Lieber Rudolf C. Truper, schnell zehn Zeilen von Berlin nach Bramme. Gott, was Sie mir da an authentischem Material zum Fall J. angesammelt und zugeschickt haben, ist ja wirklich, wie schon das schnelle Durchblättern zeigt, mysteriös hoch drei und ein Alptraum durch und durch. Wenn ich alles gelesen und auf seine Brauchbarkeit hin abgecheckt habe, werde ich sehen, ob sich daraus ein Rowohlt-thriller basteln läßt. Gleichzeitig habe ich meinen alten Journalisten-Freund Carsten Corzelius gebeten, in Bramme zu recherchieren und sich insbesondere um unsere zweite Hauptperson zu kümmern. Ich rechne schon in den nächsten Tagen mit seiner Version, sofern er nicht von seinen Umzugsvorbereitungen zu sehr beansprucht wird, und will mich dann alsbald wieder bei Ihnen melden. Bis dahin herzlichst Ihr -ky.

P. S. Den Namen meines Protagonisten habe ich immerhin schon. Ihr J. wird Jossa bei mir heißen, Jens-Otto Jossa.

 

 

«… haben wir die Leichenteile im Fanggitter des Wehres Bramme-Nord gefunden. Im einzelnen sind das ein skelettierter Schädel, zwei Beckenhälften, zwei Oberschenkelknochen und verschiedene Wirbelkörper. Überall noch reichlich Gewebe vorhanden. Der Oberkiefer war aber völlig zahnlos…»

Jossa hörte Thomas Catzoa gern dozieren; der Mann war souverän und witzig und für einen Kripomenschen in so hohem Maße intellektuell, daß er wohl kaum eingestellt worden wäre, wenn er dies nicht eingebettet hätte in eine glatte Macho-Art, in Sprache und Gestus stark an einen hohen Wehrmachtsoffizier erinnerte.

«Wasserliegezeit wie Todeszeit sind leider nicht genau bestimmbar», fuhr Catzoa fort, «doch gewisse Anzeichen, Fettwachs zum Beispiel, sprechen für eine Aufenthaltszeit im Wasser von zwei bis drei Wochen. Soweit, meine Damen und Herren, das Aktuellste aus meinem Arbeitsgebiet. Nun aber zu den landesrechtlichen Regelungen im Hinblick auf das Friedhofs-, Leichen- und Bestattungswesen sowie die bundesweit geltenden Gesetze…»

Jossa überlegte. Sollte der dem Brammer Tageblatt eine neue Serie vorschlagen? Etwa so: Dozenten an der HÖV – Begegnungen auf Gängen, Hörsaalbänken und Toiletten. Brammes erste Hochschule auf dem Weg nach oben.

Lachmund kam den Flur entlang, ihr prominentester Professor, wieder einmal mit einer bettschönen Studentin im Schleppe allen Lästermäulern trotzend; siehe Kletten-Affäre.

Man begrüßte sich leise, wollte Catzoa nicht stören, der im Hörsaal 14 drinnen seinen Kurs «Bearbeitung von Todesermittlungsverfahren» eben noch zu Ende brachte und der schwülen Hitze wegen die Flügeltüren weit geöffnet hatte; er scheute keinen Lauschen Lachmund entglitt mit seiner Begleiterin in Richtung Mensa oder Büro, Catzoa kam zum drögeren Teil seines Stoffes, dem §159 der Strafprozeßordnung als der wesentlichen Rechtsgrundlage für die Durchführung von Todesermittlungsverfahren, und Jens-Otto Jossa machte sich daran, seinen Bericht über den letzten kleineren Skandal an der HÖV Bramme, Grund seines Hierseins, gedanklich schon einmal in Worte zu fassen. Studenten des Fachbereichs 1 hatten einem ihrer Psychologen eine tote Ratte in den Hörsaal gelegt, nachdem der sie mit diesbezüglichen Skinnerschen Experimenten über Gebühr lange gequält und in einer Klausur auch noch wahnsinnsschlecht bewertet hatte.

Tote Ratte auf dem Overhead-Projektor

«Wozu brauchen wir soviel Züchologie?» schrieben junge Beamte der Hochschule für Verwaltung an die Tafel eines Hörsaals und legten Prof. Barich aus Protest einen eigenhändig in der Mensa ihrer HÖV erlegten Nager auf das Gerät, auf dem dieser ansonsten immer seine Folien mit den berühmten Ratten-Experimenten von B. F. Skinner ausgebreitet hatte. «Wie uns Prof. Hirsch-Lampert, der Präsident der HÖV, dazu sagte…»

Weiter kam Jens-Otto Jossa nicht, denn Catzoa, lediglich als Lehrbeauftrager hier, war nun fertig und strebte ins Büro zurück, reagierte wenig erfreut, als er sich jetzt aufgehalten fand.

«Was denn…!?» Ein kleiner Scherz in alter Casino-Manier. «Ein Lokalreporter nicht in selbigem, sondern in der Hochschule hier…?»

«Ich bin eigentlich wegen dieser Zücho-Ratte hier, Sie wissen ja, und hab Sie nur zufällig im Hörsaal entdeckt…» Jossa vermied es, Catzoa zu reizen; das war ein Mann, den er sich warmzuhalten hatte, wollte er in diesem Bramme jemals reüssieren, Fuß fassen, heimisch werden. «Ich wollte bloß mal fragen, ob Sie in der Sache mit dem Heckenschützen und der Band schon was rausgefunden haben?»

«Nein, tut mir leid. Aber sagen Sie dem Großen Manitou doch bitte mal, wenn Sie ihn irgendwo erreichen können, daß ich mir unbedingt die Fan-Post der letzten Wochen ansehen möchte, was da so an… Mir das zuschicken also…!»

«Okay, ja!»

Was war passiert? Jossa hatte einen alten Freund, Ende Dreißig wie er, der als Rocksänger groß rauskommen wollte, sich der Große Manitou nannte und seine Musiker als Indianer verkleidet auftreten ließ. An der Biegung des Flusses war der Name der Gruppe, und kurz nach ihrem Auftritt in der Brammer Bürgermeister-Büssenschütt-Halle war ihr Schlagzeuger auf dem Parkplatz draußen durch einen Schuß aus einem Kleinkalibergewehr schwer verletzt worden.

Catzoa referierte noch kurz ein paar inzwischen festgestellte Daten, dann eilte er zu seinem Wagen hinaus.

Jossa hätte ihm gleich folgen sollen, weg von ihr, nur nicht der Versuchung erliegen, die Tür zum großen Hörsaal zu öffnen, doch eine ungeahnt starke Kraft zog ihn dorthin, überwand allen Widerstand. War es Neugierde, war es seine Lust am Provozieren, Neid nur oder auch die Hoffnung, mehr aus dem Leben zu machen, in höchste Höhen mitgerissen zu werden, in Bonn umschwärmter Pressesprecher zu werden? An der Seite jener Frau, die da gerade auf Einladung der Harm-Clüver-Gesellschaft einen Vortrag hielt, Frau Kultusminister Dr. Edelgard Klein, über «Wertewandel und neues Heimatgefühl».

Jossa stieg zur Aula hinauf und preßte ein Ohr gegen die braun gebeizte Tür, hörte Gardys faszinierende Stimme, diese einmalige Mischung von Moderatorinnenkühle und naiv-sinnlichem Callgirl-Hauchen «Komm, ich will dich verwöhnen…!»

«… Der Mensch wird», so hörte er, «zweimal geboren: einmal biologisch und zum zweiten sozio-kulturell. Und diese zweite, die sozio-kulturelle Geburt ist nicht möglich ohne ein Dorf, eine Stadt, einen Ort, wo man sich heimisch fühlen kann, Heimat eben, wo man seine Wurzeln hat…»

Sollte er die Tür aufreißen? Oder nicht? Würde sie ihm zulächeln, oder würde sie mit einem Schwächeanfall abbrechen müssen?

Schon hielt er die Klinke gepackt.

Nein, nicht!

Er riß sich los, strebte zum Ausgang…

… und kam Sekunden später wieder zurück, lauschte erneut.

«Wenn die psychoanalytischen Forschungen bei gestörten Familienverhältnissen und schlechten Heimen von einer maternal deprivation sprechen, den schlimmen Folgen von Mutterentbehrung bei Kindern, so sehe ich dies, das heißt, fehlende menschliche Wärme, hohe Aggressivität und drohende Verwahrlosung und Kriminalität, auch als Ergebnis von Heimatentbehrung. Doch Sie hier, meine verehrten Zuhörer, Sie hier in Bramme, Sie können sich glücklich schätzen, eine so vergleichsweise intakte Welt vorzufinden…»

Da drückte Jossa die Klinke nach unten, zog die Tür mit einem Ruck nach außen, zeigte sich.

Die Rednerin stutzte, als sie ihn erblickte, zuckte zusammen, kam nicht mehr weiter, starrte ihn an, griff zum Sprudelglas, mußte sich setzen.

Hilfsbereite Hörer sprangen aufs Podium hinauf, und hundertsiebzig, hundertachtzig Gäste im Saal fuhren in Richtung Jossa herum, so daß er, nun seinerseits furchtbar erschrocken, die Tür nur noch zuknallen konnte, ohne Zögern ins Freie stürzte.

Erst im Wagen draußen kam er wieder zu sich, fuhr mit viel zu hoher Geschwindigkeit in die Fährgasse nach Hause, mußte aus seinem Apartment noch die Unterlagen für den nächsten Interviewtermin holen, wollte auch schnell duschen und versuchen, Manitou ans Telefon zu kriegen, ehe der im Laster saß, um zur Tournee nach Bayern aufzubrechen.

Es klappte, und Jossa konnte den Freund gerade eben noch im Berliner «Metropol» erwischen, wo er die Nummer «Geronimo» probte, den aggressiv-traurigen Song, voll im Trend und hitverdächtig, vom Apachen-Häuptling, der keine Chance mehr hatte und dennoch kämpfen wollte.

«Hallo, Manni, Jens-O. hier! Ich rufe wegen Barry an…» Das war der Schlagzeuger, den sie in Bramme in den Kopf geschossen hatten.

Doch Manitou hörte gar nicht hin, sang nur mit schleppender Stimme. «Ich seh euch Weiße und denke: Alles Scheiße!»

«Mann, du wolltest doch endlich runter vom Koks!»

«Aber, Mutter, der Mann mit dem Koks ist da…!» tönte es weiter. «Und außerdem bin ich nichts weiter als besoffen, du Arsch! Was is ‘n eigentlich?»

«Wegen Barry, Mann!» schrie Jossa. «Ihr sollt mal die Fan-Post herschicken, ob da nicht ‘n Irrer bei ist, der euch schon lange aufm Kieker hatte.»

«Mich!» schnaufte Manitou, hörbar angstneurotisch. «Mich wollte der doch abknallen, mich, und hat dann meinen lieben Barry erwischt!» Jetzt schluchzte er. «Ein versoffener Weißer, der uns unser Land abnehmen will.»

«Schick mir alles her, was ihr habt.»

«Morgen geht’s nach München. Äih, du, das…!»

«Dann schick mir die Sachen von München aus nach Bramme!» Manitou rülpste riesige Mengen Luft aus dem Magen heraus und verkündete dann: «Du, ich liebe einen Bayern, und der hat Hakenkreuze auf den Eiern!»

«Nun hör doch mal zu, Mann!»

«Du halt doch das Maul! Du warst doch der größte Wichser aufm Internat, nich ich!»

Jossa warf den Hörer auf die Gabel, ging zum Kühlschrank und goß sich eine Cola ein, sank dann aufs halbwegs kühle Ledersofa und riß die TV-Beilage des Brammer Tageblatts hoch, hoffte, daß es heute abend eine Sendung gab, die ihn ein wenig von seinen Qualen wegbrachte, seiner Selbstbespiegelung; alle Brücken abgebrochen, nach Bramme ausgewandert, dreizehn Jahre Anja und keine andere. Die Trennung dann als Sache von Sekunden. Wie ein Schuß, wie eine Kugel, die im Nu vernichtet, was in langen Jahren aufgewachsen war. Nach außen hin nur eine Nichtigkeit, lächerlich der Auslöser, unterschwellig hatte sich das alles angestaut. Beim Würfeln, beim Kniffein. Das zählt nicht, du hast ja schon viermal gewürfelt! Nein, dreimal erst! Nein, viermal! Ich kann ja wohl noch bis drei zählen. Ich – ich – ich! Wenn’s dir nicht paßt, dann kann ich ja gehen! Dann geh doch!

Bramme, der Job beim Tageblatt, unsicher noch, ein halbes Jahr zur Probe, ob er zu den Leuten hier paßte. Mehr freier Mitarbeiter noch denn fest angestellter Redakteur. Nie sonderlich in Form, was Wunder bei den vielen schlafgestörten Nächten. Er schaffte es nicht. Trennung, Abnabelung. Alles zu verarbeiten, alles aufzuarbeiten… Scheiße alles, diese verdammte Züchologie! Gott, das mit der toten Ratte auf dem Overhead-Projektor war ja auch noch zu tippen!

Fernsehen war wichtiger! Am liebsten wäre ihm eine Mischung von sanftem Porno und heißem Europacup-Finale gewesen, mit ein paar Spritzern Woody Allen dabei, Loriot vielleicht, auch Sketchup und Hallervorden. Doch was fand er? Ein kleines Filmchen mit Anja in einer der Rollen, die sie gerade noch ausdruckten und nicht nur subsumierten unter u. a. oder u. v. a. Aber immer noch viel zu viele Minuten, die sie hier bei ihm im Zimmer sitzen, singen, schwimmen, lachen würde, ihren Körper präsentieren, ihr Gesicht hinhalten.

Wenn er sie sah, gab es wieder nur die beiden Möglichkeiten: Entweder er onanierte bei ihrem Anblick wie wild, oder er lief aus dem Zimmer hinaus und machte Anstalten, sich vom Balkon aus in die Tiefe zu stürzen, fünf Etagen hinunter, hatte gestern erst am Geländer gestanden, nicht weit vom point of no return entfernt. Arschloch, du! Vielleicht war es besser, zuerst den Fernseher auf die Straße zu werfen. Oder ihn ausgeschaltet zu lassen und sich in der neuen Altstadt-Pinte unten, diesem m.a.v. wieder einmal sinnlos zu besaufen. O Jens-O. so wirst du hier in Bramme niemals Wurzeln schlagen!

Er sprang auf, mußte wieder los, hatte ja um 16 Uhr 30 den lang erwarteten Termin im Knast, in der JVA Bad Brammermoor draußen; Überschrift: Mit einem Mörder allein in einer Zelle. Wenn sie überhaupt einen aufgetan hatten, der sich ausfragen ließ.

Jossa duschte sich schnell und streifte sich sein Lieblings-T-Shirt über, jenes brasilianisch-gelbe, in dem er sich immer ein wenig wie Pele, Garrincha oder Zico fühlte. Kam, trotz der feuchten Hitze, noch die Lederweste mit den vielen Taschen rüber, gedacht, in Stadt und Landkreis Bramme zum optischen Jingle zu werden, Marke und Erkennungszeichen: Seht, da kommt der Jossa an! Nur noch die Nickelbrille geputzt und den speckig-grünen Ringordner gegriffen und ab durch die Mitte.

Gleich neben seiner Wohnungstür hatte er den Zugang zur zentralen Technik entdeckt, und wenn er die durchquerte, konnte er direkt das fünfte Deck des neuen Parkhauses in der Packhofstraße erreichen, in seinen schwarzen Golfsteigen und losjagen, zuerst die Serpentinen hinunter, dann über ein paar verschlungene Pfade auf die Brammermoorer Brücke hinauf und schließlich auf der Bundesstraße südwärts Richtung Geest beziehungsweise Moor.

Gute anderthalb Kilometer fuhr er nun am Geestrand entlang, zumeist durch lichte Kiefernwäldchen hindurch, bis er eine Anhöhe von gerade eben zwanzig Metern entdeckte, die seiner Karte nach der Pötterberg sein mußte, ihm von seiner ersten Brammer Reportage her für immer in Erinnerung. Hier nämlich wohnte der Herr Stadtdirektor Wilhelm Wurth in einem schmucken niederdeutschen Landhaus, und von hier aus hatte er zum großen Schlag ausgeholt, um die kleine Buchhandlung von Dörte Bleichröder und Gunhild Corzelius, den B&C-Bücherschuppen, als Porno-Laden zu entlarven. Schwer gefährdende Schriften hätten sie vertrieben und gegen die Paragraphen 131 («Verherrlichung von Gewalt») und 184 («Verbreitung pornographischer Schriften») verstoßen. Vieles war beschlagnahmt worden, witzigerweise auch das Buch «Bikini», das allerdings das Bikini-Atoll und die Atombomben meinte.

Um zur JVA zu kommen, mußte er nun hinterm Pötterberg links abbiegen, was wegen des beträchtlichen Gegenverkehrs nervend lange dauerte.

Nächster Orientierungspunkt war dann die Wittkoppener Windmühle, gerade eben restauriert und mit Segeltuchbespannung sogar; ein sogenannter «Erdholländer», wie sein Brammer Stadtplan ihm verriet.

Auf einem schmalen Damm ging es nun durch einen Arm des Brammer Moors hindurch, und er konnte sogar ein Storchenpaar entdecken, das gerade auf dem Giebel einer abbruchreifen Scheune landen wollte.

Unvermittelt nach soviel Idylle tauchte dann die JVA Bad Brammermoor auf, eine backsteinrote Burg wie aus den Katalogen der Modelleisenbahner, verspielt mit ihren vielen Erkern und Türmchen, doch beim Näherkommen sah man schon, was Sache war, die Gitter vor den Fenstern, die Posten auf den Türmen und den Stacheldraht allüberall.

Jossa formulierte schon die ersten Sätze seines Berichtes, wollte damit beginnen, wie komisch es sei, daß heutzutage in unseren Gefängnissen keine Strafe mehr verbüßt, sondern Justiz vollzogen werde, siehe JVA gleich Justizvollzugsanstalt.

So ganz wohl war ihm nicht, als er seinen schwarzen Golf auf einer weiten Schotterfläche parkte, hätte lieber eine Brauerei besucht oder eine Leibesertüchtigungsanstalt für höhere Töchter.

Und wer hatte ihn da angemacht? Der große Manitou natürlich nach einem Open-air-Konzert auf dem anstaltseigenen Fußballplatz. Mann, du, ich hab noch nie Zuhörer gehabt, die so voll drauf gewesen sind. Mußte dich auch mal kümmern um die! Daß er Spuren hinterlassen hatte, stimmte zweifellos, denn aus einem der unzählig vielen Zellenfenster, bei der Hitze alle weit geöffnet, dröhnte er mit seinem jüngsten Song weit ins Moor hinein: «Stadtindianer kämpfen bis zum letzten Mann, sind Weißenhasser, kämpfen um den letzten Liter Feuerwasser, Feuerwasser…!»

Jossa konzentrierte sich auf seine Arbeit, las schnell noch einmal durch, was er im Rathaus, die JVA betreffend, an Material bekommen hatte.

JVA Bad Brammermoor, 1871 errichteter Flügelbau im panoptischen System mit Zentrale und vier Zellenflügeln, 442 Haftplätze, 1953 bis 1959 erweitert durch ein Werkstättengebäude mit Versorgungseinrichtungen, offener Vollzug in der Nebenstelle Uppenkamp.

Das hauptamtliche Personal, erfuhr Jossa weiter, umfasse 234 Mitarbeiter, zwei Pfarrer darunter, und der Anstaltsleiter sei derzeit ein Volljurist mit Namen Werner Zweeloo. Mußte er alles vorab speichern, wenn er Erfolg haben wollte.

Ein Blick zum Eingang hin, zur «Pforte», zeigte ihm, daß sie ihn schon «kameramäßig» erfaßt hatten. So stieg er aus, griff sich seinen abgegriffenen grünen Ringordner, schloß seinen Wagen ab und ging gelassen auf die stählerne Schiebetür zu, über der das schön gemalte Schild BESUCHER hing, mußte aber erst ein Messingknöpfchen drücken und über eine Gegensprechanlage erklären, daß er Jossa hieße, vom Brammer Tageblatt käme und sich schon vor vierzehn Tagen angemeldet hätte.

«Moment!» tönte es zurück, so dumpf, als säße der Beamte direkt im Folterkeller.

Jossa fröstelte unwillkürlich, und er wünschte sich auf die große Wiese am Brammer Meer, Mädchenärsche und Schamberge vor Augen und nicht die schlabbernden Uniformhosen des Beamten, der ihm jetzt, als die Schiebetür ins Mauerwerk glitt, mit Handschlag den Eintritt erlaubte.

«Willkommen auf unserer Müllkippe!»

Jossa fand den Ausdruck wenig angemessen, schwieg aber brav, wurde durch einen bräunlich-gelben Vorraum zu einem Schalter geführt und gebeten, seinen Personalausweis in eine kleine Schale zu legen, die von einem weiteren Beamten dann ins Rauminnere gezogen wurde. Zugleich wurde die schwere Stahltür per Knopfdruck wieder geschlossen.

Der Beamte hinterm Panzerglas hielt seinen Ausweis prüfend in der Hand, während er zwei, drei Telefongespräche führte. Warum eigentlich?

«In Ordnung», sagte er schließlich, steckte den Ausweis in die Hängekartei seines Schreibtisches und schob Jossa statt seiner eine taschenbuchgroße Pappe hinaus, orangerot und hochglanzbeschichtet. «Ihre Passierkarte, nicht verlieren, beim Verlassen der Anstalt wieder abgeben, sonst…!» Er lachte.

Jossa lachte ebenfalls, doch ziemlich gequält, fühlte sich bedrohter als nachts allein im Brammer Stadtpark oben. Und das, da mußte er nun wirklich schmunzeln, in einem Gefängnis, das von sich behauptete, das sicherste Deutschlands zu sein.

«Wie geht’s denn weiter hier…?» fragte er den Beamten hinterm Panzerglas.

«Der Anstaltsleiter selber wird Sie zu Ihrer Zelle führen.»

«Danke, ja…»

Jossa studierte die Poster und Plakate, die hier fein säuberlich angepinnt waren, dann die Bekanntmachungen für die Justizvollzugsbeamten, wann wer wo gegen wen im Schach gewonnen hatte und die Ergebnisse der letzten Personalratswahlen. Ein Anhängsel des konservativen Deutschen Beamtenbundes meilenweit vor ÖTV und DAG.

An bevorzugter Stelle natürlich auch die Terroristenfahndung, wobei die Dame mit dem Namen Britta Schmidt ganz besonders dick umrandet war, hatte schließlich hier eines ihrer Delikte begangen. War das die klammheimliche Dankbarkeit der Brammer Bürger, weil Britta sie mit Benno Drobsch und ihrer Robin Hood-Aktion europaweit ins Kino und ins Fernsehen gebracht hatte? Jossa schien es fast so.

Zu seiner Überraschung war hier an der Pforte des Knasts fast mehr Betrieb als an der Stadionkasse beim letzten Spiel des TSV. Anwälte kamen und gingen, die Verwandten und Bräute der Knackis, Anstaltsbeiräte, Psychologen und x andere Leute.

Jossa ließ sich auf eine von vielen hundert Hintern blankgesessene Holzbank fallen, sicherlich seit der Eröffnung des damaligen «Männerzuchthauses» durch Reichsjustizminister Karl-Georg v. Klostein hier vorhanden, gähnte anhaltend, starrte trübtassig auf den hygienemäßig einwandfrei gebohnerten kackbraunen Linoleumbelag, studierte die Trittpfade, die allesamt schon den Beton durchschimmern ließen, war ziemlich irritiert, als er plötzlich die schönen Beine einer kräftig aufgemachten Dame durch sein enges Blickfeld huschen sah und mußte, als er deren leicht verrutschten Rock entdeckte, an eine Sache denken, die sich vor Jahren im Berliner Knast ereignet hatte: das Schwängern einer Knackibraut während der amtlich überwachten Sprechstunde. Wie wohl? Wahrscheinlich sie auf seinem Schoß sitzend. Ein schönes Bild, ein schöner Gedanke. Er schalt sich eine alte Sau und fixierte, eine Erektion befürchtend, das ÖTV-Plakat an der Wand hinten: Anschluß halten! Deshalb Einstieg in kürzere Wochenarbeitszeit! Das Ziel: Bezahlte freie Tage für alle! Daneben auch die DAG: Für Sicherheit und Fortschritt in einer menschlichen Arbeitswelt. Schließlich eine Stellenanzeige zum Anwerben neuer Schließer respektive Wärter, heutzutage als Justizvollzugsbedienstete firmierend: Ein sicherer Arbeitsplatz für Sie!

Er war mitten im Nachdenken über den tieferen Sinn oder Zynismus dieser Botschaft, als zwei Männer vor ihm standen, der eine fein gewandet, im Maßanzug wohl, der andere in Beamten-Uniform, schwarz-grau. Beide, so seine erste Assoziation, wären sie in einem Spielfilm aufgetreten, hätten die Leute schon durchs bloße Erscheinen zum Lachen gebracht.

«Zweeloo!» stellte sich der erste vor. «Ich bin der Anstaltsleiter hier. Sie hatten ja schon telefonischen Kontakt mit mir.»

«Ja…» Jossa erhob sich ungeschickt-rekrutenhaft und nickte ergeben, wunderte sich, daß der andere nicht auch noch Verkehr statt Kontakt gesagt hatte.

Zweeloo, obwohl kaum älter als Anfang, höchstens Ende Vierzig, schien aus seligen Ufa-Zeiten zu stammen: männlich-schön, so eine Edelkreuzung von Weltbankpräsident und Weißem Rössl-Oberkellner, charmant-charmant, dichtes graumeliertes Haar mit Welle, ein Hauch Bluemerle dabei, buschig-schwarz die Augenbrauen, doch scharfe Linien im Gesicht und eine fast Indianernase, nichts im Kopf als Macht, ihre Ausübung und ihren Genuß, mit dem Glauben, daß ohne starke Autorität und Führung in dieser Welt rein gar nichts geht, die doppelten Paragraphen fast sichtbar in den Pupillen; Werner Zweeloo, Volljurist.

Jossa haßte sich dafür, daß er so schnell und ohne jede Not, innerlich wie äußerlich, Haltung angenommen hatte, Demutsgeste gegenüber diesem Typen, ja, Arschloch du, trat einen Schritt zurück, brachte aber dennoch nichts anderes hervor als einen ungeschickten Satz, gedacht, dies alles voll zu ironisieren: «Das Brammer Tageblatt, Jossa, angetreten zur Verbüßung eines Interviews!»

Zweeloo lachte schallend, denn gerade schwebte eine nicht eben unansehnliche Knastpsychologin an ihnen vorbei, der er mit dem geilen Schmunzeln eines permanenten Playboy- oder lui-Lesers anzüglich zurief, ob sie sich, Gaby, denn unter soviel Männern wieder mal wohlgefüllt hätte, und dann, als sie dies verneint hatte, leider nicht, denn sie fühle sich nicht wohl, eine leichte Sommergrippe wohl, habe aber halt nicht schwänzen wollen, halblaut die Männerfreunde fragte, inwieweit wohl Schwanz und schwänzen sprachlich-innerlich zusammenhingen.

Jossa ging so viel Machotum auf die Nerven, verkniff sich aber jeden Kommentar, musterte statt dessen Zweeloos untersetzt-bulligen Begleiter, der ihm eben als «Kassau, unser bester Gruppenleiter», vorgestellt wurde.

Kassau hatte ein ungemein rundes und über alle Maßen flächiges Gesicht, rosig und mit blassen Borsten über den Augen oder besser Äuglein – schönstes Vergißmeinnicht-Blau –, Haaren über der Stirn aus frisch geschlagenem Flachs; ein Schweinsgesicht, bäurisch und pfiffig, auf einem dicken Strauß-Hals sitzend.

«Es war gar nicht so einfach», sprach der Anstaltsleiter feierlich und ölig, «für Sie einen Gefangenen zu finden, der in der Lage ist, seine Situation angemessen zu erfahren und wiederzugeben und auch willens war, sich auf ein Interview mit einem Journalisten ein zulassen.»

«So ist es, ja!» Kassau konnte das bezeugen.

«Schließlich sind wir auf Martin Mugalle gekommen, einen Mann in Ihrem Alter etwa, gescheiter Kreditmakler und kleiner Bankier, mit seiner NordInvest in die Pleite geschlittert und wegen verschiedener Delikte – Betrug, Steuerhinterziehung, Scheckmißbrauch und ähnlichem – für insgesamt dreieinhalb Jahre bei uns eingewiesen, zuzüglich noch zweiundzwanzig weiterer Monate, weil er den Freund, von dem er verpfiffen worden war, halbtot geschlagen hatte. Manche sagen, daß es ihm kurz vor seiner Festnahme noch gelungen sein soll, ein bis zwei Millionen Mark beiseite zu schaffen. Ein exotischer Vogel, nicht wahr, Kollege Kassau?»

«Ja, aber einer, der für ‘ne Zeitung ‘ne Menge hergeben kann.»

«Ich bin gespannt», sagte Jossa, «und herzlichen Dank zunächst einmal.»

Zweeloo schaffte ein gewinnendes Vertreterlächeln. «Wenn Sie später Fragen haben sollten, Herr Jossa, so stehe ich Ihnen selbstverständlich jederzeit zur Verfügung. Jetzt aber bitte ich, mich zu entschuldigen… Ich habe noch ein dringendes dienstliches Gespräch mit unserer kleinen Psychologin hier…» Er lief ihr nach.

Kassau grinste. «Wenn er’s tut, dann nur stellvertretend für die Hälfte unserer Knackis und als Wohltat für deren Phantasie. Aber das schreiben Sie bitte nicht!»

«Ganz sicher nicht.»

«Dann darf ich bitten…!»

Jossa wurde mit einem Schlüssel von mittelalterlicher Größe in einen kleinen Vorhof durchgeschlossen, dann ging es nach dessem Passieren in den dreistöckigen Mittel- oder Zentralbau hinein.

Vier Gebäuderechtecke mündeten hier in einen quadratischen Hohlraum von erheblicher Höhe, einen Turm, in den drei gläserne Kanzeln meterweit hineinragten, pro Stockwerk eine, die Sicht in alle vier abgehenden Stationen möglich machten.

«Das nennt man das pennsylvanische oder das panoptische System», erklärte Kassau. «Ist seit hundert Jahren immer noch das sicherste, was aufm Markt ist.»

Das Besondere an diesem Bauwerk war, daß die einzelnen Stockwerke aller vier Flügel keinen durchgezogenen Fußboden aufwiesen, sondern nur verhältnismäßig schmale Galerien, von denen dann die Zellen abgingen. Um zu verhindern, daß man von oben schwere Gegenstände runterwarf oder sich gar selbst in schlimmer Absicht in die Tiefe stürzte, waren überall Netze gespannt.

Gitter wie im Raubtierkäfig, notierte sich Jossa, Netze wie im Zirkus. Und eine fürchterliche Akustik; als ihm beim Herausholen seines Kugelschreibers ein Markstück auf den Boden fiel, da schien es so, als wäre ein Blechteller auf die Betonplatten gepoltert.

«Häih!» schrie ein Knacki von oben. «Störung der Totenruhe ist strafbar!» Und warf eine brennende Kippe so geschickt nach unten, daß sie Jossas Lederweste traf, und dann johlte der gesamte B-Flügel, als er sich beim reaktionsschnellen Abwehr versuch die Brille von der Nase streifte und in einer bühnenreifen Pantomime, halb Fliegenfänger, halb Eishockeytorwart, versuchte, sie wieder an sich zu bringen, bevor sie auf dem Boden zerschellte. Riesenbeifall, als er es schließlich noch schaffte.

Kassau hielt, während sie hinaus ins erste Stockwerk des B-Flügels stiegen («Fahrstühle wären wohl ‘n Witz hier gewesen…!») seinen Standardvortrag über das hohe Ziel seiner Arbeit. «Ausgerichtet ist hier alles am Paragraphen 2 des Strafvollzugsgesetzes: Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.»

«Amen!» schrie einer von unten herauf.

Ein älterer Gefangener, käsig im Gesicht, schlaff und abgewrackt, höchstens Bantamgewicht, schlurfte Kassau entgegen. «Darf ich Sie, bitte, Entschuldigung, kurz, ganz kurz einmal sprechen…?»

«Was gibt’s denn, Taubert?»

«Es ist doch so schwül jetzt…»

«Besser schwül als schwul, mein Lieber!»

«Ja… Es ist doch so stickig jetzt, die Hitze, nachmittags immer, mein Kreislauf, Sie wissen ja, und da hab ich vorgestern nach der Mittagspause nicht mehr gearbeitet, konnte ich nicht mehr. In der Schneiderei…»

«Ja, und…?»

«Bei der Abrechung soll mir nun die Leistungszulage von 28 auf 15 Prozent reduziert werden…»

«Na, logisch!»

«Nein, wenn ich Ihnen da widersprechen dürfte, denn ich… Also, ich meine, es ist ja so, daß ich mein Soll doch schon am Vormittag voll erfüllt habe, hatte…!»

«Na, dann komm mal, wir sprechen mal mit deinem Meister drüben; der steht grad da hinten an’er Kanzel. Moment mal, Herr Jossa…!»

«Ja, ich warte hier…»

Die beiden zogen ab, und Jossa nutzte die Chance, einen gerade vorbeieilenden, nicht uniformierten Mann anzusprechen, der zu 99,9 % nichts anderes als Sozialarbeiter sein konnte: Sandalen und Jeans, ein T-Shirt mit dem Greenpeace-Regenbogen drauf und etliche hochoffizielle Aktendeckel unterm Arm, diese grün-gerasterten Mappen mit den eingestanzten Löchern, an denen man erkennen sollte, ob sie etwas bargen oder nicht.

«…sagen Sie», fragte Jossa ihn, auf Kassau zeigend, «ist der wirklich immer so, oder macht er nur meinetwegen derart auf Humanität? In meine, sein Äußeres, das…?»

«Der Kassau, der ist schon okay», kam die Antwort. «Rauhe Schale, weicher Kern. Wirklich der beste Gruppenbetreuer, den wir hier in Brammermoor haben.»

«Ah, ja…»

«Das geht sogar so weit, daß er einige der Jungs, wenn sie entlassen worden sind, bei sich aufm Flugplatz wohnen und arbeiten läßt.»

«Bei sich aufm Flugplatz…?» Jossa staunte.

«Bei sich im Club; Kunstflieger, Loopings und so. Da ist er richtig ‘n Besessener. Also…!» Der Sozialarbeiter rannte weiter, schloß sich zur Pforte durch.

Jossa notierte sich eine mögliche Zeile: Gruppenleiter Kassau zieht es nach einer langen Schicht hinter Gittern dorthin, wo die Freiheit grenzenlos ist: Hoch über den Wolken schwebt er in seinem Segelflieger über alles hinweg.

Wenig später war Kassau zurück, bereit, wieder Jossas Lotsen zu spielen, und sie gingen die mittlere Galerie fast bis zum Ende hinunter.

«Hier ist es!» sagte Kassau schließlich und hielt vor einer der immer gleichen kaffeebraunen Zellentüren, der Nummer 124. Massives Holz, schwere schmiedeeiserne Beschläge, ein riesiges Schlüsselloch, eine Reihe von Schildern und Aufschriften: Belegt mit 1 Mann – ev – Schneiderei – Weißbrot – Galle/Quark – 3 X wöchentl. Milch.

Kassau schloß auf. «Raus aus’m Bett, Mugalle, die Presse ist da. Sie wissen ja, der Jossa!»

Jossa hatte es eilig, an Kassau vorbei einen Blick ins Zelleninnere zu werfen. Sah aus und roch auch so wie ihre Notunterkunft, als sie 1952 aus der DDR in den Westen gekommen waren, Lager Berlin-Marienfelde. Ein schmaler hoher Raum. Gleich rechts hinter der Tür das freistehende Klo, dahinter die Pritsche. An der Wand gegenüber ein wackliger Schrank, altes Holz, dunkel gebeizt, dahinter Stuhl und Tisch von Kinderzimmermaßen, höchstens Sperrmüllgüte, wie er später schreiben wollte. Ein schmales Handtuch, ein Schlauch, beherrscht von einem hoch angebrachten, aber überraschend großen Fenster, vielleicht, so dachte Jossa, um den Insassen des Männerzuchthauses von 1871 den Ausblick auf ihre Arbeitsstätte freizugeben, waren sie doch damals allesamt zum Torfstechen abkommandiert worden.

Seinen Gesprächspartner hatte er noch nicht wahrnehmen können, denn der war hinter die geöffnete Schranktür gesprungen, um sich schnell mit Hemd und Trainingshose herzurichten, hatte offenbar bei dieser Affenhitze nackt auf seinem Bett gelegen.

«Gewitterstimmung», merkte Kassau an. «Bald wird’s draußen losgehen. Wenn Sie fertig sind mit Ihrem Interview, dann drücken Sie die Ampel, das heißt, den Knopf hier, und ich komm her und laß Sie wieder raus.»

«Okay!» Jossa nickte.

Kassau ging, warf die Tür mit einem explosionsartigen Geräusch wieder zu, schloß ab und verschwand, während Jossa neben dem Klobecken verharrte und gespannt auf Mugalles Reaktionen wartete.

Der nutzte die Schranktür noch immer als Wandschirm. «Tut mir leid, ich war grad eingenickt gewesen… An meiner Trainingshose ist leider der Gummi… Aber das hätten wir gleich…»

«Bloß nicht hetzen, wir haben ja Zeit…» Jossa hatte Mühe mit dem Atmen. «Nehmen Sie’s mit bitte nicht übel, aber die Luft hier…!»

Mugalle lachte. «Schlimmer als im Puff, ich weiß. Aber leider kommt’s nicht von den Damen, auch nicht von den Därmen und Spermien, sondern bloß vom Aufgesetzten…»

«Wie das?» Jossa, obschon gerade erst nach Bramme zugereist, wußte bereits, daß das ein Klarer war, den sie mit irgendeinem Obst oder Aroma parfümiert hatten. «Alkohol im Knast, ist das nicht allerstrengstens untersagt?»

«Na, sicher. Aber welche von uns, die arbeiten in der Küche unten und können sich dort Hefe beschaffen, und andere wieder haben Bräute, die ihnen Äpfel, Pflaumen und Birnen mitbringen. Wenn man das denn bei der Hitze jetzt ansetzt, irgendwo versteckt und gären läßt, dann… Der Begrüßungstrunk für Sie steht schon bereit…»

Die Schranktür wurde zugedrückt, und als Jossa Mugalle erblickte, da hatte der zwei wohlgefüllte Zahnputzgläser in der Hand.

Sekundenlang standen sie da und musterten sich, stellten fest, daß sie beide eine gewisse Ähnlichkeit mit jenem bundesweit bekannten Baskenmützen-Männchen hatten, das schon seit Jahren für seinen Kräuterkäse den Clown machte und warb, lachten und fanden heraus, daß es bei Mugalle der Hugenottesche Urahn war, der dafür als Grund in Frage kam, bei Jossa hingegen die Mutter, die aus Roth bei Nürnberg stammte, aus Franken also, die Vorfahren wohl damals als fußkrank zurückgelassen, als der Kernstamm nach Westen aufgebrochen war, das Frankenreich zu gründen.

«Da haben wir also dieselbe Erbmasse, was…!? Kleine Köpfe, an Kassau gemessen; Kartoffel gegen Kohlrübe!» Ja, und schmale Gesichter, scharf geschnitten, dunkle Augen, schwarzes Haar, vor allem aber: «… irgendwie wie Thomas Mann!»

So war man sich also nähergekommen, und Mugalle, die Gläser mit dem selbstgemachten Schnaps erst einmal absetzend, bat Jossa, sich bittschön auf seinem Stuhl niederzulassen, während er die Kante seines Bettes nahm.

Jossa sah sich noch genauer um, studierte vor allem die Wand hinter Mugalle, die vollgeklebt war, tapeziert mit blonder Mähne, Brüsten, Schenkeln, Augen, mit Haut und nochmals Haut, hellen Härchen, dunklem Flaum, Öhrchen, Näschen, Grübchen, alles zerstückelt und zu immer neuen Ah- und Oh-Effekten übereinandergelegt und wieder zusammengefügt, statt der Klitoris ein Stückchen Ohr und ihr Madonnenauge mitten in der Brustwarze drin. «Nicht schlecht!» Immer, so schien es jedenfalls, ein und dasselbe Mädchen, aber das eigentlich Überraschende für Jossa war…

«… daß es in Ihrer tollen Erotik-Collage Bilder aus Magazinen, Illustrierten und so neben selbstgemachten Fotos gibt…?»

Mugalle lachte. «Das ist alles Chantal! Aus Playboy, stern und diversen Modejournalen, aber auch aus meinem eigenen Fotoalbum…»

«Ist sie Fotomodell?»

«Das auch und Tänzerin. Vor allem aber meine Braut, meine Verlobte, richtig so. In Treue fest zu mir, trotz meiner über drei Jahre hier im Knast.»

«Erstaunlich!» Jossa vertiefte sich weiter in Mugalles eingefrorenen Video-Clip über Liebe und Lust und seufzte tief. «Und beneidenswert… Meine Ex-Frau ist ja auch auf solchem exhibitionistischen Trip: Schauspielerin und dieses… Gelernte Psychologin, und mitten in der Doktorarbeit drin kriegt sie plötzlich ‘n Rappel und will zum Film. Ich kenn da ‘n paar Regisseure und verschaff ihr, damit sie auch selber mal ‘n paar Märker verdient, ‘ne Statistenrolle: Serviererin in einem Berliner Gartenlokal. Sie leckt Blut dabei und wird plötzlich süchtig danach. Gitte-Motto: Ich will alles, und zwar jetzt! Läßt die Psychologie sausen und mich dazu und rennt zur Schauspielschule. Na, jedenfalls: Ende, bello, Abflug!»

«Kinder?»

«Keine.»

«Und Sie alleine nach Bramme, alles an Verbindungen gekappt, was es da gegeben hat…?»

«In Hannover, ja.»

Mugalle sah ihn an. «Ah, Sie kommen also aus dem Land der niederen Sachsen?»

«Nein, eigentlich aus Königs Wusterhausen, das liegt im Südosten Berlins, heute DDR.»

«Sind wir ja fast Wiegennachbarn; ich komm nämlich aus Zeuthen, zwei S-Bahn-Stationen davor!»

«Mensch, gibt’s denn so was!»

Jetzt hatten sie ein Weilchen zu tun, bis die wichtigsten Kindheitserinnerungen ausgetauscht waren.

«Alles unwiederbringlich dahin…» sagte Jossa. «Und jetzt sitz ich hier mutterseelenallein in Bramme herum…»

Mugalle nickte. «Wie sagt der Philosoph: Du brauchst nicht mal eine Einzelzelle im Knast, um einsam zu sein.»

«Nun ja: Wenn auch die ganze Republik ein einziger Knast sein soll, steht ja sogar schon hier in Bramme an den Wänden, dann ist es aber bei Ihnen in der Zelle doch noch ein wenig knastiger…» Jossa sah zum vergitterten Fenster hinauf.

Das Unwetter war immer näher gekommen, die ersten Blitze huschten unscharf, eher noch ein Wetterleuchten, über den grauschwarzen Himmel, und es grummelte südlich überm Moor. Die Lampe an der Decke, zentral gesteuert, flammte auf.

Mugalle drückte sich von der Bettkante hoch, griff sich die beiden Gläser mit dem Aufgesetzten vom Tisch und reichte Jossa eins hinüber. «Dann fangen Sie mal langsam an zu fragen… Auf ein gutes Interview! Daß es uns beiden was bringt: Ihnen ein gutes Zeilenhonorar und uns hier ein bißchen bessere Haftbedingungen. Prost!»

«Auf Ihr Wohl!»

Sie stießen an, und Jossa hatte Mühe, das mandelbittere Zeug hinunterzuschlucken, Mugalles «Ia-Orangenlikör mit Backpflaumenzusatz», wurde an eine Episode aus Richard Katz’ «Ein Bummel um die Welt» erinnert, Standardlektüre seiner frühen Jahre, wo der im Innern der Fidschi-Inseln, um den Häuptling nicht zu reizen, schalenweise Kava trinken mußte, ein bierähnliches Gesöff, entstanden dadurch, daß die Frauen die Wurzelfasern der Kava-Pflanze kauten, in eine Holzschüssel spuckten und dann gären ließen.

Beim zweiten Schluck hatte Jossa gegen einen schier übermächtigen Brechreiz anzukämpfen, doch er schaffte ihn, wußte, daß es mit dem Tiefeninterview nichts würde, wenn er hier versagte, war auch in hohem Maße interessiert daran, den Menschen Mugalle näher kennenzulernen.

«Na, bitte!» lachte Mugalle, der sein Glas mit vergleichsweise großem Genuß schnell ausgetrunken hatte, war schon faszinierend, wie er da agierte, fernöstlich gelassen, selbstironisch und cool. «Ritual überstanden; nun fragen Sie mal schön…»

Jossa faßte in das linke obere Täschchen seiner Lederweste, zog einen silbern aufblitzenden Kugelschreiber heraus, suchte in seinem lieb-vertrauten Ringordner nach einer leeren Seite, rückte die Brille zurecht.

«O verdammt!» sagte er zu Mugalle. «Ihr Aufgesetzter geht aber ganz schön ins Blut…!»

«Alles nur Gewohnheitssache…»

Jossa hatte Mühe, sich zu konzentrieren, fühlte sich komisch, schummrig im Kopf, ungemein schläfrig, schwebte dahin wie auf einem Sessellift, nein, saß in einem Kettenkarussell, wurde wild herumbewirbelt, hinüberkatapultiert in den Wagen einer Looping-Bahn, raste dahin, sich mehrmals überschlagend, wie letzten Sonntag im Heidepark, schoß aus seinem Fahrzeug heraus, schlug gegen einen stählernen Pfeiler. Crash und Explosion, und das Blut lief aus seinem Körper heraus wie die Cocabrühe aus einer zerborstenen Flasche.

Mit dieser letzten Assoziation hatte er das Bewußtsein verloren.

Carsten Corzelius an -ky

 

Lieber -ky,

seit einiger Zeit streiten wir uns ja sehr heftig über den vorliegenden Fall – und meiner Meinung nach hast Du Dich viel zu sehr auf den Jossa gestürzt, den Mugalle aber arg vernachlässigt. Das kannst Du doch Deinen sehr verehrten Lesern nicht antun! Meine Erkenntnisse, was Mugalles Motive und Aktionen betrifft, haben mich zu einer eigenen Version gebracht; was Du ja womöglich auch erhofft haben magst. Ich schreibe das mal alles nieder, und Du kannst es dann ganz nach dramaturgischem Kalkül in Deinen Roman einbauen (Mugalle frei in Bramme I bis IV).

Herzlichst Dein C. C.