es seit Wochen gemerkt. Rapins Augen, hellgrau mit winzigen goldenen Punkten darin, waren schärfer als die Phantasie der Leute vom Planetaren Sicherheitsdienst. Sein Verstand hatte reagiert, als die ersten Zeichen auftauchten. Die Art, in der sich gewisse Störungen in seine Privatgespräche einschlichen, die Art, in der sich plötzlich Männer mit glatt rasierten Gesichtern an seinen Tisch in der Kantine zu setzen pflegten und die Weise, in der man den Ablauf seiner wissenschaftlichen Forschungsarbeiten zu betrachten pflegte.
Rapin hatte, von Vixa gewarnt, in einem seiner hoch komplizierten Hilfsrobots eine winzige Abhöranlage entdeckt, die aber einer Überprüfung nicht standhielt und sich in einer Flamme auflöste, als er sie ausgeklemmt hatte. Als er sich daraufhin beim Sicherheitsdienst beschwerte, wusste niemand darüber Bescheid. Es machte Rapin nichts aus, dass er beobachtet wurde. Er kannte die Macht seiner Freunde, die im entscheidenden Moment in einem durchdachten Plan ansetzen würde. Aber er hätte ebenso gern gewusst, aus welcher Richtung der Verräter seine Pfeile abschoss. Kannte er seinen Feind, waren die Reaktionen leicht. Als Sohn des großen Viper kannte Rapin Dinge, die andere Menschen nie erfahren würden. Er würde sich zu gegebener Stunde wehren müssen, das war ihm klar – aber dieser Zeitpunkt rückte näher, unaufhaltsam, wie der Zeiger einer Uhr.
Rapin war Sagittaner, wie sein Vater. Das weiße, kurz geschnittene Haar, das er sorgfältig pflegte, schimmerte auf, als er auf dem Wege zu seinem Labor den Lichtkegel eines Tiefstrahlers durchschritt. Seine Hände waren ruhig; er vermochte seine Unsicherheit und die Ungeduld, die ihn quälten, geschickt zu zügeln, Rapin Viper war Former. Former bedeutete, zu jener Gruppe Wissenschaftler zu zählen, die sich anmaßten, aus toter Materie, Nährlösung und einem Stückchen Gewebe, das aus teilungsfreudigen Fortpflanzungszellen bestand, neue Wesen – lebendige Wesen – zu züchten. Einer der anstrengendsten und gleichzeitig bedeutungsvollsten Berufe innerhalb des Zweiten Imperiums.
Hier auf Khorsabad Nova, der wegen seines milden Klimas und der wenigen wichtigen Siedlungen berühmt war, wurde seit Jahren versucht, künstliche Menschen zu züchten, Androiden, Homunkuli, Humanoiden.
Rapin streifte eine sterile Maske vor sein Gesicht und öffnete einen Schrank. Die Tür trug seinen Namen. Er nahm Spezialkleidung heraus und schlüpfte in den Kittel, der ihn wie eine flexible Rüstung umgab. Dann ging er zur Kammer des Ionisators und berührte einen Knopf.
Die Ionendusche fiel wie ein faltenreicher Vorhang herunter und badete den Mann in einem Nebel weißer Gase. Der winzigste Keim, den er an seinen Kleidern oder der Haut trug, wurde vernichtet. Dann öffnete sich die gläserne Schleuse und entließ Rapin ins Labor. Er klappte den zentnerschweren Deckel der Form herauf. Gegengewichte surrten an ihren Schienen entlang. Er sah in das unfertige Antlitz des Androiden.
Als vor Jahren noch der gewohnte, ungezwungene Ton zwischen den Forschern herrschte, hatten sie den Mittelpunkt ihrer Forschungen Test Eins genannt. Jetzt waren zu viele unter ihnen, die sich dem Sicherheitsdienst näher verbunden fühlten als ihrer eigentlichen Arbeit. Nicht, dass sie deswegen schlechter geworden waren. Aber es schlich sich eine gewisse Kälte in die Unterhaltungen ein, eine unbegründete Gereiztheit. Es war alles anders geworden.
Test Eins schlief immer noch, würde noch lange schlafen. Und wenn er erwachte, dachte Rapin belustigt, dann würde er, Rapin, nicht mehr hier sein.
»Worüber lachen Sie, Kollege?«, fragte ein Mitarbeiter, der gerade eine Gewebeanalyse fertig stellte. Rapin drehte sich in die Richtung, aus der er angesprochen worden war.
»Ich stelle mir gerade vor«, sagte er nachlässig, »was Test Eins denken wird, wenn er aufwacht und unsere intelligenten Köpfe bemerkt. Ist das nicht eine Überlegung wert?«
»Sie halten sich wohl für sehr geistreich, Rapin?«
Ein Mikrobiologe sah ihn an.
»Doch«, brummte Rapin verdrossen, »und ich hatte genügend Gelegenheit, festzustellen, dass es für die Ansprüche Khorsabad Novas völlig reicht.«
Das Schweigen, das sich daraufhin wie eine giftige Wolke ausbreitete, arbeitete mit an der Errichtung einer Barriere, über die hinweg sich diese Männer gegenseitig nicht mehr verständigen würden. Rapin grinste grimmig in sich hinein. Test Eins war seit vier Wochen gewachsen – durch das Prinzip des Lebens am Stiel. Die Zellen, die man aufgefangen und in biologisch identischer Nährlösung aufzog, wuchsen wie ein Embryo. Sie waren aus dem Hirn eines Säuglings herausoperiert worden – das Kind war heute schon ein junger Mann. Aber das, was aus diesem winzigen Zellbündel geworden war, lag hier in dieser Form. Unendlich viele, teilweise fehlgeschlagene Versuche waren vorangegangen.
Vor einigen zehntausend Jahren kamen Ärzte der pharaonischen Ägypter darauf, dass sich Zellen nur dann fortpflanzen oder teilen, wenn man sie innerhalb des menschlichen Versorgungssystems halten konnte. Wenn sie zu ihrer Zeit einem Menschen eine neue Nase gaben, gingen sie folgendermaßen vor: Sie trennten aus der Haut der Wange einen Fleischlappen heraus und legten ihn auf den Knochen des Nasenbeins. Aber immer noch hing diese Schicht an der Wange fest, innerhalb der Blutgefäße und Nervenfasern. Erst, wenn sie an dem Knochen, gefördert durch das Zusammenhängen mit lebender Haut, festgewachsen war, trennte man diese Schicht ab. Das war Leben am Stiel.
So auch hier. Die Bauchwand des Androiden war der Teil, der ständig von der Maschine versorgt wurde; um diesen Herd gruppierten sich die wachsenden Zellverbände. Für einen Laien wäre es erschreckend gewesen, hätte man ihm den wachsenden Test in den ersten Stunden gezeigt. Aber noch eines kam hinzu. Test würde kein Mensch werden, er würde nichtmenschliches Gewebe haben, kein knöchernes Stützgerüst und kein Blut, das die Haut und die Organe versorgte. Test blieb nichtmenschliches Leben.
Rapin betrachtete den geschlechtslosen Körper des Androiden. Er schaltete das Röntgengerät ein, das sich unter der Form befand. Als das Summen des Schirmes anzeigte, dass sich das Gerät in Bereitschaft befand, wandte er sich seinem Sichtschirm zu. Ein Handgriff – der Schirm erhellte sich. Auch hier war nichts anderes zu sehen als das bekannte Knochengerüst des Skeletts. Aber es waren keine »menschlichen« Knochen.
Die dauernde Beeinflussung der wachsenden Zellen hatte grundlegende Veränderungen in ihnen hervorgerufen. Das Zellplasma war der tödlichen Bedrohung der Gammastrahlen in einer Richtung ausgewichen, die zuvor von den Forschern bestimmt worden war. Neunzehn Zwanzigstel des Plasmas waren eine Verbindung verschiedener Säuren – der Zellkern bestand aus einer hochmolekularen Eiweißblase, die bereits Keime zu anderen, noch weniger menschlichen Wesen in sich trug. Die Zellhaut war Plastik Acht, eine völlige Neuschöpfung der Wissenschaft, halbtransparent und in der Lage, jeglichen Vorgang der »normalen« Zellen identisch vorzunehmen.
Schon an der Haut konnte man feststellen, dass sie anders war. Sie hatte die Farbe, die ein Mensch erwarb, wenn er sich längere Zeit der Sonne aussetzte oder – lange im Weltraum reiste. Noch nie war auf Terra etwas geboren worden, das eine vollwertige Haut dieser Art besaß. Schüttete man kaustische Säure auf diese Haut, wurde sie ohne jede primäre Reaktion aufgesaugt, durch Osmose den Zellen zugeführt und dort in die Substanz umgeformt, die dieses Wesen zum Leben benötigte. Rapin nahm einen Plastikstab und führte die Spitze langsam über das Schirmbild.
Er hatte sich derart oft mit der Struktur dieser seltsamen Knochen beschäftigt, dass er im übertragenen Sinn jeden einzelnen Zellverband kannte. Plötzlich geschah etwas, das nur die Männer von Khorsabad kannten. Rapin Viper versetzte sich in einen Zustand, der ihn tief in die reale Materie versinken ließ. Er konzentrierte sich. Seine Augen glitten, ohne von Dingen der Außenwelt Kenntnis zu nehmen, über die Schatten des Skeletts. Die wuchernden Skelettzellen hatten aus der Nährflüssigkeit jene Substanzen geholt, die von ihnen zum Aufbau der Stützelemente benötigt wurden. Es waren Spuren von Eisen und Kupfer, sowie gelöstes Plastik als Bindemittel. Daraus hatten sie das geschaffen, was jetzt unter seinen Blicken lag: ein elastisches Gerüst aus Hohlstäben, das, federnd und kräftig zugleich, aus Plastik, Eisen und Kupfer bestand. Und aus rund dreißig anderen Bestandteilen, die selbst Viper nicht alle aufzählen konnte. Knochen aus reinem Eisen. Ein unmenschlicher Androide.
Jetzt versteifte sich der Körper des Formers. Er hatte etwas entdeckt. Ein Zellverband, der später die Leitungen der Nervensysteme umschließen und schützen sollte, hatte sich unregelmäßig entwickelt. Das würde zu ernsthaften Störungen des erwachenden Wesens führen, zu übergroßer Empfindlichkeit oder unkontrollierten Reflexen. Rapins Finger griffen nach einer Tabelle. Im Computer waren die Daten für die Anlage verankert, die durch winzige Stromstöße das Wachstum regulierte. Nach einigen zwanzig Schaltungen war Rapin sicher, dass in etlichen Stunden dieser Fehler ausgeglichen sein würde. Er beendete die Untersuchung, ohne etwas zu finden. Als er in die normale Welt zurückkehrte, fand er das Labor leer. Er schaltete müde den Röntgenschirm ab, schloss die Form und stand taumelnd auf. Automatisch glitt seine Hand an die Stirn und wischte den Schweiß weg. Elementare Müdigkeit hatte von ihm Besitz ergriffen; Erschöpfung lähmte seine Denkfähigkeit. Morgen sollten das Hirn und der Verstand des Androiden untersucht werden.
Rapin zog sich um, verschloss das Labor mit seinem Kontaktgeber – jeder der Männer dieses Teams hatte einen solchen – und holte Atem. Die Nachtluft tat ihm wohl. Langsam ging er die fünfhundert Meter zu seiner Behausung. Seine Gedanken waren bei dem Geschehen, das in sechs Stunden abrollen würde. Fünf Stunden gehörten einem Schlaf der Erschöpfung. Er öffnete die Tür seines Hauses. Vixa stand vor ihm.
»Alles bereit, Vixa?«
Der Robot verbeugte sich diskret. Die roten Augen ließen das schweißnasse Gesicht seines Herrn nicht los. Aus der Sprechöffnung drangen leise Worte in Alt-Terranisch – einer Sprache, die fast niemand mehr beherrschte.
»Wir haben alles Notwendige getan, Herr.«
»Hilf mir, wie immer«, sagte Viper. Ein Arm des Robots griff nach ihm. Dankbar lehnte sich Viper darauf. »Bring mich ins Bett, lass mich viereinhalb Stunden schlafen und leite dann alles in die Wege. Ich muss mich auf dich verlassen können, Vixa.«
»Es wird alles geschehen, wie du es angeordnet hast«, sagte der Robot leise. Als sein Herr schlief, durchforschten Vixas Augen noch einmal den Raum, dann schloss er die Tür. Vixa war eines der Spitzenexemplare, die das Hirn auf Gammon hervorgebracht hatte. Außerdem wusste Viper, dass Iron McConell bei der Herstellung zugegen gewesen war und dass seine Ideen mit eingebaut worden waren. Es gab zwanzig dieser Roboter im Imperium. Neunzehn davon standen im Dienst jener Männer, die das Glück hatten, Iron als Freund zu besitzen. Davon war Viper einer – drei dieser Roboter gehörten ihm. Er kannte den Wert, den diese Maschinen verkörperten.
Vixas drahtloser Befehl rief Nivo und Alrid in ein Zimmer. Die Gammonier waren sofort zur Stelle. Ihre Unterhaltung ging lautlos vonstatten. Niemand wusste, was sie sich zu sagen hatten. Das Gruppenhirn, das sie steuerte, stand auf einem Planeten, dessen Koordinaten nicht einmal Rapin Viper bekannt waren, Über die Leitungen und Strahlen dieser Zentrale bekamen die Robots ihre Informationen. Das Ganze vollzog sich mit vielfacher Lichtgeschwindigkeit.
Rapin Viper schlief. Viereinhalb Stunden lang. Dann weckte Vixa seinen Herrn und brachte die Kleidung, die Rapin bei seiner Flucht anziehen würde. Er nahm nichts anderes mit als eine Waffe, die Kleidung und einige Datenspeicher. Rapin wusch sich mit kaltem Wasser und verscheuchte die Müdigkeit, dann zog er sich bedächtig an. Er hielt es für notwendig, niemanden zum Zeugen seiner Flucht zu machen. Keiner sollte den Weg erfahren. Er streifte die schwarzen Lederstiefel über die Hosen, schloss die diamagnetischen Verschlüsse der Jacke und setzte die Mütze auf. Dann versenkte er die großkalibrige Laserpistole in die Tasche und vergewisserte sich, dass sie entsichert war. Die Daten in der strahlenfesten Verpackung verschwanden in einem Saum, die Ampulle mit Säure lag bereits in der Phiole. Ein geringer Druck an eine bestimmte Stelle ließ die Daten unbrauchbar werden. Noch eine Stunde.
Als Rapin in der Dunkelheit seines Hauses ins oberste Stockwerk stieg und hinaussah, erblickte er den Schatten. Der erste Posten, der ihn bewachte. Sein Haus lag abseits der anderen Siedlung. Jener Mann hatte ein kurzläufiges Gewehr unter dem Arm. Immer wieder fragte sich Rapin, was er falsch gemacht hatte. Niemand hatte einen Grund, in ihm einen »Verräter« zu vermuten. Ärgerlich verzogen sich seine Züge.
Er rief zwei Namen. Jetzt war es Sache seiner Freunde, ihm behilflich zu sein. Nivo und Alrid kamen ins Zimmer. Hier war es dunkel, ebenso wie draußen, nur leuchteten über den Wäldern Khorsabads die Sterne. Das Glühen der robotischen Augen kam näher.
»Könnt ihr feststellen, wie viele Männer dieses Haus hier und mich beobachten?«, fragte Rapin scharf.
»Gewiss«, sagte Alrid. In der Dunkelheit machte der Former eine Geste der Ungeduld. Die Robots spürten es. »Sechs Männer und ein Robot, Herr.«
»Wo befinden sie sich? Wie können wir sie ausschalten?«
Einen Moment zögerten die Robots mit der Antwort. Ihre Augen sahen an dem Mann vorbei. Dann sagte Alrid: »Der, den du gesehen hast, ist der Robot. Im geeigneten Moment wird ihn ein Befehl abrufen. Ich erkenne seine Gedanken. Die anderen Männer sind Beamte der Sicherheitsbehörde. Sie wissen, dass du heute Nacht fliehen willst. Sie kennen nur die genaue Stunde nicht.«
Rapin pfiff durch die Zähne. Mit so viel Anteilnahme hatte er allerdings nicht gerechnet. Seine Vorstellungen erstreckten sich auf drei Agenten, die irgendwo im Schatten lauerten und die er mit der Faust oder mit der Waffe erledigen würde.
»Könnt ihr sie weglocken?«, fragte er die Robots.
»Aber sicher, Herr«, gab Alrid zur Antwort. Rapins Plan nahm sichtbare Formen an.
»Du wirst jetzt zu meinem Kleiderschrank gehen, Nivo, und dich so anziehen, dass du mir täuschend ähnlich siehst. Ein uralter Trick, der vielleicht deshalb wirkt.«
»Selbstverständlich, Herr.« Nivo bewegte sich schon zur Tür, die hinter ihm zuglitt. Robots benötigen kein Licht. In der Dunkelheit seines Zimmers wurde weiter verhandelt. Irgendwie fühlte sich Rapin wie ein Jäger, dem der Anfang der Jagd mitgeteilt wurde. Es konnte beginnen.
»Vixa, schalte die Männer aus, nachdem Alrid das Signal gegeben hat. Wie denkst du, dass wir vorgehen können?«
»Ich werde es dir zeigen, wenn die Zeit kommt.«
»Ich erwarte Perfektion«, sagte Viper. Dann ging Vixa aus dem Zimmer. Die Spannung wuchs von Minute zu Minute. Alrid stellte sich an die Tür. Von seinem Standort konnte er alles beobachten, was sich in einem weiten Kegel außerhalb des Hauses vollzog. Das Warten machte den Former nervös. Er zündete sich mit äußerster Vorsicht eine Narkorette an. Dann war die Zeit um.
Der fröstelnde Mann, der vor seinen Geräten auf der Zigurrah von Khorsabad Antica saß, fluchte leise. Heute Nacht, dachte er, sollte dieser Wissenschaftler angeblich flüchten – aber niemand wusste, wie Viper dies anstellen wollte. Es ging kein einziges Schiff innerhalb der nächsten Woche von Khorsabad ab. Der Mann warf einen Blick durch die Okulare seines elektronischen Fernglases. Was er sah, war seit Stunden unverändert. Nicht der leiseste Lichtschein war in dem Haus Rapin Vipers zu sehen, nachdem der Robot in einem der Zimmer das Licht gelöscht hatte. Jetzt ging es schon auf den Morgen zu. Es wurde kälter. Das Funkgerät sprang an. Als die Lampe aufglühte, nahm der Mann das Mikrophon ab.
»Nichts zu sehen«, sagte er mürrisch. »Verdammt kalt hier. Viper scheint sich in seinem Bett wesentlich wohler zu fühlen als ich hier in der zugigen Kälte. Ende.«
Als er auflegte, brach die Verbindung zusammen. Eine Zehntelsekunde später wurde sie wieder errichtet, aber diesmal würde der frierende Beobachter mit einem Amateurfunker sprechen, zwanzigtausend Kilometer von Antica entfernt. Gleichzeitig brachte die Schöpfung des gammonischen Hirns das Fernrohr unter ihre Kontrolle. Durch die Blockade einer elektronischen Linsengruppe erschien während der nächsten Stunden nur das Bild des Hauses auf dem Sichtfeld – aber es war tot. Vixa legte auch den Paralysator des Beobachters durch Fernwirkung lahm. Rapin Viper lachte lautlos, als Vixa ihm erklärte, was er getan hatte. Dann tastete er sich zur Eingangstür. Aus einem der ebenerdigen Fenster des Hinterhauses glitt der Schatten Nivos, der die Lederkleidung des Formers trug. Gleichzeitig sackte der Robot, der die Nahbeobachtung des Hauses leitete, in sich zusammen. Sein Hirn war zerstört worden. Die Tür glitt auf. In ihrem Rahmen stand Viper, bereit, jeden Augenblick in das Schussfeld eines Paralysators zu gelangen. Er wartete angespannt – nichts. Drei Männer in einem Wagen, die sich auf der Verbindungsstraße zum alten Raumhafen postiert hatten, bekamen einen Befehl.
Ihr Funkgerät sprang an, und die Stimme ihres Chefs befahl ihnen, einem flüchtenden Mann nachzufahren, der eben aus der hinteren Seite des Viperschen Hauses geflohen war. Mit heulender Turbine raste der Wagen los. Er bog mit knirschenden Rädern auf die glatte Straße ein, die zu den Institutsgebäuden führte. Im ersten Stock des Bürotrakts erhellten sich die Fenster. Die Männer in dem Wagen machten ihre Waffen locker. Schon von hier aus konnten sie erkennen, wie ein schwarz gekleideter Mann durch die Räume stürzte und auf den Lift zuraste. Sekunden später sahen sie über sich die Lichter eines wartenden Schraubers, der sich ebenfalls in die Verfolgung eingeschaltet hatte.
Die Suche der Männer konzentrierte sich auf die obersten Stockwerke, so dass ihnen entging, dass der schwarz gekleidete Robot das Gebäude durch einen Ausgang verließ, der sich in der Richtung des neuen Flugplatzes befand. Außerdem blieben sowohl der Motor des Tragflüglers als auch die Turbine des Wagens stehen.
Rapin Viper brach aus dem Eingang hervor und rannte los. Er sprang mit einem Satz über das niedrige Buschwerk, stob über den Kies der Gartenwege und schlug einen Weg ein, der zum neuen Flugplatz führte. In der Hand hielt Rapin den entsicherten Laser. Dreißig Meter hinter ihm holte Vixa auf, der später gestartet war als sein Herr. Um seinen Kopf war eine Zone roten Glühens. Viper hielt an und wartete. Sein Atem ging schwer. Die Waffe in seiner Hand beschrieb einen suchenden Halbkreis. Nichts war, das ihn beunruhigte. Er hörte die Tritte des Robots, der sich ihm näherte.
Plötzlich – ein Summen in der Luft.
Rapin warf sich in die sichere Deckung zurück, die ihn aber auch nicht vor ultraroten Strahlen schützen konnte. Ein kleines Boot landete dicht neben ihm. Der Verschluss des Lasers klickte.
»Hier, Herr«, flüsterte Nivo und öffnete die Luke. Von der anderen Seite näherte sich Vixa. Außerdem konnte der Former hören, wie sich etwas durch die Büsche eines Parks schob. Der Robot schwang sich durch die Luke und setzte sich hin, dann kletterte Rapin ihm nach. Der Motor begann lauter zu summen. Die Gestalt, die jetzt in höchstem Tempo über die weißen Steine des Platzes lief, war Alrid. Auch er verschwand in der Luke. Dann hob das Boot ab und kurvte in die Höhe. Sekunden später schwebte es in die geöffnete Ladeluke eines Raumschiffs. Das Schiff stand als einziges auf der Fläche des neuen Platzes. Hinter dem Boot schloss sich die stählerne Wand. Licht flammte auf. Die vier Gestalten verließen das Boot.
Vor Wochen hatte Viper den Innenplan des Raumschiffs erhalten und zu studieren begonnen. Nachdem er jeden Gang auswendig beschreiben konnte, hatte er das Papier verbrannt. Jetzt brauchte er dieses Wissen. Er lief los, in der Hand den gezogenen Strahler. Gänge, schwach beleuchtete Treppen, Antigravlifts und Laufplanken rasten unter seinen Füßen vorbei, dunkelrot brennende Lampen über seinem Kopf. Hinter ihm liefen die Robots. Sie verließen das Oberteil des Schiffes, ließen sich über eine nicht enden wollende Wendeltreppe nach unten gleiten und standen vor dem halbgeöffneten Eingang einer Kammer, deren Inneres in tiefes Dunkel getaucht war. Rapin blickte in die drohende Mündung eines schweren Lasers.
Ein Mann, als Schiffsoffizier zu erkennen, hielt die Waffe in den Händen. Er blickte Rapin wortlos an. Zwischen dem Mann und dem Former entwickelte sich eine Zone instinktiven Misstrauens. Rapins Hand ließ den Strahler unten.
»Du bist Rapin, der Former, der Sohn des großen Viper?«, fragte der Mann.
»Garry Viper war mein Vater. Iron, der Tausendjährige, erwartet mich. Das hier – meine Roboter«, antwortete Rapin. Seine Stimme klang gepresst.
»Schnell, die Beamten des Sicherheitsdiensts suchen schon nach uns.«
Der Mann senkte den Strahler. Dann stahl sich ein verhaltenes Lächeln in seine Züge.
»Was ist der Sicherheitsdienst gegen einen Plan des Tausendjährigen?«, fragte Rapin und steckte den Laser ein.
»Du hast recht«, sagte der Offizier, nichts!«
»Wo?«, fragte Rapin drängend.
»Hier ...«, antwortete der Mann. Vor den Augen der Gruppe öffnete sich die Tür des halboffenen Raumes ganz. Diffuse Helligkeit glitt vom Gang herein. Viper ging seitwärts durch den engen Durchlass. Hinter ihm drängten sich die Robots in die Kabine. Der Offizier sagte:
»Gordon und Baricad werden ein Schiff voller Leute und Materialien mitbringen. Ich traf Louis. Er trug mir auf, es dir auszurichten.«
»Danke. Ich werde es weitergeben.«
Noch bevor Rapin zu Ende gesprochen hatte, rollte die Tür zu. Dann war Finsternis um sie und Stille. Ein Blitz zuckte quer durch das Dunkel und warf Rapin gegen Vixa. Dann wurde er bewusstlos.
»Ich habe etwas gefunden, Vater, das mir die Macht über jeden Menschen in die Hand gibt. Es war so furchtbar und so einfach und logisch, dass ich unbedingt mit dir darüber sprechen musste. Und jetzt bin ich hier.«
Der Vater sah seinen Sohn an; lange und stumm. Im Innern des alten Psychologen tobte ein lautloser Kampf. Dann sprach Ryan Capelt.
»Ich habe die Aufgabe, dir innerhalb der nächsten zwanzig Minuten klarzumachen, dass dein Platz auf einer anderen Seite des Universums sein wird. Notfalls, mein Sohn, werde ich dich mit der Waffe dazu zwingen müssen.«
Ordin Capelt, der Jüngere, verstand nicht ein Wort. In hastigen Worten begann der ältere Psychologe zu sprechen. Er erklärte, warum er, Ryan, in einer Viertelstunde fliehen musste. Er erklärte es ganz genau. Ryan erwähnte keinen Namen, kein Datum und nicht eine einzige Zahl. Dann zog er den Strahler.
»Und nachdem du, mein Sohn, diese Waffe auch gegen uns anwenden könntest, musst du mit mir gehen. Mir wäre lieber, du gingest freiwillig mit. Ich gebe dir eine Minute ...«
Ryan sah auf die Uhr. Der Sekundenzeiger hatte eben eine Zahl überschritten.
»Meine Koffer«, sagte der Jüngere langsam, »sind noch nicht ausgepackt. Ich brauche sie nur noch hochzuheben, um mit dir zu gehen. Wann?«
»In drei Minuten. Komm«, würgte der Ältere hervor und steckte die Waffe weg. Sie gingen. Als das schwere Fahrzeug wieder anfuhr, ließen die beiden Männer in der würfelförmigen Kabine die Griffe ihrer Gepäckstücke los.
»Hatte ich dir schon erzählt, dass ich aus Khorsabad komme? Man hat mich auf Antrag des Imperiums zellverlängert.«
»Nein. Das ist neu. Wie fühlst du dich?«
»Wie am Anfang eines neuen Lebens, Vater.«
Dann fühlte der Sohn, wie die Hand des Psychologen suchend an seiner Kleidung herauf glitt und sich ihm schwer auf die Schulter legte.
»Behalte deinen Optimismus«, sagte Ryan. Dann warf sie der grelle Blitz gegeneinander. Dreißig Minuten später: Der Wagen hielt auf einem einsamen Platz in der Mitte eines Parks. Die Bäume waren entblättert, große Laubhaufen lagen in den weißen Gräsern. Eine Uhr begann anzulaufen. Als das Ticken verklungen war, zündete eine schwere Magnesitladung. Das Fahrzeug brannte. Kalte, blauweiße Flammen fraßen an den Teilen, bis nur noch verschmorte Reste übrig geblieben waren. Augenzeugen berichteten, dass sich an den Seiten der Kabine eine Schrift befunden habe, die das Fahrzeug als eines einer bekannten Speditionsfirma gekennzeichnet hatte. Ein Anruf bei dieser Firma besagte, dass sie keines ihrer Fahrzeuge vermisste. Niemand wusste, was dies zu bedeuten hatte.
Später schrieben die Medien: »Das geheimnisvolle Verschwinden einer Gruppe von Spitzenstars unter der Gilde der Unsterblichen versetzt das Imperium in eine neue Welle der Spannung. Vor einem Jahr verschwand Sir Iron McConell, der Mitentdecker des Planeten Gammon. Spurlos verschwanden jetzt andere Männer und Frauen. Carid Ho, der Mikrobiologe, Begründer der Ho’schen Wissenschaft von der Erinnerung der Zellen, Vater und Sohn Capelt, von denen der Ältere durch sein Buch »Psychologie des Absoluten« die Wissenschaft erregt hatte, ferner: Jorge und Jean Andreatta, Vater und Tochter, die als die besten Biologen gelten, die das Imperium jemals hatte; aus Khorsabad verschwand unter ungeklärten Umständen Rapin Viper, der Former. Dessen Vater erforschte zum ersten Mal die Welten der Sonne Axarnea und starb kurz darauf. Man vermutet allgemein – und auch der Sicherheitsdienst dementierte nicht, dass ein Stoßtrupp der Barbaren diese Leute entführt hat.
In diesem Zusammenhang mag noch interessieren, dass die Robotschiffe Gammons, zu einem Grenzplaneten unterwegs, noch immer nicht aufgetaucht sind. Sie wurden vermutlich von den Einheiten der Barbaren gekapert. Die Schiffe enthielten Baumaterial und komplizierte Maschinen des Planeten, zur Befestigung einiger strategisch wichtigen Städte im Grenzgebiet bestimmt.
Die Kämpfe ziehen sich nach wie vor hin – sie tragen den Charakter kleinerer Raumgefechte, die sich um den Besitz von Grenzplaneten entwickeln. Die Barbaren zögern, totale Vernichtungswaffen einzusetzen. Anscheinend rechnen sie damit, später einmal dieses Gebiet zu übernehmen. War es die Wahrheit, oder ... ?