Variante 9

 

 

 

JVA Bad Brammermoor, Einweihung des neuen, mit Kunststoff versehenen Sportplatzes im Rahmen eines kleinen Festaktes, begonnen mit dem Erklingen des Radetzky-Marsches, dargeboten vom Orchester der Brammer Verkehrsbetriebe (BVB), und fortgesetzt nun von einer Rede des allseits geschätzten Alt-Bürgermeisters Hänschen Lankenau.

«… was hier und heute zu registrieren ist, man verzeihe mit diese Wendung, ist ein bundesrepublikanischer Traum. Da sitzt ein Mann in dieser Haftanstalt, wird mit 324 Mark Eigengeld entlassen, kauft nur wenige Wochen später für einen symbolischen Preis von einer Mark den bankrotten A&T-Verlag – und ist heute Herr des größten Medienverbundes in ganz West-Europa, kommt zurück nach Bramme und schenkt seinen ehemaligen Gefährten hier in der JVA einen so herrlichen Sportplatz wie diesen! Da ist dieser Mann, meine Damen und Herren; ich mache meinen Platz frei für Martin Mugalle!»

Folgten standing ovations, und die Journalisten, die hauseigenen vom geliebten «Gitterstäbchen» wie die fremden, hatten eine Menge Arbeit, dies alles auf Tonband, Block und Film zu bannen, Mugalle schoß den ersten Ball ins Tor, um dann einem der Reporter Rede und Antwort zu stehen.

«Herr Mugalle – ist dies der schönste Tag Ihres Lebens?»

«Kann ich nicht sagen; weiß ich denn, was sonst noch alles kommen wird…?» Mugalle wartete, bis das Gelächter ringsum wieder abgeebbt war. «Aber es ist ein sehr wichtiger Tag in meinem Leben. Ich weiß, wie verloren diese Männer hier sind und wie sehr sie unserer Unterstützung bedürfen. Denn nur, wenn sie nicht wieder rückfällig werden, hören sie auf, eine Bedrohung zu sein für uns und unser Eigentum.»

«Darum auch die von Ihnen ins Leben gerufene Stiftung Re-In e.V. mit der Sie Reintegration von Strafentlassenen in die Gesellschaft tatkräftig unterstützen wollen?»

«Ja, wir wollen die ersten zwanzig Patenschaften gleich im Anschluß an diese kleine Feierstunde vergeben, und sie schließen alles ein, was für die Wiedereingliederung eines Knackis entscheidend ist: Arbeit, Wohnung und Entschuldung.»

«Sie haben ja auch über die Leiden eines Strafgefangenen ein Fernsehspiel geschrieben und dafür sogar den Arnulf-Grimmig-Preis erhalten; werden wir weitere literarische Arbeiten von Martin Mugalle bestaunen dürfen?»

«Wenn ein Publikum dafür da ist…»

«Ja-ha!» Die Umstehenden klatschten, und ihre Hochrufe drangen weit über die Anstaltsmauern hinweg.

«Dies war Hans-Dieter Ruegg aus der JVA Bad Brammermoor für SAT 2…!» … einem Teil der Mugalle Multimedia AG, wie er hinzuzufügen vergaß.

Mugalle wurde von den Bildreportern fortgezogen, wurde noch für ein gemeinsames Foto mit Zweeloo, Lankenau und einigen Elite-Knackis, Nobby zum Beispiel, gebraucht.

 

(Anmerkung des thriller-Lektorats: Da der Autor im folgenden und logischerweise auch den transformierten beziehungsweise transfundierten Jossa mit dem Namen Mugalle belegt und nicht nur den genuinen Martin Mugalle, den Ex-Bankier, sind wir, um einer möglichen Verwirrung unserer Leser vorzubeugen, übereingekommen, MUGALLE immer in Großbuchstaben zu setzen, wenn es um den ehemaligen Journalisten Jens-Otto Jossa und sein zweites Leben geht. Damit wird noch einmal deutlich unterstrichen, daß Jossa von nun an die Rolle Martin Mugalle nicht nur spielt, sondern jetzt voll und ganz der andere ist, eben Mugalle II oder besser: MUGALLE.)

 

Für den normalen Knacki ist die Entlassung ein Ereignis, das genauso wichtig ist und somit dieselbe intensive Vorbereitung erfordert wie eine Schwangerschaft für eine Frau. Was da die JVA Bad Brammermoor betraf, so hatte Zweeloo unter dem Druck Dr. Seelings und einiger seiner Sozialarbeiter sogar einen Entlassungsvorbereitungskurs (EVK) ins Leben gerufen, in dem es um Dinge ging wie Urlaub zur Erledigung wichtiger Angelegenheiten (nach § 15,4 StVollzG), Beschaffung einer Wohnung, Beantragung eines neuen Personalausweises, An-, Ab- und Ummeldung, Lohnsteuerkarten, Versicherungsnachweisheft und Kontaktaufnahme mit dem Arbeitsamt.

Auch Kassau gab sich Mühe. «Also, achtet schön darauf, daß eure persönlichen Unterlagen vollständig und lückenlos sind: Personalausweis, Entlassungsschein, Arbeitsbescheinigungen und so weiter und so weiter. Ihr braucht sie für Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe oder den Sozialhilfeantrag. Ohne diese Unterlagen, Männer, läuft sonst absolut nichts!»

«Wozu denn der ganze Scheiß», brummte einer, «wir sind doch sowieso bald wieder hier…!»

«Daß Sie nicht wieder rückfällig werden, das fängt im Kopf an!» belehrte Dr. Seeling ihn. «Ihr müßt euch nur permanent sagen: Diesmal schaffe ich es, diesmal schaffe ich es!»

«Wie soll ich’s schaffen, wenn meine Pro’s nichts mehr anschaffen», brummte Nobby. «Seit die Freier alle Schiß vor Aids haben.»

«Du bist sowieso erst ‘n paar Monate später dran als wir», lachte MUGALLE.

«Du hast gut lachen», sagte Baldow. «Du bist ja einer, der immer wieder auf die Füße fällt, so tiefer auch stürzt.»

«Nun ja…»

Am Entlassungstag selber war MUGALLE überraschend feierlich zumute.

«Wie bei ‘ner Pensionierung», sagte er zum Anstaltsleiter, der es sich bei halbwegs prominenten Knackis niemals nehmen ließ, ihnen innig-lang die Hand zu schütteln. «Oder besser: So wie damals, als ich von der Uni weggegangen bin.»

«Das wertet uns ja mächtig auf!» grinste Zweeloo.

«Ja, man wird wehmütig…» sagte MUGALLE. «So schlimm es manchmal auch war: Nun ist alles vorüber, Erinnerung nur noch.

Vorbei wie ein Krieg, den man halbwegs lebend überstanden hat. Ich bin noch am Leben, ich kann Neues beginnen!»

«Jetzt stäuben sie wieder alle ihren Puderzucker über diese ganze Scheiße», sagte Nobby und schlug MUGALLE auf die Schulter, daß dem fast das Schlüsselbein brach. «Mach’s gut, Alter!» Damit verschwand er wieder in der Zelle.

Der sanfte Balduin umarmte MUGALLE. «Dank für alles, du…! Gott, du wirst mir mächtig fehlen…!»

«Du kommst ja auch bald raus, laß man. Und dann rufst du mich an, die Nummer hast du ja. Ich find schon ‘ne Wohnung und Arbeit für dich.»

«Mach ich, ja…» Baldow weinte und drehte sich weg.

Kassau brachte ihn nach unten zur Pforte. «Sehen Sie, MUGALLE, das kann nun auch alles abgehakt werden. Eine Zeitlang, da hat es ja wirklich finster ausgesehn für Sie… Freut mich, daß Sie da aus Ihrem Tief wieder rausgekommen sind. Ihre dreißig Monate haben Sie ja wirklich tapfer abgesessen, alles was recht ist! Dann alles Gute für Sie, für Ihren Lebensweg noch…!»

«Herzlichen Dank auch, Herr Kassau! Für Ihre guten Wünsche und das andere alles, daß Sie, wie sagt man, immer Mensch geblieben sind…!»

Ein langer Händedruck.

Die letzten Unterschriften, die letzten Papiere, dann glitt die Stahltür in die Mauer, diesmal für ihn.

Mit einem schnellen Schritt war er draußen; MUGALLE war frei.

Staunend stand er da, unfähig zu jeder Bewegung, konnte es nicht fassen. Alles war so fremd. Aha, die Welt draußen, die gab es wirklich noch, das war nicht alles nur Produkt von Phantasie und Sehnsucht gewesen.

Ein Astronaut, lange allein in seiner engen Kapsel, hatte einen fremden Planeten erreicht.

Unsinn, da hinten, einen Steinwurf entfernt lag die Stadt, lag Bramme.

Lag es wirklich da? Gab es noch immer Menschen in den Häusern dort? Stand ihr Rathaus noch?

Fragen, die ihn bewegten, auf die er keine Antwort wußte. Zum Kind war er wieder geworden, hatte jede Gewißheit über Daten und Fakten verloren. Zweifelte an allem, was er früher einmal durchlebt und in sich eingespeichert hatte. Wie ein Kind, ja, er mußte alles wieder neu erobern, mit den Füßen spüren oder mit Bahn und Auto erfahren, mit den Händen greifen, um zu begreifen, daß es wirklich existierte.

Da hielt ein blauer BMW dicht vor seinem Pappkarton, und Eva sprang heraus.

«Entschuldige, ein Stau!» Sie hielt ihm einen großen Strauß entgegen, siebzehn rote Rosen für ihn. «Willkommen im Leben, willkommen bei mir.» Sie umarmte ihn lange, hüllte ihn in eine Wolke von Sandelholz und anderen göttlichen Essenzen, küßte ihn so lange, bis die Knackis in den Fenstern hinter ihnen schon schrien und grölten. «Schnell nach Hause!»

Sie fuhren durch Bramme hindurch, dann auf die Autobahn hinauf, und MUGALLE glaubte, im Gemeinschaftsraum der JVA vor dem großen Fernseher zu sitzen und diese Fahrt allein per Kamera zu machen.

«Alles so unwirklich», sagte er.

Sie lachte. «… denn ein Traum ist alles Leben, und die Träume selbst ein Traum! Calderon. Wir sollten bald mal ins Theater gehen.»

MUGALLE sah sie an. «Handelt mit Kloschüsseln und ist derart gebildet…!»

«Ich hatte sieben Semester Deutsch und Kunstgeschichte studiert, ehe ich geheiratet habe.»

«Und warum?»

«Studiert oder geheiratet?»

«Geheiratet.»

«Ich weiß nicht. Weil’s wohl mal sein mußte. Ich hatte Angst, mein Examen zu machen, keine Lust, mich tatsächlich von pubertären Knaben verarschen zu lassen, als Lehrerin…»

«Das klingt aber nicht nach höherer Tochter!»

«Du, ich bin die Chefin von neun Männern, die alle nicht in Jamben sprechen.»

«Also nichts mit Lehrerin…?»

«Nein…» Sie konzentrierte sich aufs Überholen. «Was singt die da immer im Radio, die Gitte: Ich will alles, und zwar sofort. Das wollte ich auch, doch ich wußte leider nicht, was das war: alles. Jedenfalls war das ein unerträglicher Schwebezustand. Wäre einer gekommen und hätte gesagt, ich soll Nutte im ‹Funny›-Club in Hamburg werden, wär ich auf der Stelle mitgegangen. Kam aber Uwe, du weißt, der Lange aus der Parallelklasse, unser Superbasketballer, und hat mich zum Spiel nach Leverkusen mitgenommen. Heiraten war idiotisch, aber es war wenigstens was. Zwei Tage später, und ich war beim Rauschgift gelandet, so war es nur das Rattengift…»

«Wie, Rattengift…?»

«Ja, er hatte sein Studium grad abgebrochen, Maschinenbau, um mehr Zeit für’n Basketball zu haben, und da hat ihm ein Mäzen seines Vereins einen Job bei seinem Bruder verschafft: und der war leider Kammerjäger. Später hatten wir denn unsern Blumenladen, und schließlich hat’s dann zu dem kleinen Baumarkt in Bremen gereicht.»

«Von Kindern hast du mir nie was erzählt…?» Eine Frage, die ihn sehr beschäftigte.

«Kinder, nein. Uwe hatte irgendeine Schwäche mit den Samenfäden; an mir hat’s nicht gelegen…»

Unwillkürlich sah er auf ihre Knie hinunter, die Schenkel hinauf, die vom engen Lederrock gehörig freigegeben wurden.

Sie bemerkte es, und es machte sie nervös; viel zu lange blieb sie auf der linken Seite, hupte einen Wagen an, der auch schon 150 fuhr.

«Woran ist er denn gestorben?»

Sie zögerte unmerklich. «Uwe…? Der, der ist bei einem Verkehrsunfall…»

«Ich hoffe, du ersparst mit dieses Schicksal jetzt.»

«Ja, entschuldige!» Sie hielt auf die nächste Ausfahrt zu, suchte eine Raststätte. «Trinken wir erst mal ‘n Kaffee.»

Sie fanden einen stillen Landgasthof mit summenden Fliegen und gepflegter Stille, und heiß war es auch.

Schweigend saßen sie sich gegenüber, verlegen, befangen, sich gänzlich fremd und doch so nahe; wie zwei Menschen im steckengebliebenen Lift, die Angst voreinander haben und doch schon ahnen, was kommen wird und muß.

Sie schaffte es, sich eine Zigarette anzustecken. «Rauchst du auch?»

«Nein, nicht mehr, seit mir im Knast die Zigarillos ausgegangen sind.»

«Was ist denn mit deiner alten Wohnung in… Oldenburg, oder? Wo die NordInvest war…?»

«Aufgelöst alles.»

«Hast du denn keinen Kontakt mehr mit deinen alten Freunden von damals?»

«Freunde? Alleingelassen haben mich doch alle. Und wenn ich den Dr. Lenthe mal treffe, ist das der erste Mord, den ich begehen werde!»

«Martin!» Sie lachte, wenn auch etwas verunsichert. «Wie damals, als die Frau Mühle dir in Latein ungerechtfertigterweise ‘ne Fünf gegeben hat, und du dann ihr Haus anzünden wolltest.»

«Und…?»

«Hast du dich wohl noch rechtzeitig bei Bille Stein abreagieren können, oder?»

«Ja, ja…» Jetzt lachte auch er. «Besser sich anstecken als Häuser anstecken…!»

«Wir haben ja wirklich ein wunderschönes Thema…» Sie trank den Rest ihres Kaffees.

«Ach, Gott, du: im Knast, da kannst du machen, was du willst, der Knast läßt dich zum Penner werden. Da hilft auch kein ausgiebiges Duschen, das ist mehr innerlich. Von mir kannst du alles erwarten, nur nichts Schöngeistiges…»

«Willst du mir angst machen?» Sie sah ihn an, und ihre dunklen Augen waren groß und hübsch wie die einer schwangeren Frau.

«Auf was du dich da eingelassen hast…» Er zog mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand die verschüttete Milch zu Seen und Flüssen auseinander.

«Ich wollte dich die ganze Schulzeit lang, hab ich dir doch damals geschrieben, von der Konfirmation bis zum Abi, bis du dann nach Köln gegangen bist.»

«Viel Glück mit mir!» Er stand auf und ging zur Tür.

«Martin, warte!» Sie warf einen grünen Geldschein auf den Tisch und folgte ihm.

«Dachtest du, ich lauf dir weg?»

«Es ist wirklich alles so schwierig…»

«Ich hab mir das mit unserm Märchen auch ein bißchen anders vorgestellt; einfacher…»

«Wir schaffend schon!» Sie schloß ihr Auto wieder auf. «Komm erst mal nach Hause…»

Sie sprachen nicht mehr viel, bis sie Evas Haus, fast Villa schon, in Bremen erreichten, wunderschön an der Osterholzer Dorfstraße gelegen, ringsum und bis zur Bahn, es war die Strecke nach Hannover, noch immer Weiden und Wiesen.

Sie saßen im Garten unterm bunten Sonnenschirm («Wie im alten Heimatfilm»), tranken Champagner («Zur Feier des Tages!») und sahen sich die alten Klassenfotos an.

«Hier, das ist der Günther Hintze, unser alter Klassensprecher. Und hier, beim gemeinsamen Ausflug nach Dunen, da ist auch der Uwe mit drauf; die lange Latte hier…»

«Ah, ja…» MUGALLE musterte Evas gewesenen Mann mit einer Mischung aus Eifersucht und absoluter Gleichgültigkeit.

«Und die hier, kennst du die…?» Sie zeigte auf eine Blondine mit wirklich ausgeprägter playmate-Eignung.

Er seufzte. «Die Bille, ja…»

«Ganz so sehr kann ja dein Gedächtnis damals doch nicht…!?»

«Nur weil sie neben mir steht, dicht bei dicht. Noch immer eifersüchtig?»

«Ja und nein.»

«Prost, Eva Maria Bianca!»

«Prost, Martin Gerhard Günther!»

Er ging auf sie zu, umarmte sie, fuhr ihr mit der Zunge die Lippen entlang, schob sie auseinander, fand ihre Zunge, strich mit der rechten Hand ihren Rücken hinunter, zupfte am Gummiband ihres Slips, preßte ihre brotlaibfesten Backen zusammen, ließ sie bis zu den Schamlippen hinüber rhythmisch vibrieren, stieß mit seiner Erektion bohrend gegen ihren rechten Oberschenkel, den er leicht umschlossen hielt, biß sich zugleich in ihrer Schulter fest, saugte sich in ihren Körper hinein, rieb sich an ihr, vom großen Strom mitgerissen, bis es ihm in wahnsinnsharten Stößen kam. War so erschöpft, daß er lang hingeschlagen wäre ohne ihren Halt.

«Entschuldige», sagte er leise.

Sie strich ihm über die Haare. «Vor siebzehn Jahren hätt es doch auch so angefangen, Petting bei irgendeiner Fete…»

Er ging ins Haus und duschte sich, bekam von ihr neue Sachen ins Bad hineingeworfen, chic und aus Italien importiert. «Keine von Uwe, da brauchst du keine Angst zu haben, extra für dich.»

«Danke!» Und er hatte auch schon wieder die Kraft zur ironischen Distanz. «Da wäre ja unsere erste gemeinsame Aktion voll in die Hose gegangen…»

«Ich will dich so wie du bist!»

«Ist das nicht ‘n schönes Drehbuch, nach dem wir hier spielen…!?»

Als er wieder auf der Terrasse erschien, war er schon viel weniger eben entlassener Knacki, hatte sich um erhebliche Einheiten jenem Mann angenähert, den sie von der Schule her beziehungsweise aus den Illustrierten kannte: Der Banker mit dem jungenhaften Charme, wie er in stern und Capital beschrieben worden war.

«Du, ich bin sehr zufrieden mit dir…» Sie strich ihm die helle Sommerjacke glatt und setzte ihn auf eines ihrer nagelneuen Fahrräder, um mit ihm nach Fischerhude zum Essen zu fahren.

Von der Osterholzer Dorf kamen sie über die Osterholzer Heer- zur Osterholzer Landstraße, und MUGALLE war schon verwirrt genug, als ihm Eva auch noch erzählte, daß sich ihr Geschäft nicht hier in Osterholz befände, sondern in der Alt- und Innenstadt, im Ostertorviertel, wobei das alles aber nichts mit Ostern zu tun habe, allein von der Himmelsrichtung herrührte, weil ostwärts von Roland und Rathaus gelegen.

«Ich kenn nur Osterholz-Scharmbeck», lachte MUGALLE, «weil da der sanfte Balduin auch mal ‹aufgetreten› ist, in seinem Praktikum glaub ich, in der Verwaltung da.»

«Na, das liegt weiter nordwärts an der Bahn nach Bremerhaven. Autokennzeichen OHZ – Ochsen haben Zeit.»

«Da paßt das besser, was Zweeloo anfangs mal am Wagen hatte: Wittmund, WTM – Wir töten Menschen…!»

Als sie unter der Autobahn hindurchgerollt waren, hatten sie Bremen, die Stadt, hinter sich gelassen, ließen die Räder auf den Deichkronen schnurren, vorbei an blökenden Schafen und glotzenden Kühen, mußten nur achtgeben, nicht in die Wümme zu stürzen, deren äußerster Arm rechts von ihnen moorig-dunkles Wasser träge Richtung Lesum/Weser fließen ließ.

«Schön wie im deutschen Heimatfilm», sagte Eva. «Ich komm mir vor wie, sagen wir, Marianne Hold.»

«Die Fischerin vom Bodensee, ja… Du siehst ihr zwar nicht gerade zum Verwechseln ähnlich, aber immerhin: die Figur, die Haare… Das war ja mal mein großer Schwarm… Oh…» MUGALLE stutzte, als er ein ewig langes blau-weißes Straßenschild las. «Hodenberger Deich… Wie schön. Hätte meine Tante herziehen sollen, die hat nämlich in Berlin mal am Sackfuhrerdamm ‘ne Wohnung gehabt.»

Evas Antwort war nicht mehr richtig zu deuten, denn vor ihnen rauschte, röhrte hinter einer längst geschlossenen Schranke ein Intercity vorüber, Hamburg-Bremen-Ruhrgebiet.

Weiter ging es, und sie hatten trotz der bald schon tropischen Schwüle immerhin noch Kraft und Lust zu einem kleinen Rennen, traten voller Übermut («Wie bei unsrer letzten Klassenfahrt, weißt du noch!?») in die Pedalen und waren völlig außer Atem, als sie den Weg erreichten, der schnurgerade, nur mit einem leichten Knick durch die Wümmewiesen zur Geest nach Fischerhude führte.

Sie standen, auf das Geländer gestützt, an einem kleinen Wehr, Deichschlot genannt, verschnauften und sahen sich um. MUGALLE fiel auf, daß es hier ungewöhnlich viele Männer gab, die mit großen Ferngläsern herumliefen oder -standen.

«Alles Voyeure und Spanner?»

Sie lachte. «Was du auch immer denkst: alle Ornithologen.»

«Aha! Also nicht am, sondern an interessiert…!»

«So ist es. Nord-Süd-Ost-West! Bremen-best! Wie die Leute hier in aller Bescheidenheit behaupten.»

Hinter ihnen erklärte ein alter Bremer seinem von anderwärts angereisten Enkel die Linienführung einer legendären Kleinbahn, längst aufgelassen, aber unvergessen.

«Jan Reimers, de Tarmster Pingelbahn», schloß er mit einer Anekdote, «weer proppenvoll, dor gung nummens mehr rin. Un een Luft weer dorbinn, dar harrst mit’n Mest dicke Kluten rutsniern kunnt. Man do mak een dat Finster apen. ‹Bist du verruckt worden?› reep do een Wief, ‹disse Tog dat is min Dot! Mak dat Finster to!› – ‹Lat dat apen›, brüll een anner, ‹disse Stinkluft is min Dot!› Se kibbeln sik noch’n Tiedlang. Toletz haln se den Schaffner. De wuß erst ok nich, wat he maken schull. Toletz sä he: ‹Lat dat Finster solang apen, bit de Ohlsch dot ist. Und denn makt to, denn so geiht de anner ok dot. Denn giff dat hier jo woll Fräer, un mehr Platz hebt wi denn ok.›»

Sie hatten Hunger, vor allem aber Durst, und machten, daß sie weiterkamen, denn irgendwann am frühen Nachmittag, wie eine Smogwolke hing es schon am Horizont, mußte es Gewitter geben. Es ging nun quer über die weitgestreckten Wümmewiesen, an Ebbensiek und Hexenberg vorbei, zum Gasthaus Meyerdierks, wo sie dann einkehrten, Fischerhude war zu weit für heute, es war ja nicht die letzte Tour für sie.

«Iß nicht zuviel… Bei der Hitze, da…»

Doch den anvisierten Ratsherren-Topf ließ er sich so schnell nicht ausreden. «Nach zweieinhalb Jahren Einheitskost im Knast, da darf ich das.»

Sie hatten einen freien Tisch im Garten gefunden, saßen unter einer uralten mächtigen Eiche, tranken Beck’s-Export und sprachen nicht viel.

MUGALLE verspürte ein feines, aber dennoch sehr störendes Gefühl einer gewissen Enttäuschung. Tagelang, nächtelang hatte er von dieser Szene geträumt. Nun war alles so gekommen wie erhofft, war seine Sehnsucht Wirklichkeit geworden, und er war nicht im allergeringsten euphorisch, sondern eher müde, schlaff und unlustig, wäre am liebsten aufgesprungen und in den kleinen Wald hinterm Garten gelaufen, hätte sich versteckt. Er hatte Angst vor Eva, Angst vor sich, Angst aber vor allem… Ja, wovor? Das alles in der nächsten Sekunde zerplatzen konnte wie die berühmte Seifenblase, im nächsten Atemzuge wieder aus sein konnte. Wenn die Lufthansa-Boeing, die gerade ihre Warteschleife flog, nun auf sie niederstürzte und verbrennen ließ? Wenn das Essen, das schon kam, vergiftet war? Wenn er in der nächsten Minute mit einem Herzinfarkt zusammenbrach, den Strapazen seines ersten Freiheitstages lange nicht gewachsen war? Wenn, wenn, wenn…! In seiner Zelle war alles so sicher und berechenbar gewesen. Auch in der Schneiderei, wo er jetzt gesessen hätte, bemüht, sein Pensum an Knöpfen auch heute zu schaffen.

«Du denkst zurück…?» fragte Eva.

«Es wird lange dauern, bis ich…»

«Morgen früh kommst du gleich mit ins Geschäft und fängst da an… Sieh dir alles an, mach dich mit allem vertraut.»

«Danke, ja…» MUGALLE zerfaserte einen herabgefallenen Zweig.

Das Essen kam, und es schmeckte schon, doch bei weitem nicht so, wie er angenommen hatte.

«Ich dachte immer, die Eremiten sind große Asketen, verzichten auf alles… Denkst du! Die größten Genießer sind das, Hedonisten hoch zwei. Nur wer darbt und sich dabei die Genüsse dieser Welt phantasievoll ausmalen kann, der allein ist in der Lage, Lust zu optimieren. Die Vorstellung von der Wirklichkeit ist es, nicht die Wirklichkeit selber, was einem die höchsten Genüsse verschafft.»

Eva nickte. «Und? Was willst du da für Schlüsse draus ziehen?»

MUGALLE sah sie an. «Daß so ein Knastaufenthalt auch seine guten Seiten hat.»

«Aber nur für den, der hinterher ganz weit oben weitermachen kann.» Sie legte ihr Besteck beiseite, mochte von ihrem Hühnerfrikassee, bleich und labbrig schien ihr das Fleisch, nichts mehr wissen, begann zu rauchen. «Du meinst, es wäre besser gewesen, ich hätte dich heut morgen nicht… Du wärst allein mit dir selber…?»

«Ich meine gar nichts! Das Gewitter macht mich nervös.»

«Zahlen wir und fahren nach Bremen zurück!» Sie winkte den Ober herbei. «Es ist dir doch nicht peinlich, wenn ich jetzt…?»

«Nein, ich danke für diese milde Gabe!»

«Laß uns zu Hause über alles reden…»

Die beiden so bedeutungsschweren Worte «zu Hause» ließen ihn zusammenzucken, und während sie nun «nach Hause» fuhren, wurde seine Stimmung immer depressiver, quälte ihn die Ambivalenz dieses Gedankens. Dieses Zuhause war ganz sicher eine Festung. Sicher war er da, geborgen, konnte in Ausfällen und Feldzügen Land erobern, Beute machen. Doch andererseits war er auch Gefangener da, angebunden, festgewachsen, unfrei eben.

Einerseits, andererseits… Es machte ihn krank.

Blitz und Donner jagten sie der Autobahn entgegen, die hier wie eine mittelalterliche Mauer verschiedene Bremer Vorstädte umschloß, doch alle Eile nutzte nichts, der Gewitterregen schlug schon auf sie ein, bevor sie in der Unterführung Schutz finden konnten.

Frierend und fluchend standen sie da, wagten sich nicht mehr ins Freie hinaus, denn ringsum fuhren immer wieder Blitze in Dächer und Bäume.

Als sie dann bei Eva angekommen waren, gab es nur eins: alle Sachen vom Körper heruntergerissen, kurz abfrottiert und dann ins Bett gekrochen.

Sie lag mit dem Rücken in der Höhlung seines Körpers, wie ein Fötus zusammengerollt und genoß es, so umfangen zu werden, schnurrte hingegeben.

Ihnen wurde langsam wärmer, und er spürte, wie sich die Schwellkörper seines Gliedes allmählich und verhalten pulsend immer mehr mit Blut anfüllten, kämpfte an dagegen, wollte nicht schon wieder bei ihr den Eindruck erwecken, die ganze Zeit über auf nichts anderes als dies gewartet zu haben. Fürchtete auch, daß es ihm wieder viel zu früh passierte, ein Umstand, wie ihm einfiel, den viele Knackis beklagten: Zu überreizt sei man, und in seiner Angst, nach so langer Zeit ohne Frau nun gar nichts mehr bringen zu können, schösse man dann lange vor der Schlacht ins Leere.

Wenn ich’s doch bloß schon hinter mir hätte!

Statt freudiger Erwartung, warf er sich nun selber vor, enttäuscht und wütend über sich, dasselbe Gefühl wie vor einer Spritze oder dem Bohrer des Dentisten.

Scheiß was auf diese Welt!

Schließlich zwang er sich, mit seiner rechten Hand die Innenseite ihrer Schenkel zu streicheln, fuhr aber augenblicklich wieder zurück, denn was er da weiter oben angefaßt hatte, schien ihm nicht das köstliche Döschen zu sein, von dem die Dichter immer sprachen, das absolute Zentrum männlichen Sehnens, sondern eher eine etwas abgenutzte Bürste.

O Gott, MUGALLE!

Augen zu und durch!

Wenn es jetzt nicht klappt, dann kannst du dir gleich ‘n Strick nehmen und dich aufhängen!

Er rückte ein wenig von ihr weg und ließ sein Glied nun hochschießen, das wenigstens ging, und plazierte es sehr sanft von hinten in die weiche Furche ihrer geschlossenen Schenkel.

«Warte», sagte sie leise. «Nein, nicht. Laß uns für immer so liegen. Mein Nirwana ist das.»

Ihm war es recht, und er bemerkte es mit Freude, daß sie schon eingeschlafen war, ehe seine Finger die Nippel ihrer Brüste fanden.

Er beförderte seine Eichel hinter die Vorhaut zurück und dämmerte dann langsam dahin, während es draußen noch immer goß und grummelte.

Als sie erwachten, war es schon dunkel geworden, und sie küßte ihn. Zuerst wie einen alten Ehemann, den sie ermahnen mußte, schnell zu machen, nicht zu spät zum Dienst zu kommen, vergaß sich aber schon im nächsten Augenblick, wühlte sich mit ihren Lippen, ihrer Zunge tief in ihn hinein, drehte sich auf den Rücken herum, brachte ihr Becken unter das seine und faßte seinen umherirrenden Penis, daß es ihn erschrocken machte.

«Nein, du…»

«Ich glaub, ich hab das alles verlernt…»

«Warte…»

Sie bedeckte ihn mit ihrem Körper, bog ihn zurecht und schaffte es schließlich, sein Glied in ihre Scheide gleiten zu lassen.

Nun mußte er und wollte es auch, doch soviel er auch tat, auslösende Lust verspürte er nicht, eher drückte ihm ihr Ritt die Blase ab. Ein Kondom aus Eisen schien zwischen ihnen zu sein. Er kam sich vor wie ein elektrischer Tacker, hielt seinen Pint für einen stählernen Nagel, schrie nach einer Sekunde, die ihn erlösen sollte und die, verdammt noch mal, nicht kommen wollte, während auf ihm drauf ihr Körper wie von Sinnen zuckte, durchgeschüttelt wurde.

Der Knast hat uns alle fertiggemacht…

Er wollte sich befreien von ihr, weg von hier, zurück in seine Zelle.

Sein Herz flackerte, und er sah sich schon krepieren.

Da endlich explodierte es bei ihm, und von allem Übel erlöst fiel und fiel er in ein wolkiges Nichts, roch plötzlich Chloroform, sah sich, dreißig Jahre war es her, beim HNO-Arzt sitzen, eine Maske vor dem Mund, wie sie ihn betäubten. Blieb dann ewig lange unter ihr liegen, so schwer sie auch wurde, wollte in ihrem Schoße an- und festwachsen, immer derart eins mit ihr sein.

 

 

Drei Monate später hatte sich MUGALLE voll in Evas und das gehobene bürgerliche Leben integriert, ging wie jeden Morgen durch den kleinen Baumarkt hindurch und spielte seine Rolle als fester Freund der Chefin und damit neuer Boss mit ziemlicher Bravour.

«Diese Tischkreissäge hier verkaufen wir am Wochenende für 398 Mark, hören Sie. 410 – was soll denn der Quatsch! Herr Buschhaus, Sie ändern das wohl bitte mal…!»

«Ja, natürlich.»

«Und die Farbeimer hier, die kommen eine Etage tiefer ins Regal. Unsere Kunden sind doch nicht alles Gewichtheber, Mensch! Das erledigen Sie als nächstes, Herr Höpken.»

«Ja, sofort, Herr Mugalle.»

Der Laden lief, doch schnell hatte MUGALLE gemerkt, daß er, was Verkaufsfläche und Umsatz betraf, nun wirklich nicht das Optimale war. Gemessen an den Ein-Mann-Geschäften ringsum war er, ohne nun im Sortiment um Längen besser zu sein, mit viel zu hohen Kosten belastet, um deren Preise bei allem Mehrumsatz entscheidend unterbieten zu können, hatte aber auch gegenüber den riesigen konzerneigenen Baumärkten draußen auf der grünen Wiese nur einen Vorteil, den der größeren Nähe nämlich, was aber für die Autofahrer wenig wog, wenn sie die Sachen dafür billiger und in erheblich größerer Auswahl kriegten.

Entweder man schrumpfte oder expandierte; bei der derzeitigen Betriebsgröße ging man auf alle Fälle ein.

MUGALLE sah sich die Nachbarhäuser an und wußte, daß eine Erweiterung an dieser Stelle unendlich schwierig werden würde, waren doch eine Kneipe, eine zoologische Handlung und eine Kindertagesstätte zu verdrängen; und dies in einer überproportional starken rot-grünen Ecke der Stadt. Er war auf Evas Meinung gespannt.

Im Büro zurück, saß eine Frau von etwa dreißig Jahren auf seinem Stuhl, an seinem Platz und sortierte da in aller Ruhe Rechnungen. Die Steuerfahndung? Er federte zurück und fragte Buschhaus, der gerne Krimis las, wer das denn sei, eine Kommissarin gar…?

«Nein, die Kollegin Brost. Krankenhaus und Kur, jetzt ist sie wieder da.»

MUGALLE dankte seinem Lageristen und ging zurück, wünschte der Dame einen schönen guten Morgen. «Mugalle, mein Name, ich bin der neue Prokurist hier. Schön, daß Sie wieder da sind…»

«Komm, Martin, nicht so förmlich; wir sind doch hier allein.»

MUGALLE starrte sie an. «Ich wüßte nicht, daß wir beide einmal…»

Sie kicherte. «Nicht nur einmal, du!»

«Damals in der NordInvest…

«Ja, du hast mich doch nach London mitgenommen. Tanja. Du erinnerst dich nicht mehr daran…? Du, ich kratz dir die Augen aus!» Sie machte auf Katze und fuhr auf ihn los.

MUGALLE wich zurück, zumal er draußen auf dem Hof Evas BMW ausrollen sah. «Sie müssen schon entschuldigen, du mußt, ich… Kurz bevor sie mich damals verhaftet haben, hatte ich doch diesen schrecklichen Unfall, auf der Autobahn bei Wildeshausen. Schädelbruch. Und seitdem ist mein Gedächtnis sehr, sehr lückenhaft geworden.»

«Oh, entschuldige.»

«Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du Eva… Also, Frau Schauß und ich, wir sind…»

«Will sie sich mit deinen Millionen sanieren?» lachte Tanja.

«Noch ein Wort davon und du…!» Er zeigte zur Tür.

«Okay, okay!»

Eine kleine spitze Bemerkung einer gekränkten Frau, aber ein Stachel, der ihm tief ins Fleisch gedrungen war, sein Gift erst sukzessive entließ. Doch er schwieg, als Eva das Büro betrat, bemühte sich, aufgekratzt und fröhlich zu wirken. Wenn er etwas fürchtete, dann waren es «Aussprachen». Das lag vor allem an dem, was er in den Monologen mit sich selber, doch auch andern gegenüber als «mein Findelkindgefühl» benannte. Nach seinem schweren Unfall damals, hörte man ihn berichten, sei er in der Klinik als jemand erwacht, der von seinem bisherigen Leben, seiner Vergangenheit nicht mehr den geringsten Schimmer gehabt habe, dem man erst wieder mühsam habe beibringen müssen, daß er Mugalle sei. Keine Eltern da, die ihm hätten helfen können, seine Biographie neu ins Gedächtnis einzuspeichern, sein Vater am Anfang der achtziger Jahre an Krebs gestorben, seine Mutter in einer psychiatrischen Klinik als hoffnungsloser Fall streng unter Verschluß; nur Chantal habe er seine Rückkehr zum normalen Menschen zu verdanken gehabt. Es mache ihn schier wahnsinnig, wenn nun in einer essentiellen Auseinandersetzung jemand an seiner Psyche zu rütteln beginne, und Ausrufe wie «Was bist du bloß für’n Mensch!» oder «Früher bist du doch ganz anders gewesen!» empfände er als absolute Killerphrasen.

So ging er Eva aus dem Wege, wollte mit vorschnellen Vorwürfen nicht alles wieder aufs Spiel setzen, auf der anderen Seite aber auch, bevor sie sich wirklich zu streiten anfingen, absolute Klarheit über die finanzielle Lage ihrer Firma gewinnen. Was lag da näher, als zur Domsheide zu schlendern und bei ihrer Hausbank anzuklopfen, war doch einer der dortigen Direktoren, der Dr. Venne, ein alter Studienfreund von ihm.

«Hallo, Reinhard!» Der Sperrgürtel der Sekretärinnen war glücklich durchstoßen.

«Mensch, Mugalle, Martin, ich werd nicht mehr! Gott, hast du dich verändert, und viel schlanker bist du geworden!»

«… weil ich versucht habe, doch mal durch die Gitterstäbe durchzupassen. Sag mal, hast du Order gegeben, mich hier nicht mehr vorzulassen…?»

«Wie denn…?»

«Na, mich als Vorbestraften nicht mehr…»

«Gott, Martin, das kann doch jedem von uns blühen, Hand aufs Herz. Als Kavalier, da hat man eben mit bestimmten Delikten zu rechnen, insbesondere, wenn die Devise Devisen heißt…! Also: Te absolvo!»

«Danke, danke!» MUGALLE setzte sich und ließ sich bereitwillig ausfragen, verwies, siehe oben, drei-, viermal auf seinen Unfall («Das Gedächtnis total im Eimer, sage ich dir, wie ‘n Computer, wenn dessen Programm voll abgestürzt ist!») und sein Gefühl, ein ausgesetztes Kind zu sein, das sich nun in einem unendlich qualvollen Prozesse zu erinnern suchte, was denn wohl vorher alles losgewesen ist. «Du, immer das Gefühl zu haben, da war doch noch was, und zwar was ganz Besonderes, das macht dich langsam krank. Aber mit Chantal ist es aus, und die kennt mich als Kind und jungen Menschen, und mit meiner Mutter kannst du überhaupt nicht mehr reden, die ist völlig abgetreten. Als ich neulich mit Eva bei ihr in der Anstalt war, hat sie mich nicht mal wiedererkannt…»

«Eva…?» fragte Dr. Venne.

«Ja, Eva Schauß, eine alte Klassenkameradin von mir. Die hat mir in den Knast geschrieben, als ihr Mann gestorben war, und mich dann nach der Entlassung bei sich aufgenommen. Du müßtest sie aber kennen: Heimwerkermarkt Schauß. Mit Geräten und Farben von Schauß, hast du im Nu den Bogen raus!»

Dr. Venne nickte. «Ich weiß, nur hatten die den Bogen mit ihrer Finanzierung nie so richtig raus…!» Er drückte auf ein kleines rotes Knöpfchen. «Frau Schönweiler, wenn Sie bitte mal kommen würden…»

Von Frau Schönweiler erfuhr MUGALLE dann, daß Eva den letzten Kredit nur noch bekommen hätte, weil sein Name da gefallen sei.

«Man traut mir wohl immer noch einiges zu…?» lachte MUGALLE.

«Ja…» Frau Schönweiler, eine gegen jedes Karrierefrau-Klischee eher häßlich-schweißmüffelnde Dame, zögerte eine Sekunde, bis sie behutsam sagte: «Ohne Ihre verbliebenen Ressourcen überschätzen zu wollen, aber… Wer Mugalle sagt, denkt unwillkürlich an die Presse, derzufolge Sie damals noch schnell ein, zwei Millionen…»

«Ihr Vertrauen ehrt mich…!» MUGALLE machte eine leichte Verbeugung in Richtung der beiden Bankleute.

Dr. Venne wartete, bis seine Mitarbeiterin wieder draußen im Vorzimmer war. «Das ist eine gute Symbiose, du, wie ihr euch da gegenseitig geholfen und gerettet habt: Die Schauß dich vorm Sturz ins Nichts und du ihr die Firma…»

«Die Firma also… So ist das…»

Als MUGALLE nachher wieder durch die Bremer Innenstadt ging, über die Contrescarpe und den Wall entlang zum Baumarkt heimkehren wollte, sprach er fast ohne Unterlaß einen Satz vor sich her, so melodramatisch wie eine Schnulze, irgendwie von einem großen Orchester begleitet: Und ich dachte, es wäre Liebe gewesen. Er fühlte sich elend, schmutzig und mißbraucht.

Als er unten an der Weser stand, sie kraftvoll nordwärts strömen sah, beschloß er, Schluß zu machen mit Bremen, mit Eva, mit seinem Versuch, klein einzusteigen ins große Leben. Lieber wieder va banque spielen, mit vollem Risiko Riesencoups wagen als hier so dahinkümmern. Lieber mit Chantal einen neuen Anlauf wagen als mit Eva ewig ein kleiner Krauter sein, der bei den Banken betteln mußte.

Er schlich sich von hinten ins Büro, um seine Papiere aus dem Schreibtisch zu holen und tat das so heimlich, daß es ihr zwangsläufig auffallen mußte, als sie etwas früher von einer Fahrt nach Papenburg zurückkehrte und ihren BMW draußen auf dem Hof abstellte. Durch das Fenster hindurch sah sie ihn hantieren: geduckt, hastig und erschrocken wie ein Einbrecher und Dieb, nicht Prokurist, und wußte sofort, was das alles zu bedeuten hatte.

Sie sprang aus dem Wagen und stürzte zum Fenster: «Martin…!»

Er war nicht in der Lage, irgendwelche sinnvollen Sätze zu formen, stieß nur die stereotype Wendung hervor, die sich vorhin am Wall in ihn eingegraben hatte: «Und ich dachte, es wäre Liebe gewesen…!»

Sie starrte ihn an. «Was denn sonst…?»

Da brach es los: «Nur Mittel zum Zweck, das bin ich doch für dich gewesen, weiter nichts! Pleite wärst du gewesen ohne den Namen Mugalle. Deine Klitsche hier sollte ich dir retten! Auf meine angeblichen Millionen hast du gehofft!»

Sie sank in sich zusammen, und die Feuerwehr mußte sie ins Krankenhaus bringen.

«Glück gehabt», sagte der Arzt eine knappe Stunde später zu MUGALLE. «Wir haben mit Mühe und Not eine Fehlgeburt verhindern können.»

MUGALLE kniete dann an ihrem Bett, umschlang sie und weinte.

 

 

Noch einmal war ein Monat vergangen, sie hatten sich vierzehn Tage lang auf Spiekeroog von allem erholt und ihren Hochzeitstermin auf Mitte Juli festgelegt.

Sie saßen im Wagen, hatten früh Feierabend gemacht, rollten im zähen Stop-and-go-Verkehr über Hemelingen und dann Sebaldsbrück ihrem Osterholz entgegen und freuten sich, daß alles, was sie planten, so glänzend lief.

«Das war wieder deine alte Sonderklasse, wie du das gemacht hast!» sagte Eva.

«Die große Kunst des Kapitalismus ist es halt, dort lebenswichtige Bedürfnisse zu schaffen, wo vorher keine waren», lachte MUGALLE, der jetzt, um sie zu schonen, wo immer es ging, meistens selbst am Steuer saß. «Man muß nur den Leuten und ein paar Bauunternehmern einreden, daß das größte Glück auf Erden die ‹Stadtvilla› ist. Dann kommt Dr. Venne und ködert die Firmen mit Billigkrediten und macht die Architekten an, auf Deubel komm raus Pläne zu zeichnen und Modelle zu bauen, winkt mit dem großen Geld für alle. Ja, schön und gut, sagt unsere liebe Bauverwaltung, aber die Parkplätze in dieser Gegend hier…! Nun ja…» Er spielte alles in mehreren Rollen, verstellte nun erneut die Stimme. «Nun ja, Frau Schauß hat durchblicken lassen, daß sie ihren Baumarkt… Dann hätten wir genügend Fläche. Wie denn, Mugalle hat uns doch gesagt, daß sie auf keinen Fall verkaufen wollen. Nun, alles eine Sache des Preises…»

Eva klatschte in die Hände. «Und das hat den Preis dann wirklich hochgetrieben?»

«Ins Astronomische sozusagen. Muß man natürlich ein paar Spesen abrechnen, die Kassen sind ja überall leer… Was unterm Strich übriggeblieben ist, reicht aber, nimmt man die Kredite, die wir nun wieder kriegen, hinzu, um uns 51 Prozent der P&H-Aktien zu kaufen. Von Flensburg bis Salzgitter haben wir dann das Sagen bei achtzehn P&H-Märkten, der besten Adresse für Profis und Hobby.

Keine schlechten Eltern, die sich unsere Tochter da ausgesucht hat…» Er legte seine Hand auf ihren Leib.

«Unser Sohn!» korrigierte sie ihn.

MUGALLE strahlte. «Endlich hab ich im Leben auch mal was hervorgebracht, von dem man wirklich sagen kann, daß es Hand und Fuß hat. Dank deiner Hilfe!»

«Hilfe ist gut…»

«Ich mein’s doch im übertragenen Sinne.»

«Na, dann: genehmigt!»

Sie holperten die Osterholzer Dorfstraße hinunter und bogen in den Hof des alten Bauernhauses ein, doch ihr gewohnter Parkplatz war mit allerlei Baumaterialien völlig vollgestellt.

«Oh!» MUGALLE bremste. «Alles für den Ausbau eines einzigen Kinderzimmers…!»

«Machen wir’s gleich ein bißchen größer…» lachte Eva.

«Warum nimmst du nicht gleich die Scheune hinten?»

«Hab ich auch schon dran gedacht.» Sie stieg aus und warf einen schnellen Blick hinüber. «Da könnten sie später mal Musik drin machen oder sogar ‘ne kleine Bühne eröffnen…»

«Besser wohl ‘ne Tennishalle.» Auch MUGALLE ließ sich nun aus dem Wagen gleiten, warf die Tür hinter sich zu und reckte sich mit einem Laut des Wohlbehagens.

In diesem Augenblick sprangen zwei schwarz gekleidete Männer hinter den Rigips-Platten hervor, die an einer völlig verrosteten Klopfstange lehnten, stürzten auf sie zu, die Revolver im Anschlag.

«Ganz ruhig! Los, beide ins Haus rein!» rief der eine.

«Nobby!» schrie MUGALLE.

«Schnauze! Ja, Nobby, ich komm jetzt kassieren. Denk dran: Don Corleone!»

«Komm, laß doch mal dein Pusterohr…! Wir können ja mal in Ruhe über alles reden…»

«Und was haste gestern am Telefon sagen lassen: Daß de nich da bist! Hab ich ganz genau mitgekriegt!»

«Da hatte ich gerade ‘ne wichtige Besprechung.»

«Die hier, die is noch wichtiger.»

«Haben wir uns nicht immer prima verstanden…?» MUGALLE tat alles, Nobbys Aggressionen abzubauen.

«Darum ja… Ich bin pleite mit meinem Hotel – und du hast Knete genug.»

«Ja, denkste! Das einzige, das wir haben, sind Schulden, Kredite…»

Nobby lachte schallend. «Aber deine Millionen, die haste doch inzwischen wieder alle ausgebuddelt…!»

«Unsinn, Mann, ich hab nie welche gehabt! Das haben doch die Journalisten damals alles nur erfunden.»

Nobby hielt ihm den Lauf des Revolvers mehrere Atemzüge lang dicht an die rechte Schläfe. «Wenn ich dabei bin, wirste dich schon wieder an alles erinnern.»

«Hast du nicht gehört von meinem Unfall damals…?»

«Was…?»

«Wo ich mein Gedächtnis verloren hab, total weg alles. Wenn ich wirklich irgendwo zwei Millionen versteckt hätte, ich könnt sie sowieso nicht mehr finden. Da hilft auch keine Waffe gegen. Das ist so wie mit’m Nibelungenschatz.»

«Mich auch noch verarschen, äih! Jerry, paß auf, die…!»

Nobbys Warnruf bezog sich auf Eva, die versucht hatte, auf die Hupe ihres Wagens zu drücken, um damit die Nachbarn auf sich aufmerksam zu machen.

Jerry, zwei Köpfe größer als Nobby und entsprechend stabiler, riß sie daraufhin so brutal nach hinten, daß sie auf das rauhe Kopfsteinpflaster stürzte.

«Die ist doch schwanger!» schrie MUGALLE und wollte zu Eva hinüberspringen, wurde aber von Nobby am rechten Arm gepackt und festgehalten.

Die nächsten Sekunden waren dann archaisch-reflexhaftes Handeln.

MUGALLE warf sich Nobby entgegen, schlug auf ihn ein, brachte ihn mit einem Kopfstoß in den Magen und einem Judotritt zu Fall, fuhr herum, um dem anderen ein Knie in die Hoden zu rammen, hatte das alles in Bad Brammermoor gelernt.

Eva war wieder auf die Beine gekommen und schrie nun gellend um Hilfe.

Da fielen vier, fünf Schüsse.

Zwei trafen Eva in den Körper, einer drang MUGALLE in die Stirn.

«Herr, unser Gott, ausgelöscht wurde hier ein Leben von fremder Hand, durch furchtbare Gewalt. Herr, wir sind fassungslos, können nicht begreifen, was Menschen dazu treibt, einen anderen Menschen zu töten. Vater im Himmel, all die formelhaften Worte, die wir uns zurechtlegen im Angesicht des Todes von Eva Schauß, sie erfrieren uns jetzt auf den Lippen, denn der Mensch, von dem wir nun Abschied nehmen – er hatte sein Leben noch nicht gelebt, er war noch so jung, er hatte die Spanne seines Lebens noch lange nicht durchmessen. Hilflos und ohnmächtig müssen wir erfahren, wie der Tod hier schon so früh nach dem Leben eines Menschen griff, einer Frau, die gerade im Begriffe war, Mutter zu werden… Herr, laß du uns gerade in Augenblicken wie diesem unsere eigene Schuld vor dir erkennen, damit wir nicht maßlos werden in unserem Zorn; damit nicht der Gedanke an Rache jeden anderen Gedanken in uns erstickt…»

Als die Glocken zu läuten begannen, bewegte sich ein Trauerzug von selten gesehener Länge über den weiten Osterholzer Parkfriedhof, und die Leute, die gekommen waren, neben den wenigen Verwandten und Nachbarn viele, die Eva vom Geschäft her kannten, hatten, ehe das tief ausgehobene Grab an der nördlichen Ecke des Geländes erreicht werden konnte, reichlich Zeit, sich zuzuflüstern was sie gerade dachten.

«Sehen Sie mal, die komischen Gestalten da hinten: das müssen auch welche aus’m Knast sein…!»

«Muß sie sich denn auch einen mit solchen Freunden nehmen!»

«Na, wenigstens haben sie dadurch die beiden Täter gleich festnehmen können, am nächsten Tag jedenfalls…»

«Da hilft nur eins: Todesstrafe!»

«Pst! Haben Sie nicht gehört, was der Pfarrer eben gesagt hat!»

«Der da hinterm Sarg: ist das ihr Cousin?»

«Ja…»

«Der soll ja alles erben.»

«Glück muß man haben. Wenn der man nicht mit diesem Nobby unter einer Decke gesteckt haben wird…»

«Frau Ascheregen, bitte…!»

«Sehen Sie mal: die vielen Fotografen!»

«Und das bei der Eva: die hat sich doch nie fotografieren lassen wollen…»

«Wie geht es denn ihrem…»

«… ihrem Freund, meinen Sie…?»

«Mugalle, ja. Haben Sie da was drüber gehört?»

«Ja, er soll ja noch immer zwischen Leben und Tod liegen: Kopfschuß, mein Gott!»

«… so ‘ne Kugel mitten durchs Gehirn durch…! Mir wird ganz schlecht, wenn ich nur daran…»

«Pst, der Pfarrer will noch was sagen!»

«Ja, Erde zu Erde, Staub zu Staub…»

Die Feier nahm ihren Fortgang.

 

 

«Herr Mugalle, möchten Sie noch etwas trinken?»

Jossas Kopf ging nach links hinüber, doch das zweite Bett der Intensivstation war leer.

«Ob Sie noch etwas trinken wollen, Herr Mugalle?»

«Sie irren sich, Schwester… Ich bin jetzt wieder Jens-Otto Jossa…!»

«Herr Doktor…!»

Die Verletzung, die Schmerzen, die Verbände, er hatte das Gefühl, das Gesicht der Schwester wie durch den Sucher einer kleinen Kamera zu sehen. Ein winziges Zucken des Kopfes, schon war es wieder verschwunden, zurückgehuscht in bunte Nebelschlieren. Ihre Schritte klangen auf dem harten, spiegelblanken Boden wie Paukenschläge, schmerzhaft. Thompson sorgt für Glanz und Frische… Wirklichkeit und Werbespots mischten sich kurzzeitig. Er schloß die Augen und hätte sich am liebsten auch die Ohren zugehalten, doch seine Hände waren ihm der vielen Schläuche und der Kabel wegen am Bettrand festgebunden worden.

«Was ist…?» hörte er aus Weltraumfernen, M42 (NCC1976), Großer Nebel im Orion, eine sonore Commander-Männerstimme.

Das Piepsen eines Selektiv-Rufers, nein, die Stimme der Schwester von eben. «So ganz ansprechbar ist er immer noch nicht…»

«Wer?»

«Mugalle.»

«Jossa…» flüsterte er. «Jossa…! Ich… bin… nicht mehr… Mugalle…»

Dann war er wieder eingeschlafen.

Von Tag zu Tag ging es ihm besser, die schnelle Operation hatte sich als überaus erfolgreich erwiesen. Sein Gehirn regenerierte sich bald, und sein Gedächtnis war, wie Tests ergaben, zu über neunzig Prozent erhalten geblieben. «Das ist zwar außerordentlich viel», sagte der Neurologe zu ihm, «aber denken Sie immer daran, daß das eine und andere Erlebnis halt doch völlig aus dem Speicher rausgefallen sein kann. Das entsprechende Aktionspotential ist da durch Kugel und Operation in Gänze zerstört worden und hat sich nicht wieder regenerieren können. Das soll, so sagen manche Kollegen, insonderheit für unangenehme Gedächtnisinhalte gelten, früher schon gern Verdrängtes. Wie auch immer: Stellen Sie sich vor, Sie sind mit Ihrem Jeep in der Sahara gestrandet, haben über Monate hinweg keine Zeitung lesen können, kommen nun nach Deutschland zurück und sehen sich Ihre geliebte Fußballbundesliga an, die Tabelle. Plötzlich steht da eine Mannschaft ganz oben, die bei Ihrer Abreise noch Fünfter war. Das sind die Fakten, aber alles, was dazwischen war: die Spiele, die Ergebnisse, die zu diesem Tabellenstand geführt haben, die müssen Sie sich jetzt erst mühsam zusammensuchen. So wird es Ihnen auch ergehen. Ein Freund kann auf Sie zugelaufen kommen und die tausend Mark wiederhaben wollen, die Sie sich von ihm geborgt hatten. ‹Ich weiß von nichts!› werden Sie ausrufen – und doch wird er recht haben. Ihre Vergangenheit ist zum Teil eine black box geworden, und Teile Ihres Lebens und Erlebens werden Sie sich ganz mühsam erst wieder rekonstruieren müssen, ganz entscheidende Teile unter Umständen auch…» Daß der Mann recht hatte, sollte schon sehr bald offenkundig werden, und Jossa ahnte auch, wie damit so mancher Irrweg für ihn vorgegeben war. «Aber, wie gesagt, Mugalle: über neunzig Prozent Ihres Gedächtnisses sind Ihnen ja erhalten geblieben.»

Doch eines hatten Trauma und traumatisches Erlebnis völlig ausgelöscht: sein Gefühl und seine Gewißheit, Mugalle zu sein. Ganz klar erkannte er, wie er sich da, von den Umständen getrieben, selber manipuliert, einer Selbsthypnose unterzogen hatte, sich in die Krankheit geflüchtet, aufs Eiland Mugalle gerettet, wie auch immer. Nobbys Schuß und die Kugel im Gehirn hatten dem auf gewaltsame Weise ein abruptes Ende bereitet.

Natürlich wollte er den Ärzten dies nicht sagen, nicht schon wieder als Verrückter abgestempelt werden («Der mit dem Kopfschuß, na ja, der…!»), Futter für Psychiater sein; diese Lektion hatte er im Knast nun wirklich begriffen. Er bezweifelte auch, ob die Neurologen um ihn herum, so wie sie «ihr» Organ noch immer voller Rätsel wußten, für dieses Ereignis, die Rückkehr zu sich selbst, einheitlich eine wirklich plausible Erklärung beibringen konnten. Außerdem stand zu befürchten, daß sie ihn, erklärte er sich, als Versuchskaninchen möglichst lange dabehielten, ja malträtieren würden, was die vielen Elektroenzephalogramme und die sonstigen, mehr psychologischen Testreihen betraf. Bei aller Dankbarkeit für ihr Wirken: um Gottes willen, nein!

Ihnen danken, daß sie ihn zurückgeholt hatte? Sollte er’s wirklich? Nicht nur die erneute Umpolung seiner Ich-Identität hatte er da durchzustehen, vor allem ja galt es zu verarbeiten, daß Eva nicht mehr lebte, mit ihr sein Kind gestorben war.

Ende der Mugalle-Zeit, Ende auch der Eva-Episode.

Das Rad seiner Lebensgeschichte war im geburtsblutigen Akt wieder zurückgedreht worden, über drei Jahre zurück, und er war, zumindest im überwachen Bewußtsein dieser Krankenhaustage, wenn auch nicht faktisch, eben nach Bramme gekommen, um Anja zu vergessen, ein neues Leben anzufangen, Jojo, der Reporter.

Er schaffte es schließlich, immer wieder von schweren Krisen geschüttelt, zu einem neuen Seelengleichgewicht zu kommen, indem er sich sagte, daß die Zeit im Knast, sein Leben als MUGALLE, das kurze Glück mit Eva Schauß, daß dies alles nur ein Traum gewesen sei und hörte sie wieder und wieder, wie sie – im Wagen war es, als sie ihn nach seiner Entlassung vom Knast abgeholt hatte – Calderon zitierte: «Wenig kann das Leben geben; denn ein Traum ist alles Leben, und die Träume selbst ein Traum…»

Jens-Otto Jossa war er, und wenn er nicht völlig kaputtgehen wollte, mußte er auch wieder formal-administrativ der Jossa werden, konnte nicht ewig als Mugalle weiterleben («Herr Mugalle, zum Psychologen bitte!»), immer getarnt und die Leute irgendwie verarschend, mußte weg von dem, was er den Mugalle-Fluch nannte.

Aber wie? fragte er sich die ganze Zeit über, die er in der großen Klinik am Deister zubringen mußte, erregte sich so sehr damit, daß er die Rehabilitationspläne nachhaltig kippte.

Polizei, Blutgruppentest und Fingerabdrücke? Nein, er hatte Angst davor, eine Wahnsinnsangst, erkennungsdienstlich behandelt und dann bis zur Klärung des Ganzen wieder eingelocht, in Untersuchungshaft genommen oder in eine geschlossene Anstalt verschubt, also weitergegeben zu werden.

Anja? Er ging, als er Freigang hatte, ins nächste Postamt und blätterte in den Telefonbüchern all jener Städte nach, in denen sie sich möglicherweise aufhalten konnte, wo es entweder Universitäten oder Theater oder beides gab. Doch allenthalben Fehlanzeige, auch in Bramme.

Dr. Lenthe fiel ihm ein, Mugalles alter Kompagnon, doch der war, wie er auf Umwegen erfuhr, beim großen Fährunglück von Zeebrugge ums Leben gekommen.

Blieb nur eine Schiene und die hieß Bramme. Na, logisch!

So fieberte er dem Tag seiner Entlassung mehr und mehr entgegen.

«Was werden Sie denn nun machen, Herr Mugalle?» fragte ihn die Therapeutin, eine Frau von knappen Dreißig, die alle Menschenseelenbücher kannte, nur die Seelen der Menschen noch nicht – und darum auch so überaus erfolgreich war in ihrem Wirken hier.

«Ich?» fragte Jossa.

«Ja, wer sonst!»

«…ich fahre natürlich nach Bremen, Evas Grab besuchen. Dann sehen, was mir ihr Cousin gelassen hat.»

«Hier war er noch nicht, Sie besuchen – oder?»

«Nein, nein.»

«Und dann?»

«Dann fahr ich mal nach Bramme rüber.»

«Wieso ‘n das?»

«Na, wo soll ich denn sonst den Faden Jos…» Fast hätte er sich ernstlich versprochen. «… sonst meine alten Kumpels wiedertreffen, den sanften Balduin zum Beispiel, den Josef… Und den… Na, alle jedenfalls…»

«Sind die denn nicht alle längst wieder draußen?»

«Schon, aber Kassau kann mir ihre Anschriften sagen.»

«Machen Sie bloß keinen Quatsch!» warnte ihn die Therapeutin.

«Wieso…?» fragte Jossa.

«Daß Sie auf Nobby losgehen und ihn…!»

«Ach, der sitzt doch jetzt in Celle.»

«Das beruhigt mich ja.»

«… lebenslänglich, und das heißt in seinem Falle: etwa zwanzig Jahre. Da sehen wir dann weiter…»

Jossa gab zu, schon mal überlegt zu haben, wie man Nobby – auch im Knast – wohl «hinrichten» konnte, ohne selbst als Mörder dazustehen. Er brauche, sagte er, diese Rachegedanken, um jetzt alles durchzustehen, die Kraft aus dieser Quelle.

Vielleicht solltest du die Frage anders stellen, sagte er sich, als er wieder allein in seinem Zimmer war, nicht nach Leuten suchen, die dich als Jossa wiedererkennen, sondern nach demjenigen, der jetzt als Jossa lebt, wo auch immer, nach Mugalle folglich.

Wo ist Mugalle geblieben, was ist aus Mugalle geworden? Das also war die alles entscheidende Frage für ihn. Und um die beantworten zu können, mußte er mit seiner Suche in Bramme beginnen. Die Gedächtniseinheit «Mugalle hat Anja vom Balkon gestürzt; Anja tot; Mugalle auf der Flucht» war ihm ja verlorengegangen.

«Herr Mugalle, dann alles Gute für Sie!»

«Ja, und herzlichen Dank auch für all das, was Sie hier für mich getan haben, meinen Kopf insbesondere…!»

Endlich war er aus der Klinik entlassen und machte sich sogleich mit der Bahn auf den Weg nach Bremen, fuhr vom dortigen Bahnhof sofort hinaus zum Osterholzer Friedhof, ließ sich am Eingang die Lage ihres Grabes erklären und brach dann fast zusammen, als er es gefunden hatte, sich bewußt machte, daß sie da unten lag und in ihrem Leib, verwesend wie sie, sein Kind.

Den Gott verfluchend, der dieses zugelassen hatte, in wildem Haß auf Welt, Zeit und Menschen stieß er ihren Grabstein um, Symbol für alles Scheitern, und flüchtete auf die Straße hinaus, konnte auch unentdeckt in einen Linienbus zum Kuhkamp springen.

Dieser Akt hatte ihn in einem Maße entlastet, daß er mit Evas Cousin, einem furchtbar gescheiten Versicherungsvertreter, ganz vernünftig reden, es klaglos hinnehmen konnte, daß der sich schon mit seiner ganzen Sippe im alten Haus an der Osterholzer Dorfstraße für ewig eingenistet hatte.

Ein Testament gab es nicht, doch die Leute waren fair genug, ihm für die Zeit seiner Krankenhaus- und Klinikaufenthalte das Prokuristengehalt zu zahlen beziehungsweise nachzuzahlen, so daß er erst einmal ein ganz hübsches Startkapital hatte und sich vor allem einen Gebrauchtwagen zulegen konnte, was wichtig war, wenn er Mugalle jagen wollte.

So machte er sich auf den Weg von Bremen nach Bramme und war so mit sich und seinen Gedanken beschäftigt, daß er sich auf halber Strecke verfuhr, die Stadt schließlich nur über einen erheblich längeren Weg von Süden her erreichen konnte.

Doch als er dann das Schild entdeckte «Bad Brammermoor 5 km», da glaubte er zu wissen, woher das kam: Im Unbewußten zog es ihn zu seiner Strafanstalt zurück.

Da hielt er dann tatsächlich, wenn auch in einiger Entfernung, war nämlich voller Angst, aus der Backsteinfestung könnte plötzlich ein unsichtbarer Arm herausschnellen und ihn wieder in den B-Flügel zurückbefördern, in seine alte Zelle.

Andererseits bezweifelte er, jemals dort gesessen zu haben. Ich, Jens-Otto Jossa, unmöglich! Ich hab doch nie was Unrechtes getan.

Ein schwer vergitterter Wagen kam am Haupttor an, und Eike Kassau erschien, die Neuen in Empfang zu nehmen. Futter für die Steine, neue Menschenseelen waren auszusaugen. Die heiße Sommersonne knallte derart auf den Kopf des JVA-Beamten, daß er leicht zu dampfen schien, wie ein frisch serviertes Eisbein wirkte. Doch wie immer lachte Kassau, war er guter Laune.

Jossa mußte schmunzeln, Haß empfand er keinen, weder gegen Kassau noch den Knast im allgemeinen. Hatte oft Terroristisches gedacht, den Kasten völlig in die Luft zu sprengen, doch heute sah er alles in viel milderem Licht. Wußte er denn, ob sein Leben wirklich der große Höhepunkt geworden wäre, hätte man ihn nicht mit Mugalle verwechselt? Vielleicht wäre es noch schlimmer gekommen, Aids oder Querschnittslähmung, im Libanon entführt, im abstürzenden Flugzeug minutenlang gefoltert, dann verbrannt, im Affekt zum Mörder geworden. Es gab eine hohe Marge Unglück, der er so entronnen war.

Alles schön und gut, doch so lange war kein Schlußstrich unter alles zu ziehen, wie es ihm nicht glückte, die Welt von seinem Jossa-Sein zu überzeugen. Und das war jetzt noch um ein Erhebliches schwerer geworden als damals vor zwei Jahren, denn nun «zierte» ja eine beträchtliche Narbe seinen Kopf, saß rechts über der Schläfe ein ziemliches Loch, von den Haaren nicht immer genügend verdeckt, würde jeden noch hundertmal stärker an seinen Worten zweifeln lassen, daß er der Jossa sei und nicht Mugalle, denn: «Der mit seinem Kopfschuß!» würden alle denken, und zwar ganz reflexartig. Zu erwarten hatte er überall ein Riesengelächter. Oder?

Egal, wenn es eine Chance gab, dann hier in Bramme.

So fuhr er an Pötterberg und Windmühle vorbei auf die Brammermoorer Heerstraße zu und erreichte nach einer knappen Viertelstunde die Brücke über den Fluß, stellte hier sein Fahrzeug ab und ging zu Fuß zur Altstadt hinüber.

Bramme.

Die «Bürgermeister Büssenschütt» kam von einer ausgedehnten Rundfahrt zurück und ließ ihre Doppelkorn-getränkten Passagiere unter der großen Brücke fröhlich grölen. Bunte Tretboote krochen mühsam stromauf, voller Ehrgeiz, die Badeinsel in der Mitte des Flusses einmal zu umrunden. Kinder rutschten lärmend ins Wasser, schluckten das trübe Kühlwasser der Buthschen Fabriken. An der Fassade der Stadtbibliothek wuchs ein Gerüst langsam in die Höhe, und die Männer, die sich da mühten, waren von professionellem Akrobatengeschick; Jossa zuckte Mal um Mal zusammen, wenn sie über Abgründe sprangen und sich hangelten. Wenn er sich ein wenig am Brückengeländer hochstemmte, konnte er die Uhr am Rathausturm erkennen. Davor ein Hochhaus mit genormten Waben. Fährgasse, sein Apartment, Packhofstraße, ah, ja…

Sein Herz schlug spürbar schneller, denn die Fragen, die ihn nun bewegten, hatten höchsten Stellenwert für ihn, wußte er doch nicht, daß sie an sich überflüssig waren. Welches Namensschild, wen würde er da finden? Noch immer Jossa? Nein, unwahrscheinlich, daß Mugalle dort noch immer unter seinem Namen lebte. Aber, großes Fragezeichen, was war aus ihm geworden? Im Knast hatte er nur höchst unregelmäßig die Zeitungen zu lesen bekommen; da konnte viel geschehen sein, ohne daß er eine Chance gehabt hätte, es irgendwie in Erfahrung zu bringen. Der Mugalle-Jossa hätte da schon etwas in einer Größenordnung anstellen, unternehmen oder vorweisen müssen, die für das Fernsehen interessant gewesen wäre, dann hätte er auch im Knast sehr bald davon gewußt, mit Ausnahme seiner Zeit im Arrestbunker natürlich; schien er aber nicht getan zu haben, war ganz offensichtlich mit seinen Millionen in die Ferne gezogen. Oder? Sicher, er, Mugalle, kannte doch den Entlassungstermin, und da wäre es Wahnsinn gewesen, bis heute als Jossa und noch dazu in Bramme weiterzuleben.

Und wenn doch?

Dann gab es für den falschen Jossa nur noch eine Chance: den richtigen verschwinden zu lassen.

Jossa fuhr herum, stellte sich mit dem Rücken ans Brückengeländer, musterte jeden Passanten in seiner Nähe mit ängstlich-prüfenden Blicken.

Wo würde Mugalle ihn erwarten, ihm auflauern?

War Mugalles Killer schon in Bramme?

Gott: Vielleicht hatte Nobby in Bremen nicht aus eigenem Antrieb auf ihn und Eva geschossen, sondern im Auftrag Mugalles?

Wahrscheinlich, so überlegte er weiter, war Mugalle als Jossa inzwischen wieder so weit nach oben geklettert, herrschte über millionenschwere Banken und Konzerne, daß er, um seine Existenz zu retten, gar nicht anders konnte, als den Menschen auszuschalten, der jetzt Mugalle war und ihm alles wieder nehmen konnte, wenn er nur ein wenig Fortune hatte, bei den Leuten Glauben fand, denen er seine Story erzählte.

Dieser Jossa muß verschwinden, hört ihr!

Jossa sah sich um, und das schräg gegenüberliegende Gebäude der HÖV erschien ihm als die bestgeeignete Stätte, mit seiner Panik klarzukommen, denn wo immer Mugalle auch zuschlagen würde, ganz sicher nicht in dieser Fabrikationsstätte für staatstragenden Beamtennachwuchs, Hochschule für öffentliche Verwaltung genannt; und außerdem, zwei Fliegen… konnte er dort drüben auch gleich einmal versuchen, Prof. Lachmund zu sprechen. Viele Trümpfe hatte er nicht, und vielleicht war es gut, gleich den ersten auf den Tisch zu werfen und auf den Stich zu hoffen.

Er überquerte die Brammermoorer Heerstraße und betrat die Eingangshalle, umspült von beglückt heimwärts strebenden Studenten, kämpfte sich zur Pförtnerloge vor, fand sie aber von keinem der Auskunftsassistenten besetzt, mußte sich erst durchfragen, kam an jenem Hörsaal vorbei, wo ihm damals Gardys Stimme aufgefallen war, erreichte schließlich Lachmunds Zimmer, zögerte sekundenlang und klopfte dann.

Jetzt mußte sich alles entscheiden.

Nichts entschied sich aber, denn der Herr Professor war, wie ihm ein käsiger Tutor erklärte, gerade zu einer Exkursion nach Brüssel gestartet, den Studenten EG-liches zu zeigen, käme bestenfalls Ende nächster Woche nach Bramme zurück.

«Danke», sagte Jossa und war in einem Maße enttäuscht, daß ihm die Kraft zum Weitergehen fehlte. Er schaffte es eben noch bis in die Cafeteria, besorgte sich schnell Whisky und Kaffee, um wieder auf Touren zu kommen.

Mugalle… Wo würde er zuschlagen, wann und wie?

Verfolgungswahn… Die Kugel im Kopf… Die Narbe… Du hast ja nicht mehr alle…!

Jossa drehte sich fast im Kreis herum, ließ die Beine seines ohnehin fragilen Stuhls gefährlich knicken. Brauchte einen Begleiter. Zu zweit war man viel sicherer. Aber wen? Wo konnte er hier einen finden, der den Tag an seiner Seite verbrachte? Einen, eine. Irgendwo gab es Stellen, die Geschäftsleuten Damen vermittelten, nicht fürs Bett, sondern für Theaterbesuche, Bälle und dergleichen, ganz seriös. Aber sicher nicht in Bramme hier. Und unseriöse Damen oder Herren? Sollte er zum Bahnhof gehen, sich was suchen? Psychische Leibwächter, wenn man wollte?

Quatsch, alles Quatsch; siehe Nobby, der ja auch im Beisein eines anderen Menschen…

Da mußt du schon allein durch!

Er verließ die HÖV, überquerte nun den Fluß, bog links am Ufer ab, um über eine kleine Parkanlage zur Fährgasse zu kommen.

«Hallo…!»

Eine junge Frau… Gott, das war doch das dicke durchgeistigte Mädchen, das ihn damals immer bedrängt hatte, ihre literarischen Versuche durchzugehen. Die war sicher sensibel genug, ihn zu verstehen und… Er griff nach ihr.

Mit einem leisen Aufschrei stürzte sie davon, so als wäre er ein Sittenstrolch, hätte er sie ins Gebüsch zerren wollen.

Die Narbe, Mensch!

Schlimm mußte er aussehen.

Er lief ihr dennoch hinterher, wollte etwas rufen, wußte aber nicht mal ihren Namen.

Lachmund nicht da – 0:1. Die junge Dichterin in Panik geflohen – 0:2.

Laß es!

Er erinnerte sich an ein gewesenes Spiel der Eintracht aus Frankfurt, bei dem es ihr gelungen war, einen 0:3-Rückstand noch in einen 4:3-Triumph zu verwandeln.

Fährgasse Ecke Packhofstraße, sein altes Domizil.

Mit einem Flimmern vor den Augen, Schlieren zogen vorbei, als hätte er zu lange zum sonnenhellen Himmel hochgeschaut, unsicher blinzelnd beugte er sich zu den sauber aufgereihten Mieternamen hinunter, neben jedem Klingelknopf ein Plastikschildchen, weiß in grün gestanzt, wußte noch genau, wo sein J.-O. Jossa mal gestanden hatte.

Menkens, Thor, Piorkowski, Fischer, Tiefensee, Viehrig, Brocki, Schattan, Quade, Ratzlaff, Ukena, Drews, Grischow, Wulfken, Schönfisch…

…und da: JOSSA…!

Nein: Tröltsch stand da, Dr. Tröltsch.

0:3.

Es wäre ja auch höchst unlogisch gewesen, dußlig von Mugalle, hier auszuharren, bis der echte Jossa wiederkam.

Er war ebenso erleichtert wie enttäuscht. Zwar konnte er Mugalle damit im ersten Zugriff nicht fassen, andererseits aber war das Maß seiner Bedrohung nun doch nicht so groß wie eben noch befürchtet.

Hatte er Mugalle vorhin auf der Brücke noch als einen Mann gesehen, der mit gezücktem Revolver auf ihn zustürzen wollte, so erlebte er ihn nun als eine ungewiß-diffuse Drohung, einem strahlenden Reaktor gleich.

Jossa machte sich auf, zum Marktplatz zu gehen und sein Glück an einer Stelle zu versuchen, wo die Chancen sicher besser standen: beim Brammer Tageblatt. Ganz fest war ja trotz der früheren Enttäuschung mit Heike Hunholz zu rechnen. Damals am Telefon, nun ja, der Tod ihrer Mutter, aber jetzt von face to face, da mußte es ganz anders laufen.

Er bog in die Knochenhauergasse ein, kam am Luperti-Stift vorbei, dann auch an der «Stadtwaage», jenem Hotel, in dem er die ersten Nächte in Bramme zugebracht hatte, damals, schließlich noch dem Bankhaus Buth, wo er sein Konto…

Er? Immer wieder mußte er sich klarmachen, daß er im Augen blick für alle Welt Mugalle war, Martin Mugalle, daß er in Sekunden die Polizei und x Behörden hinter sich und am Hals hatte, wenn er jetzt den Schalterraum betrat und vom Jossa-Konto Geld abheben wollte.

Die Polizei… Wenn man an den Teufel dachte… Gerade sah er Catzoa am m.a.v. vorbeischlendern, wohl noch immer dabei, im Bistro drüben Terroristen zu wittern.

Jossa hatte wenig Lust, von Catzoa prüfend angeschaut zu werden und verschwand lieber in der Zoohandlung, deren Hamstern er eben zugeschaut hatte, fragte nach einem «Shimbumki oder so», einem Fisch, den seine Freundin sich wünsche («Sieben Mark»), dankte und trat wieder auf die Straße hinaus.

Catzoa war inzwischen Richtung Wall verschwunden, und Jossa schaffte die restlichen hundertfünfzig Meter zum Markt, ohne irgendwie beachtet zu werden.

Da stand er dann am Harm-Clüver-Brunnen und kühlte sich die Hände, hatte sich diese quasi rituelle Handlung hundertfach in seiner Zelle ausgemalt, vollzog sie jetzt im Trancezustand, hatte sein Bewußtsein derart abgesenkt, daß er sich am liebsten auf die nächste freie Bank gelegt, wohlig hingestreckt hätte, tat das auch, als er sie erreicht hatte, wenn auch nicht in seiner ganzen Länge, sondern nur halb sitzend und halb liegend.

Herrlich, wie die Sonne auf die Haut brannte, wie an der See, im Strandkorb, in den Dünen.

Er duselte ein, wurde nicht gestört, sah ja auch im Maßanzug, schwarz mit weißen Nadelstreifen, in seinen teueren Schuhen, wahrlich nicht nach Penner aus, brauchte nicht verjagt zu werden, durfte es nicht mal, denn höchstwahrscheinlich, sagten sich die Leute, dachten sich die KOBs, die Brammer Gendarmen, war das ein Banker, der ihnen allen Arbeitsplätze brachte und nur mal eben in der Hitze; zuviel Champagner eben…

Als die Straßenbahn hinten an der Großen Tränke in den engen Kurven kreischte, schreckte er hoch, brauchte er Sekunden, sich wieder zu besinnen.

Bramme, Marktplatz, nicht JVA, Zelle eins-zwei-vier.

Er gab sich einen Ruck, stand auf, reckte sich und brachte seine Kleidung mit ein paar Griffen in eine wieder vorzeigbare Ordnung, steuerte dem Brammer Tageblatt entgegen.

Hier bin ich, Jens-Otto Jossa, und wenn ihr schön lieb zu mir seid, kriegt ihr meine Story exklusiv.

Auf Heike Hunholz war nicht lange zu warten; sie kam gerade aus der Tür («Schicksalsmelodie…!», so sein Gedanke) und hielt auf ihn zu, schien nichts anderes zu wollen, als ihn herzlich willkommen zu heißen, ihn kollegial, vielleicht auch zärtlich in die Arme zu nehmen. Schön, Jojo, daß du wieder unter uns bist…!

Jossa blieb stehen, schickte ihr sein strahlendstes Lächeln entgegen. Doch sie machte einen weiten Bogen, als sie ihn sah, wollte nicht belästigt werden, guckte so, als würde sie «Ach, Gott, du armer Irrer!» denken.

Jossa sah ihr hinterher, von einer Wahnsinnswut gepackt, wollte sie archaisch bestrafen für ihre Ignoranz und ihre Arroganz, blieb aber, selbstverständlich, wie angewurzelt stehen, versteinert, hatte Angst vor der Gewalt, die dann auch selber über ihn hereinbrechen würde.

Sicher, sagte er sich, ich seh ganz anders aus als damals: Die Haare viel länger, um die Narbe halbwegs zu verdecken, die Narbe, dieses fürchterliche Loch, dann selber, keine Lederweste mehr, dafür den Prokuristenlook; vom Outfit her bestimmt kein Jossa.

Aber warum hatte sie ihn nicht als Mugalle erkannt und angesprochen?

War denn sicher, daß die den gekannt haben mußte? Nein.

Aber, die andere Schiene ließ ihm keine Ruhe, Mugalle mußte sich doch als Jossa damals beim Brammer Tageblatt, bei ihr gemeldet haben, sonst wäre der Knastartikel ja niemals erschienen. Und jetzt eben hatte sie nicht einmal den Ansatz einer Reaktion gezeigt… Mit Absicht, oder konnte es diesen falschen Jossa rein logisch nicht mehr geben, in Bramme und/oder anderswo?

Fragen über Fragen, und das Spiel schien rettungslos verloren; Heike Hunholz war das 0:4.

Aufgeben, einfach als Mugalle weiterleben!

Nein, und abermals nein! Nicht mit dessen Fluch, nicht mit der Angst, wegen dieser mysteriösen Millionen auch noch von anderen Gangstern niedergeschossen zu werden. Und die Kripo, die war doch sicher auch schon hinter ihm her, wie die Agenten der Versicherung, alle wollten sie dabei sein, wenn er endlich das Versteck…

Catzoa! Schon wieder! Strich da am Restaurant Zum Wespennest entlang. Wahrscheinlich schon dabei, ihn auf Schritt und Tritt zu observieren. Verschwand in Richtung Wall. Zufall, Absicht oder was…?

Gib auf, laß alles sein!

Jossa fühlte, wie sich die nächste Depression unaufhaltsam in seine Seele hineinzufressen begann, sah es förmlich vor sich: ein kleiner Schuß schwarzer Tinte in einem großen Wassereimer, wie er sich da schleichend und in sanften Schlieren immer weiter und in alle Richtungen voranarbeitete, bis sich schließlich alles dunkel-düster verfärbt hatte. Wo war die Kraft, dagegen anzukämpfen. Er besaß sie nicht mehr, ging mit schleppenden Schritten in die Knochenhauergasse zurück, konnte ja mal, fiel ihm ein, bei diesem Dr.

Tröltsch vorbeischauen und klingeln, dem Mann, der jetzt sein altes Apartment bewohnt. Oder sich da vor der Tür zum Schlafen niederlegen, bis er kam. Sollte der sehen, was mit ihm zu machen war. Vielleicht war das einer, ein Psychologe oder Rechtsanwalt, der an seinem Fall Gefallen fand und für ihn focht. Es mußte doch, verdammt noch mal, in dieser beschissenen Welt mit ihren sieben Milliarden oder was Menschen einen geben, mit dem sich in seiner Sache reden ließ, der nicht sofort die Flucht ergriff, wenn er ihn, Jossa, sah, oder von dem er befürchten mußte, daß er ihn sofort als Hochstapler oder Geisteskranken hinter Gitter brachte!

Dr. Tröltsch, warum denn nicht? Klang gemütlich, der Name, nach Tratschen und Trösten. Also ging er wieder zur Fährgasse hin und fuhr mit dem Lift zu seinem alten Apartment hinauf, rückte seinen Anzug und seine Krawatte zurecht, hüstelte allen Schleim aus den Lungen, den Kloß aus dem Hals und klingelte dann.

Leise Stimmen drinnen, geflüsterte Worte wie «Pst! Geh doch gar nicht an die Tür…!» Offensichtlich eine Frau. Dann doch Geräusche, etwas fiel zu Boden, ein Schirm womöglich oder eine Bürste, ein Bügel. Schritte.

Jossa wich unwillkürlich einen Meter nach hinten zurück und nahm korrekte Haltung an.

Die Tür, seine Tür, wurde auch einen Spalt weit aufgezogen, und ein Mann erschien, lang und dürr im roten Boxerbademantel, hatte schütter-schwarzes Kräuselhaar und einen Gänsekopf mit Brille, war offensichtlich Physiker, sah aus wie damals Jossas Lehrer im Gymnasium, fragte mürrisch: «Bitte…?»

«Ich bin ein alter Klassenkamerad von…» Mir! «… von Jens-Otto, von Herrn Jossa…» Klar, daß er bei der vorangegangenen Assoziation Lehrer und Schule nun diesen Eröffnungszug wählte. «… und hätte gerne mal gewußt, wo er denn abgeblieben ist…?»

«Weiß ich nicht, ich wohn erst seit ‘ner Woche hier.»

«Laß dich nicht wieder ausfragen!» kam aus dem Apartmentinnern eine nicht gerade damenhafte Frauenstimme, offensichtlich aus dem Bett.

«Es ist dringend!» sagte Jossa.

«Ich weiß nur, daß Ihr Klassenkamerad Jossa seine Braut hier vom Balkon runtergestürzt haben soll, und da sie auf der Stelle tot war, ist er dann geflüchtet. Weiter weiß ich nichts. Ich bin auch drei Jahre lang in Ghana gewesen. Müssen Sie mal zur Polizei gehen, zur Meldestelle…! Dann entschuldigen Sie uns bitte…»

Die Tür fiel wieder ins Schloß, und Jossa schrie auf vor Schmerzen, wie einen epileptischen Anfall packte es ihn, brach wie ein Gewittersturm los in seinem malträtierten Gehirn. Ungesteuert-wilde Prozesse erschütterten alles, was vernarbt und neu gewachsen war an Neuronenbahnen und Synapsen. Er mußte sich setzen, sank auf die Stufen, verfiel in einen Zustand von wohliger Starre, kam sich vor, als erwachte er gerade aus einer langen Narkose, zitterte aber vom Kopf bis zu den Füßen, und seine Gedanken jagten sich in dieser Zeit überschnell und überwach. Gleichzeitig sprach er mit und zu sich selber, als wollte er den Speicherzellen im Gehirn die neuen Informationen über die Umwege Mund und Gehör besonders verläßlich eingeben. «Mugalle hat Anja in die Tiefe gestürzt! Anja ist tot! Mugalle ist geflüchtet! Mugalle gilt als Mörder!»

Es war ein langer und von krampfartigen Schmerzen erfüllter Prozeß, bis er das alles nicht nur registriert, sondern auch verstanden hatte. Kein Wunder, daß er Anja in keinem Telefonbuch hatte finden können…

Er lief auf die Straße hinunter, setzte sich ans Ufer des Flusses, brauchte Zeit und nochmals Zeit, seine Gedanken wieder zu ordnen.

Anja tot, auch hier kein neuer Anfang möglich. Er weinte um sie; oder doch einzig um sich, um ein verlorenes Leben? Sah sie auf dem Bildschirm singen, spielen, tanzen; hatte sie ja letztens nur noch elektronisch-synthetisch erlebt. Doch er brauchte nur die Augen zu schließen, schon spürte er sie wieder körperwarm, fuhr mit seinen Fingerkuppen ihren Nacken hoch, küßte ihren kupferbraunen Hals, schmeckte Sandelholz und Zimt.

Anja. Abhaken.

Und Mugalle als Jossa auf der Flucht. Viele Wochen waren ja vergangen, wo mochte er geblieben sein? Welch Ironie, welch Pech, daß Anja – warum nur? – doch noch mal nach Bramme hochgekommen war. Hellwach, wie immer, mußte sie ihn alsbald durchschaut und dann irgendwie in Panik versetzt haben. Jedenfalls: Sie zerschmettert unten auf der Straße, er verwirrt im Apartment oben. Und alles konnte er, Mugalle, von jetzt ab noch sein, nur Jossa nicht, denn der wurde ja nun mit Sicherheit wegen Totschlag, wegen Mordes gesucht. Also fliehen, untertauchen, einen dritten Namen suchen.

Nicht undenkbar, daß er nun nach Bramme kam, um wieder Mugalle zu werden, denn der war ja nun ein freier Mann und stand nicht unter Mordverdacht.

Jossa stand wieder auf und schlenderte zur Altstadt hinauf. So unsinnig waren seine Ängste also gar nicht gewesen…

Was würde denn passieren, fragte er sich, als er erneut in der Fährgasse war, wenn ich nun zur Kripo ginge und zu Catzoa sagte: «Hallo, hier bin ich: Jens-Otto Jossa, Anjas Mörder, und nun verhaftet mich mal!»

Nein, um Gottes willen nicht! Dann war er zwar womöglich wieder akzeptiert als Jossa, hatte dafür aber ein übles Verfahren am Hals, und neue Leidensjahre in der Brammer Haftanstalt erwarteten ihn.

Er schlug sich mit den Fäusten gegen beide Schläfen, bis die Leute stehenblieben, wollte alles Weiterdenken unterbinden: «Aufhören!» Fing sich aber wieder, indem er, wie in der Klinik gelernt, die formelhaften Wendungen des Autogenen Trainings vor sich hinsprach: «Ich bin ruhig, sicher, fest und frei! Ich bin ruhig, sicher, fest und frei!» Zeit gewinnen, in Ruhe über alles nachdenken, eine Auszeit nehmen, sich zur Hängepartie vertagen und alle Möglichkeiten, alle möglichen Züge noch einmal sorgfältig durchspielen, die einzelnen Wahrscheinlichkeiten kühl gegeneinander abwägen. Sich bis dahin nur noch treiben lassen.

Jossa kam zur Kirchgasse und fand an ihrem Ende den Eingang zum Alten oder Matthäi-Friedhof, vom Wasserturm, denkmalsgeschützt inzwischen, weithin kenntlich gemacht.

Da oben hatte vor Jahren einmal, kam ihm wieder in den Sinn, der Brammer Robin Hood gestanden, der junge Benno Drobsch, und den anrückenden Polizisten und andern Terroristenjägern gedroht, sich in den Tod zu stürzen.

Selbstmord…

Friedhof…

Ohne daß er es recht eigentlich wollte, zog es ihn in die kopfsteingepflasterte Gasse hinein, lief er an der Matthäi-Kirche vorbei auf das Tor am Friedhofseingang zu, las die neue Inschrift, Künstlernothilfe wohl, golden, in geschmiedetes Eisen geflochten: Hier ist Ruhe. Gönnet sie den Müden.

Das sprach ihn an, er ging hinein.

Wieder Journalist geworden, formulierte er sogleich für sich: Jossas Ende – Auf dem Brammer Friedhof Selbstmord begangen. Die Odyssee des Mannes, der Mugalle sein mußte, hat heute nachmittag in Bramme ihr tragisches Ende gefunden.

Mann, hör auf!

Er hatte Mühe, die Stimmen, die in ihm waren, wieder auszuschalten.

Da gehst du nun dahin, Jens-Otto Jossa, wie zu deiner eigenen Beerdigung…

«Schluß jetzt!» schrie er, und die alten Damen, die die Gräber ihrer Lieben pflegten, fuhren, im Dialog mit ihnen gestört, heftigwütend herum, tippten sich, zumindest in Gedanken, mit dem Finger an die Stirn.

Er wollte neben Eva in der Erde liegen, in Bremen, auf dem Osterholzer Friedhof dort, und er setzte sich auf die nächstbeste freie Bank, um das in seinem Abschiedsbrief ganz dick zu unterstreichen.

Die Batterie ist leer, begann er, ich habe nicht die Kraft, das alles durchzustehen, wieder der zu werden, der ich bin: Jossa eben. Nicht ich bin der Irre, schrieb er weiter, benutzte einen Rand des Brammer Tageblatts als Bogen, die Welt ist irre, die die Menschen aus ihren Lebensbahnen schleudert und sie als Trümmer im toten Weltraum treiben läßt. Alle sind wie Schizophrene, unglücklich in und mit uns, aber noch unglücklicher, wenn wir uns verlassen müssen, freischwebend dahinvegetieren, unfähig dazu, in anderen Schneckenhäusern ein neues Leben zu beginnen und dem Verfalle preisgegeben, wenn es uns verwehrt ist, in die eigene, mal verlassene Hülle später wieder zurückzuschlüpfen, in ihr von neuem zu wohnen. Mein Schneckenhaus, meine Hülle ist verschwunden, ich sitze nackt und schutzlos hier, kann nicht Mugalle, darf nicht Jossa sein, bin damit ein Nichts, schlimmer dran als Kasper Hauser.

Jossa hielt inne, dachte daran, was sein Redakteur wohl sagen würde, bekäme er diese Zeilen zu sehen.

«Wir sollten unseren Lesern eher was geben, woran sie sich aufrichten können…»

Immer wieder müssen sie bellen, diese impotenten Intellellen!

Originalton Anja, wenn er ihr damals in Hannover seine Klagelieder vorgetragen, seine Kritiker verflucht hatte.

Er sah zum Kirchturm hinauf, das Kreuz in der langsam sinkenden Sonne im warmen Goldton blinken und hoffte, daß sie vielleicht doch noch recht hatten mit ihrem Christenglauben, daß es ihre Auferstehung irgendwie gab, er Eva, in welcher Form auch immer, wiedertraf, wenn er sich jetzt, er sah sich schon hinaufklettern, vom Wasserturm, der Brüstung oben in die Tiefe stürzte.

Alles hat sich gegen mich verschworen, schrieb er weiter, was soll ich da noch machen?

Schrieb es und sah auf, weil seine Augen böse brannten, wollte, um dem abzuhelfen, einen Punkt in der Ferne fixieren, den Fernsehsender auf dem Reiherberg vielleicht.

Da fiel sein Blick auf eins der reichlich ungepflegten Gräber am runden Wasserbecken drüben, auf einen kleinen schwarzen Stein und fünf handtellergroße, mit reichlich Gold gefüllte Lettern:

 

J O S S A

 

Er ließ seinen Abschiedsbrief fallen, stürzte hin, stand stumm und staunend da, begriff alles und nichts.

Ja, Jens-Otto Jossa, ja, sein Geburtsdatum, absolut korrekt, ja, hier lag er begraben.

Was hieß das, das hieß…

… Mugalle also tot, Mugalle hier auf dem Brammer Friedhof zur letzten Ruhe gebettet!

Er hörte es wie in einer aufgeregten Reportage.

Keiner mehr da, alles authentisch zu klären, ein Geständnis abzulegen, ihm zur Rückkehr zu verhelfen.

Er brauchte keinen mehr zu jagen.

Der richtige Mugalle… tot. Als Jossa hier im Sarg… Die Wahrheit, unfaßbar. War zehn-, zwanzigmal zu wiederholen, mit Rosenkranzmonotonie herunterzubeten, ehe er sie glauben konnte.

Das war das Urteil für ihn.

Acht, neun, AUS!

Das Licht verblaßte, die Sonne hatte nur noch Mondscheinkraft, und wie ein Nachtwandler ging, schwebte, glitt er zum Nachbargrab hinüber, nahm einen Rosenstrauß hoch, viele dunkelrote Baccara, und legte ihn hinüber, neben den Stein, der seinen, den Namen Jossa trug.

Ein älterer, langmähnig-grauer Mann kam auf ihn zu, deutlich Brammer Boheme.

«Ist Ihnen schlecht geworden, kann ich Ihnen vielleicht…? Was machen Sie denn da?»

«Ich lege Rosen auf mein Grab.»

Jetzt erkannte er den anderen. Das war doch Truper, Rudolf C. Truper, Brammes Dichterfürst. Die Lesung damals im Knast. Jossa begrüßte ihn und sagte ihm das.

Truper hatte ein fast geniales Gedächtnis für Gesichter, für Namen und reagierte sofort. «Gott ja, der Mugalle, aus’m Knast! Die alte NordInvest-Geschichte…»

«Ich bin nicht Mugalle, ich bin der Jossa, der jetzt hier…» Er zeigte auf das Grab.

Auch Truper, trotz aller Intelligenz und so sensibel er war, brachte nichts weiter hervor als den landesüblichen Blick: Ach, du armer Irrer!

«Sie sind also der Jossa und hier begraben…?»

«Kommen Sie, wir gehen schnell ins m.a.v. hinüber und dann erzähl ich Ihnen alles…»

«Na schön…» Truper war das seinem Ruf schuldig, daß er mitging, das berühmte offene Ohr für alle zu haben, die da ausgestoßen und verachtet waren.

Zwei Stunden saßen sie dann im kleinen Bistro vorne am Mönchsgang, ohne daß es Jens-Otto Jossa so recht gelingen wollte, den andern ganz zu überzeugen, für sich und seine Sache einzunehmen.

«Nun gut», schloß Truper schließlich, «wir müssen da sicher was machen, doch ich muß ja leider morgen nach Spanien, ‘ne Lesereise für Goethe, fürs Goethe-Institut, Sie wissen ja.»

« Sicher, aber wenn Sie dennoch bitte…!»

«Sehr vieles wäre erst noch nachzuprüfen, eh ich mich entscheiden könnte, was ich für die Wahrheit halte…» Truper neigte mitunter dazu, seine Sätze sprachrhythmisch auszufeilen.

«Aber die Fakten, die…!»

«… sind kümmerlich, sind wenig mehr als Orientierungspunkte in einer mondgroßen Wüste, denn wie wenig wissen wir doch, ich liste nochmals auf: Es findet sich ein toter Mann hier nahebei auf einer Autobahn, und dessen Papiere lauten auf Jossa, Jens-Otto Jossa, und unsere Heike Hunholz, wacker und unbestechlich in allem, identifiziert ihn prompt als solchen, sorgt meines Wissens auch dafür, daß er hier in Bramme auf den Friedhof kommt, muß ihn irgendwie mehr als nur gemocht haben, wer weiß? Und dieses liebend Weib nun soll sich, frage ich Sie, dabei so sehr geirrt haben?»

«Es war Mugalle, Mugalle mit all seinem Geld!» Jossa, der eben noch so schlaff über ihrem Tisch gehangen hatte, schnellte plötzlich hoch. «Wie soll denn ein armer Schlucker wie Jossa zu so viel Geld gekommen sein!?»

«Das hat man sich damals tatsächlich lange gefragt, zugegeben, ja… Geheimdienste, Waffenschiebereien, Rauschgift – in diese Richtung ging es da.» Truper dachte nach. «Wie sagen meine gelehrten Germanistenfreunde immer: Further research ist needed. Ich hab da ‘n Freund in Berlin sitzen, der Spezialist für solche Sachen ist; dem können wir Ihr Material ja alles mal rüberschicken. Der -ky, hier die Adresse…»