Variante 10 oder Die Lösung des Falles

 

 

 

Gasthaus Zur Goldenen Freiheit, an der Straße gelegen, die von der Wassermühle bei Wittkoppendorf zur JVA Bad Brammermoor führte und mit ihrem Parkplatz letzterer auf Rufweite nahekam. Hier nun stand Jossa an einem regnerisch-kühlen Sommerabend, 22 Uhr 58, Temperatur 12° Luftfeuchtigkeit 98 Prozent, eine H&K P-9s in der Tasche seiner blauen Regenjacke, und hoffte, heute endlich eine Chance zu haben, das heißt, Kassau ohne Begleitung zu finden, kauerte schon, nachdem die notwendigen Präparationen allesamt geglückt waren, eine gute Stunde lang hinter einem grünen Müllcontainer, angeekelt vom Gestank weggeworfener Fische.

Endlich ging die Tür auf, und Eike Kassau erschien. Unverkennbar sein gedrungener Körper, das Stoppelhaar, das jetzt im scharfen Neonlicht die Farbe einer weggeworfenen Bastmatte hatte, der Schweinskopf mit den listig-blauen Äuglein und den borstigen Brauen darüber, das typische Marzipanrosa des flächig-runden Gesichts, der Riesenzinken von Nase mit den Steckdosenlöchern darin. Kassau, ja. Hundertprozentig sogar.

«Eike!» rief zudem der Wirt der Goldenen Freiheit nach draußen. «Laß den Wagen lieber stehen!»

«Ich bin ganz nüchtern!» sagte Kassau und schlug den Arm des Mannes zur Seite.

Jossa hielt den Atem an, denn ohne Kassaus grauen Alt-Mercedes lief das Ganze nicht, war sein schöner Plan im Eimer.

Doch der Wirt ließ Kassau wieder los, glaubte, seine Pflicht getan zu haben, kehrte leise schimpfend zu seinen Gästen zurück, während der JVA-Mann pfeifend über die weite Asphaltfläche stapfte, sich Zeit ließ und wußte, daß er noch eine ganze Menge frische Luft und Regen brauchte, um wieder halbwegs fit zu sein. Der Parkplatz war von erheblicher Größe, zugeschnitten auf Scharen von Wochenendausflüglern, gedacht für reihenweise Busse, die im Herbst und frühen Winter zu Kohl-und-Pinkel-Fahrten aus Bremen, Oldenburg und Bramme hierherkamen.

So dauerte es Minuten, bis Kassau seinen Wagen erreicht und sich zum Losfahren durchgerungen hatte.

Als die Wagentür geöffnet wurde, schnellte Jossa hinter seinem Container hervor, die Pistole gezückt.

«Kein Wort, Kassau! Einsteigen und auf den Beifahrersitz rüber!»

Kassau gehorchte, noch immer viel zu benebelt, um anderes wägen oder gar wagen zu können, war auch über die Jahre hinweg, immer und sofort in Panik zu geraten, zudem in dienstlicher Fortbildung oft genug auf Situationen wie diese angemessen vorbereitet worden.

«Anschnallen!» sagte Jossa und sah sich jetzt als Marionette, an Fäden hängend, die er selber hielt, riesengroß und göttergleich, körperlos und unsichtbar, nichts als Energie und Wille.

Als der Gurt metallisch klickte, zeigte Kassau eine erste, fast spontane Regung.

«Mensch, Mugalle!»

«Hier ist kein Mugalle!» herrschte Jossa ihn an. «Mugalle liegt schon seit einiger Zeit in Bramme aufm Matthäi-Friedhof!»

«Quatsch, ich hab Sie doch selber zur Pforte gebracht, als Sie entlassen worden sind!»

«Gott!» schrie Jossa. «Ich bin nicht Mugalle, ich bin Jens-Otto Jossa!»

«Krank sind Sie schon wieder mal!»

«Halt das Maul, Mensch, sonst knall ich dich hier schon ab! Du hast mir das doch alles eingebrockt!»

Jossa schwieg. Erschrocken über seinen Zorn, über seiner Schwäche, über den Impuls, jetzt abzudrücken. Und auch Kassau hielt es für besser, nichts mehr zu sagen, auf den Faktor Zeit zu setzen.

Der Wagen sprang an, und unbemerkt glitten sie vom Parkplatz der Goldenen Freiheit, sahen den Mühlensee wie ein schmutziges Waschbrett, grauschwarzes Zink, am Rand des Moores liegen, erreichten kurz danach am Pötterberg die Bundesstraße.

Jossa hatte oft genug geübt, einen Wagen wie diesen nur mit der rechten Hand zu lenken und mit der anderen die Waffe zu halten, konnte sich nun voll auf Verhör und Richterrolle konzentrieren.

«Truper», begann er, «hat meine Aufzeichnungen, Reales wie Fiktives, einem Krimischreiber nach Berlin geschickt, dem -ky, der hier bei uns ‘ne Menge Leute kennt, Catzoa unter anderem, und auch ‘ne halbe Woche hier gewesen ist, als Gast bei Buth…»

Kassau lachte. «Dieser linke Spinner, der muß es ja wissen! Ach, Mugalle!»

Jossa trat auf die Bremse. «Wenn Sie noch einmal Mugalle zu mir sagen, dann ist es aus mit Ihnen! Ist das klar?»

«Ja…»

Jossa ließ Eike Kassaus Wagen weiterrollen, Richtung Fluß, Richtung Stadt.

«… Mugalle kommt zu Ihnen in den Knast, hat drei Jahre abzusitzen wegen einiger Delikte, vom betrügerischen Bankrott bis zur aktiven Bestechung, seine NordInvest ist pleite, doch man ist sich ziemlich sicher, daß er noch Zeit genug gehabt hat, an die zwei Millionen Mark beiseite zu schaffen, bar und in Scheinen, bevor sie ihn abgeholt haben.»

«Und was habe ich damit zu tun?» fragte Kassau.

«Vorerst nichts. Doch Sie haben Riesenschulden: Ihre große Leidenschaft, das Fliegen. ‹Hoch über den Wolken, da muß die Freiheit grenzenlos sein… › Sofern man das Geld dazu hat. Aber das hatten Sie nicht, nicht als kleiner Schließer hinten im Knast. Nur das unstillbare Bedürfnis, die ewige Sehnsucht, die Lust am Fliegen, den großen Ikarus-Traum. Wie eine Sucht ist das. Klar, wenn man Tag für Tag und oft auch Nacht für Nacht selber eingesperrt ist, nicht viel anders als wie Knackis auch. Die grenzenlose Freiheit über den Wolken, ja… Selber eine Maschine besitzen, eine Sunrise 2, eine Beech Bonanza, eine Cessna, das war Ihr großer Traum… Delta Echo Foxtrott Lima Kilo, bitte melden. Solo über Land, in der eigenen Maschine. Ihr Traum, Ihr Ziel; einen anderen Sinn hatte das Leben nicht mehr…»

«Na und!?»

Jossa nickte. «Da komme ich nach Bramme, allein, aus allen Bezügen geflohen, und Sie sehen mein Bild groß im Brammer Tageblatt, stehen mir face to face gegenüber, als ich nach Ganderkesee rauskomme, zum Flugplatz, und meine Reportage über die Flieger hierzulande schreibe. Da fällt Ihnen auf, ganz klar, daß ich einem Ihrer Knackis, und zwar dem Martin Mugalle, wirklich zum Verwechseln ähnlich sehe, glatt sein Zwillingsbruder sein könnte. Und da haben Sie dann die Idee Ihres Lebens…!»

«Ihre Phantasie möcht ich haben!»

Jossa erreichte die schmale Straße, die zum Fluß hinunterführte, teils den Deich benutzte, teils die Wiesen davor.

«Eines Tages kommt Zweeloo zu Ihnen und spricht mit Ihnen darüber, daß wieder mal so ‘n beknackter Journalist scharf auf ‘ne Knastgeschichte sei und sogar ‘ne Weile bei einem der Knackis in der Zelle sitzen wolle. Mein Name fällt, und da macht es Klick bei Ihnen: Sie schlagen keinen andern als Mugalle vor.»

«Das ist doch idiotisch!»

«Nein: das ist Zweeloos Aussage!»

«Auf solche Bluffs falle ich nun wirklich nicht rein!»

«Aha! Sie geben also zu, daß da was ist, das man Ihnen doch entlocken könnte…!»

«Ich versteh das alles nicht, Herr Mu…» Kassau stockte und erschrak, brachte es aber noch immer nicht fertig, den Namen Jossa in den Mund zu nehmen. «Sie haben Ihre Strafe abgesessen, Sie sind doch wieder draußen; was wollen Sie denn bloß von mir!?»

«Ihr Geständnis will ich, und Einzelheiten will ich, damit ich Gott und aller Welt, vor allem aber unseren Behörden, endlich absolut hieb- und stichfest nachweisen kann, daß ich nicht geisteskrank bin, sondern Jens-Otto Jossa!»

«Ich habe nichts zu gestehen.»

«Doch, Sie haben!» Jossa hielt an einer kleinen Kaimauer, gerade letzten Mai neu betoniert, um der «Bürgermeister Büssenschütt» das Anlegen und ihren Fahrgästen das Ein- und Aussteigen zu erleichtern.

Kein Mensch weit und breit, nicht einmal ein Liebespaar kopulierend im weißen Kassenhäuschen drüben. Nur Regenschauer und eine düster-depressive Nacht.

«Doch», wiederholte Jossa, «Sie haben mir noch ausführlich zu schildern, wie Sie zu Mugalle in die Zelle reingegangen sind, um mit ihm zu reden. Mugalle in der Krise, Mugalle kurz vorm Ausflippen, damit offen für alles, was Sie an Plänen hatten. Dreihunderttausend Mark aus seiner Beute – und dafür der Tausch mit mir. Die Freiheit für ihn, als Jossa in Bramme, die Freiheit für Sie, oben über den Wölken… ‹Jossa›, sagen Sie zu ihm, ‹Jossa, der Journalist, kommt in deine Zelle, und ich schließ euch beide ein. Du schüttest ihm K.o.-Tropfen ins Getränk, und ich laß dich dann, wenn du seine Sachen angezogen hast und so weiter, als Jossa raus, schließ dich bis zur Pforte durch und warte, bis du draußen bist. Der Jossa wird dann, wenn er wieder zu sich kommt, wie ein Irrer toben, aber ich hab ja alles in der Hand. Und je mehr er tobt und immer wieder behauptet, nicht Mugalle zu sein, desto weniger glaubt ihm einer. Du mußt nur vorher ‘n paarmal den Schizophrenen mimen, also behaupten, dieser oder jener zu sein, dann ist das alles furchtbar echt.›»

«Ha-ha-ha!» machte Kassau.

«Kommen Sie…! Wenn Sie nicht mit Mugalle unter einer Decke gesteckt hätten, dann hätten Sie doch merken müssen, daß da einer bewußtlos auf der Pritsche lag!»

«So genau seh ich da nicht rein…»

«Ach, auf einmal!»

Kassau geiferte ihn an. «Und warum, was, hab ich Ihnen wohl den Brief von Chantal gegeben, daß sie in den Knast kommen wollte, Sie besuchen? Warum wohl? Damit Sie von ihr als Jossa identifiziert werden, was!?»

«Ach, kommen Sie: Sie wußten doch von Mugalle genau, daß er ihr einen Brief geschrieben hatte. Daß sie den in der Zwischenzeit bekommen haben mußte.»

«Und woher wollen Sie das wissen, wenn Sie nicht Mugalle sind, na…!? Was…!?»

«Das läßt sich doch ohne weiteres aus der Tatsache schließen, daß sie eben nicht gekommen ist!»

«…Gott!»

«Sie und Mugalle zusammen, anders geht es nicht!»

Kassau legte seine Demutshaltung immer weiter ab. «Sie erwarten wohl von mir, daß ich jetzt ausrufe: ‹Ja, Mu… äh: ja, Jossa, Sie haben recht, so ist es gewesen!› Irrtum, mach ich aber nicht!»

Jossa bemühte sich um kühle Sachlichkeit. «Mugalle ist tot, auf der Autobahn nach Hamburg, Nähe Stuckenborstel, in einen Unfall verwickelt worden… Und die Polizei hat bei ihm im Wagen viel Geld gefunden; von fast zwei Millionen war die Rede. Aber doch an die dreihunderttausend Mark weniger als vorherberechnet. Wo die wohl geblieben sein mögen, na…?»

«Auf dem Friedhof hier liegt Jossa, und alles andere, das weiß kein Mensch…!»

«Sie sagen es, Kassau! Vor allem wissen wir noch nicht, welche Maschine Sie sich nun wirklich gekauft haben… Von Mugalles Geld… Und wo Sie die abgestellt haben. Um das herauszufinden, dieser kleine Ausflug heute nacht…»

«Geh’n Sie doch zur Kripo!»

«War ich schon, einige Male sogar. Jetzt hab ich aber keine Lust mehr, mich immer wieder auslachen zu lassen, jetzt find ich die Wahrheit selber heraus.»

«Ich helf Ihnen gerne dabei… Wenn Sie mich aber bitte aussteigen lassen würden…!» Kassau machte sich daran, seinen Gurt auszuklinken, doch er hatte Schwierigkeiten, merkte, daß der Mechanismus klemmte.

«Geben Sie sich keine Mühe damit», sagte Jossa, «den hab ich präpariert, den kriegen Sie allein nicht auf. Denn wenn wir jetzt im Fluß versinken, dann…!»

Schon hatte er aufs Gaspedal getreten und Kassaus Wagen über die Kaimauer abstürzen lassen, und nachdem sie hart aufgeprallt waren, glitten sie nun in einer Art Sägezahnkurve drei, vier Meter bis zum Flußbett hinunter.

Das kleine Lämpchen über Jossas Kopf war angeknipst, und durch vielerlei Öffnungen quoll das Wasser gurgelnd ins Wageninnere.

Jossa unterdrückte seine Panik, saß scheinbar seelenruhig da und wartete auf jene wichtige Sekunde, da der Innendruck so stark geworden war, daß sich die Tür an seiner Seite öffnen ließ, während Kassau in Todesangst an seinen Gurten riß.

«Ich steig jetzt aus und schwimm nach oben», sagte Jossa. «Zwei Minuten noch, dann steht das Wasser oben an der Decke…»

«… den Gurt los, bitte…!» Kassau keuchte schon. «Ein Messer, eine Schere, ein…!»

Jossa ließ ihm seine freie Hand flach ins Gesicht klatschen, nicht bösartig, sondern so, als wollte er jemand aus seiner Betäubung zurück ins Leben holen, brüllte ihn an: «Los, wer bin ich!?»

«Sie sind…»

«Wer…!?» Jossa hatte das Fenster hinuntergekurbelt und warf, jetzt, da sie bis weit über die Hüften im schlamm- und algentrüben Wasser saßen, die Pistole hinaus und zog dafür ein breites Fahrtenmesser aus der Jacke.

Kassau riß an seinen Fesseln, warf sich hin und her, sorgte für silbrigen Schaum und glucksende Strudel. «Ich hab nichts zu gestehen!»

«Bin ich Mugalle?»

«Was soll denn das alles!?»

«Mugalle läßt Sie hier ertrinken, Jossa nicht!»

Kassau war das Wasser schon bis ans Kinn gestiegen, und Jossa schaffte es jetzt, die Tür nach außen zu drücken. Zeit für ihn, die Lungen vollzupumpen und dann wie ein Fisch, wie ein Torpedo nach oben zu schießen und in aller Ruhe ans Ufer zu schwimmen. Sah ihn niemand, wollte er ganz ohne weiteres verschwinden, andernfalls von einem Unfall sprechen.

Kassau schluckte schon das erste Wasser.

«Zum letzten Mal…!» schrie Jossa. «Bin ich Mugalle…!?»

«Nein…» würgte Kassau hervor.

«Wer dann…?»

«Jos-sa…»

«Na also! Und wo ist das Geld geblieben, das Sie von Mugalle haben, wo steht die Maschine, die Sie sich dafür gekauft haben, Ihr Flugzeug…?»

«In Tengo, in Holland…»

Mein lieber -ky, ein Durchschlag Ihres Romanmanuskriptes «Ich lege Rosen auf mein Grab» ist gestern bei mir eingegangen; Dank dafür. Dieses aber nur als bürgerliche Floskel, oberflächlich-rituell verstanden, nicht auf den Inhalt und meine evozierten Gefühle bezogen. Daß Sie viel verfremden und anonym machen mußten, um unseren J. den Jossa bei Ihnen, wie sich selber auch vor juristischen Attacken einer Reihe wenig geliebter Akteure zu schützen, leuchtet mir ein; daß Sie thriller-Elemente beizumengen hatten, wie Genre und Leser es fordern, Gott, das ist ja auch noch legitim; daß Sie sich aber derart dem Sosein des Seienden hingeben, voll und ganz Hochschullehrer-Beamter sind und immer staatstragender, also feiger und rechtslastiger werden, Bild-Beifall zu erhaschen suchen, will und kann mir gar nicht schmecken! Ihre genauen Recherchen und Ihre sicherlich sehr ergiebigen Kontakte zu Brammer outlaws wie Honoratioren, wenn das nicht dasselbe ist in dieser Zeit, gewiß in allen Ehren, aber daß nun ausgerechnet Eike Kassau, kleinstes Rädchen, kleinstes Würstchen, hinter allem stecken soll, Jossas Elend, das schlucke ich beim besten Willen nicht. Wieviel hat man Ihnen denn von interessierter Seite für diese wahrlich sauber-staatserhaltende Lösung gezahlt? Die Hälfte für mich, mindestens jedoch ‘ne große Rotweinkiste! Ihr Rudolf C. Truper.

P.S. Ihre Absicht, unserm J. mit Ihren Hinweisen zu seinem Recht auf Selbstbestimmung, auf sich selber zu verhelfen, hat, wie ich gerade vom atemlos hereinstürzenden Freunde Benno, Benno Drobsch, erfahre, eine Wendung genommen, die ich als ebenso amüsant wie tragisch ansehen möchte: Ihren Erkenntnissen und Hinweisen voll vertrauend, ja, auch mit einer Kopie Ihres Manuskriptes bedacht, hat er die Variante 10, diese sehr direkt nutzend, real zu inszenieren versucht. Das Ergebnis: Der JVA-Beamte, der bei Ihnen Kassau heißt, ertrunken; J. selber gerettet und schnellstens wieder in seine alte Zelle im Brammermoorer Knast gebracht. Congratulations!