Variante 6
S-Bahn-Linie 2 der West-Berliner Nahverkehrsgesellschaft BVG, Nordbahn. Fast sechzig Jahre alte Züge, ockerfarben-rot und noch mit Nieten, auch hölzernen Bänken, eben gründlich überholt, wie neu. Frohnau ab 10.41, Hermsdorf 10.43, Waidmannslust (welch Name!) 10.46 und Wittenau 10.48. Mugalle verglich seine mit der Bahnhofsuhr und nickte zufrieden.
«Absolut pünktlich», sagte er zu den beiden Männern, die ihn in der engen Bucht aus zwei gegenübergestellten Doppelbänken unauffällig eingeklemmt hatten, aussahen wie verspätete Schering-Chemiker, die aus Versehen einmal S-Bahn fuhren.
«Nicht nur Ihre Firma ist für ihr Weltniveau bekannt», erwiderte sein direktes Gegenüber.
«Das da links ist das Märkische Viertel…» Sein Arm-an-Arm-Nachbar zeigte nach draußen. «Seh’n Sie mal, Herr Jossa…!»
«Pst…!» kam die Mahnung, obwohl im eh nur schwach besetzten Zug niemand in der Nähe war, der sich mit mehr als einem schnellen Blickkontakt um sie gekümmert hätte.
Mugalle nickte. Eine alte Villa wartete auf ihn, drüben in der DDR-Hauptstadt Berlin, Rosenthal, Stadtbezirk Pankow, und wenn er da auf seiner Terrasse im Liegestuhl lag, begrenzte West-Nordwest besagte Hochhaussiedlung seinen Blick.
Wenig später, gerade war der Nordgraben überwunden worden, krallten sich die Grenzanlagen in den Bahndamm hinein, fuhren sich ein halbes Dutzend Kilometer mit tristem Mauerblick dahin, am backsteinroten Bergmann-Borsig-Klotz vorbei, ein sowjetisches Ehrenmal, einen Obelisken, im Visier, dies alles Unkerhand, hielten kurz auf zwei westlichen Bahnhöfen, Wilhelmsruh der eine, Schönholz der andere, beide ziemlich verwaist, die dazugehörigen Ortsteile abgeschnitten im andersdeutschen Ausland, immer noch pünktlich.
Mugalle fand es an der Zeit, seinen beiden Begleitern noch einmal darzutun, daß ihm dieser Jossa in Bad Brammermoor recht eigentlich leid tue, obwohl ihm das Ganze natürlich überaus recht käme und er sich, um Gottes willen, nicht anmaßen wolle, irgendwie Kritik an den BRD-Organen auch nur ansatzweise zu üben.
«Wir haben zwölftausend Tote jährlich im Straßenverkehr», bekam er zur Antwort, «was macht denn da der eine im Verkehr der Staaten untereinander? Und hilft es nicht, den Frieden zu sichern, erspart uns dieses eine Opfer nicht – unter anderem – auch die Angst vor atomaren Schlachten, bei denen wir Millionen von Bürgern opfern müßten? Der eine, Jossa, ist das wert!»
Mugalle lächelte, war angetan vom Pathos dieses Westlers neben ihm, liebte solche Redner-Poesie.
Sein Gegenüber, immer im sichernden Kniekontakt mit ihm, präferierte mehr das Zynische. «Jossa, sein Pech, was sieht er aus die Sie! Schwitzend, fluchend, manchmal fast am Ende, Tage und Wochen, was meinen Sie wohl, haben wir, siehe Rasterfahndung, die ganze Bundesrepublik, die BRD, nach Ihrem Doppelgänger abgesucht. Meine Ehe hat er mich gekostet, dieser Jossa, Jens-Otto! Nun soll er man auch hübsch büßen dafür. Außerdem, als Brokdorf wie als Wackersdorf-Krawaller ist er doch haargenau da, wo diese Burschen alle hingehören, in den Knast nämlich!»
10 Uhr 55, Berlin-Wollankstraße, Bahnhof für westliche Menschen ausschließlich, aber auf Ost-Berliner Gelände gelegen und von Ost-Berliner Reichsbahnern betrieben, von deren Transportpolizisten bewacht. Sie waren am Ziel.
Der Zug hielt stets am selben Punkt des langgestreckten Bahnsteigs, ganz genau vor einer Tafel mit der Aufschrift H, weiß auf schwarzem Grund, und dem Kürzel 16 X darunter, was sich auf die Achsen- respektive Wagenzahl bezog. So ließ sich mühelos vorausberechnen, wo «das erste Fenster nach der zweiten Tür» zu finden sein mußte.
Und als Mugalle und seine beiden west-beamteten Begleiter nun auf den Perron hinausblickten, sahen sie drei Männer dort warten, allesamt in blauen Bahneruniformen, fast zur Parade aufgereiht, und der mittlere von ihnen nahm sich grad die Mütze ab, tupfte sich mit einem schwarz-weiß-rot karierten Taschentuch die hohe Stirn, den Nacken ab, schien unheimlich zu schwitzen.
Er war es; das Zeichen!
Der Mann neben Mugalle erhob sich nun und trat zur Tür, so, als wolle er, unsicher über die eben erreichte Station, schnell den nahebei an die Waggonwand geschlagenen Fahrplan studieren, hatte aber nichts weiter im Sinn, als den Ost-Agenten draußen mit einem knappen Augenzwinkern mitzuteilen, daß der Abwicklung ihres Geschäftes nichts mehr im Wege stünde.
Mugalle, auch schon aufgestanden, bekam einen kleinen Schubs mit auf den Weg, etwa so, wie nordische Skiläufer in der Staffel verfahren.
«Danke…» sagte Mugalle und war hochkarätig genug, um nicht noch anderes formulieren zu müssen, stieg nun aus und sah noch zu, wie der mittlere Eisenbahner kurz vor dem Zuschnappen der Türen in den Wagen sprang, na bitte, ging dann die Treppe hinunter und wartete, bis die beiden zurückgebliebenen Uniformierten hinter ihm waren und sich ihnen allen im gelben Klinkerlabyrinth des Bahnhofs eine schwere Tür auftat, eine, die direkt nach Ost-Berlin hinüberführte.
Auf Mugalles Platz im westlichen Zug saß inzwischen Dr. Walter K. sehr fremd in seiner dunkelblauen Eisenbahneruniform, doch er war es ganz sicher.
Der Tausch Kundschafter gegen Spion war also vollauf geglückt.
Und absolut lautlos dazu.
Soweit Jossas vorerst letzte Deutung seines rätselhaften Schicksals. Auch sie in gleichem Maße plausibel wie völlig absurd. Es war halt eine Zeit ohne Wirklichkeit. Doch in eben der Sekunde, als er die hier wiedergegebenen Zeilen seiner Variante 6 noch einmal prüfend überflog, da spielten sich, auf Martin Mugalle bezogen, nahebei in Bramme real gänzlich andere Dinge ab.
Carsten Corzelius an -ky
Lieber -ky,
mit dem Regierenden Bürgermeister auf dem Wege nach Washington, da man mich für unwürdig genug befunden hat, als journalistischer Hofberichterstatter zu dienen, schnell ein paar Zeilen zur ersten Hälfte Deines Buches (Dank für die prompte Übermittlung!): Jossas Varianten, soweit ich sie kenne, sind sicherlich ebenso amüsant, wie doch auch vieles irgendwie plausibel erscheint, denn seit Schleswig-Holsteins Waterkantgate wissen wir ja, daß in unserem Lande doch wohl alles möglich ist. Dennoch: Seiner – und damit Deiner – Verschwörungs-Hypothese möchte ich meine Spontaneitäts- These gegenüberstellen!!
Soll heißen: Mugalle hat, als ihm die wahnsinnige Ähnlichkeit mit Jossa (fast wie eineiige Zwillinge!) schlagartig bewußt geworden war, ganz impulsiv gehandelt, ganz allein aus sich heraus. Nichts war vorbereitet, abgesprochen und dergleichen!
Die K.o.-Tropfen aber, wirst Du ausrufen, die muß er sich doch vorher mit einer ganz bestimmten Absicht verschafft haben.
Irrtum, die hatte er lediglich von Nobby mit der Bitte erhalten, sie so lange für ihn aufzubewahren, bis bei ihm die Gefahr eines «Kahlschlags» vorüber sei, die systematische Durchsuchung seiner Zelle. Nobby hatte sich diese Tropfen beschafft, um damit bei einer bevorstehenden Feier die Stationsbeamten außer Gefecht zu setzen und für kurze Zeit ihre Schlüssel an sich zu bringen. Mit Hilfe von Wachsabdrücken sollten dann in der Schlosserwerkstatt Nachschlüssel gefeilt werden. Weniger, um damit einen Ausbruch zu starten, sondern vielmehr des leichteren Verkehrs in der Anstalt wegen. Das hab ich jedenfalls von Zweeloo, der es ja eigentlich wissen müßte.
Zurück zu Mugalle. Sein Geld steckte in einem Bungalow in der Feriensiedlung Weißenhäuser Strand, nahe Oldenburg i.H. das heißt, ferne bei Hohwacht und Heiligenhafen, damals auf der Flucht in aller Eile, aber fast genial versteckt. (Kannst Du jederzeit besichtigen!)
Alles mußte nun – von draußen aus! – geplant bzw. improvisiert werden. Er brauchte ein Auto, Werkzeug und vor allem seinen Bungalow, zumindest aber einen dicht daneben. Und das bei beginnender Urlaubszeit! Viel Zeit war dazu nötig. Also blieb ihm gar nichts weiter übrig, als ein Weilchen den Jossa zu spielen, in Bramme der Jossa zu sein. Ein wahnsinnig hohes Risiko, ganz sicher, aber doch die einzige Chance, die er hatte.
Und außerdem, ein unheimlich wichtiger Punkt kommt noch dazu: Es war ja fest damit zu rechnen, daß Jossa im Knast nun Amok lief und immer und immer wieder behauptete, nicht Mugalle zu sein, sondern eben Jossa. Wenn es nun draußen keinen Jossa mehr gab, der Jossa völlig weg gewesen wäre, hätte man ja gar nicht anders können, als ihm recht zu geben. Lief er aber draußen herum und wirkte als solcher, Mugalle als Jossa, war es nichts mit Jossas Protestgeschrei im Knast drinnen, mußte man ihn unweigerlich als Irren abstempeln. Du siehst, alles wäre fehlgeschlagen, hätte sich Mugalle sofort ins nächste Flugzeug gesetzt. Darum mußte er also für ein Weilchen den Jossa spielen; trotz aller Risiken. Und wo hätte er denn sonst auch hingesollt? Chantal in New York, sein Haus längst zwangsversteigert, seine Freunde in alle Welt zerstreut. Ins Hotel gehen? Da hätte er am ehesten alte Bekannte getroffen, wäre Fahndern aufgefallen. Dann schon lieber als Jossa in Jossas Wohnung leben, das Geld aus dem Bungalow holen und von hier aus systematisch die «Übersiedlung» nach Kolumbien vorbereiten (im Reisebüro soll er sich danach erkundigt haben).
Noch etwas: Sicherlich reizte ihn dies Spielchen auch, genoß er das Prickeln, das Lustgefühl, das mit der Gefahr des «Enttarntwerdens» verbunden war. Man kann ja nicht anders, als ihn eine Spielernatur nennen, durch und durch einen Abenteurer.
Ja, mein lieber -ky, das dürfte wohl die Wirklichkeit gewesen sein, ganz nüchtern, ganz simpel.
Ob ich Dir damit Dein Buch kaputtmache? Ich weiß ja, was Du willst: den Leuten zeigen, daß die Welt sich heute nicht mehr logisch-rational deuten und erkennen läßt, daß es keine eine Wahrheit, keine eine Wirklichkeit mehr gibt, sondern nur noch Spekulationen darüber. Darum ja die vielen Varianten Jossas. Aber für mich ist das alles viel einfacher und noch immer ganz logisch.
Herzlichst Dein C. C.
(Bleistiftnotiz -ky: Diese dumme Sau heult doch auch nur mit den Wölfen, um sich ihren Job als Hofberichterstatter zu erhalten!)