Martin Mugalle frei in Bramme IV

 

 

 

Mugalle stand an der offenen Balkontür des Jossaschen Apartments, rauchte einen Zigarillo und verfolgte aufmerksam, wie tief unter ihm in Stadt wie Umland immer mehr Lichter sternengleich aufflammten. Da es drinnen unerträglich heiß und stickig war, wäre er gern weiter hinaus ins Freie getreten, doch der sogenannte Balkon hatte lediglich die Breite einer Badezimmermatte und war zudem nur von einem knapp hüfthohen und verdammt locker-rostigen Gitter gesichert, das nicht mal dazu taugte, einen Blumenkasten rauszuhängen. Und das im fünften Stockwerk oben.

Mugalle, von leichtem Schwindel gepackt, warf den Rest seines Zigarillos auf die wenig belebte Straße hinunter, ging ins Zimmer zurück und drehte den Dimmer der großen Deckenleuchte mit einem schnellen Kick herum, so daß der kleine Tisch darunter wie von einem Scheinwerfer angestrahlt war. Ein eleganter Lederkoffer stand darauf, bordeauxrot mit goldenen Beschlägen, und als Mugalle ihn aufklappte, kamen Bündel von blauen und Berge von braunen Scheinen zum Vorschein. Ein Gegenüber gab es nicht, es war kein Vorhang vorzuziehen.

«Der ist mir zu groß, der Koffer, und viel zu auffällig», sagte Mugalle, sprach, wie von seiner Brammermoorer Zelle her gewohnt, wieder einmal mit sich selber.

Er klappte das Behältnis wieder zu, nahm seine Schlüssel vom Haken und verließ leise, den Radetzky-Marsch vor sich hinsummend, die Wohnung. Gleich neben dem Lift war eine kleine stählerne Tür, in schönstem Südsee-Blau gestrichen, die offiziell «Zur Technik» führte, aber auch zu einigen Verschlägen, die Hausbewohner zum Abstellen feuerpolizeilich nicht in jedem Fall erlaubter Dinge mieten konnten. Jossa hatte diese Möglichkeit genutzt, und Mugalle sah nun nach, ob sich wohl für seine Zwecke etwas finden ließ, Koffer oder ähnliches, entdeckte in der hinteren Ecke eine blaue Tennistasche, die abgewetzt und speckig war, für potentielle Interessenten wenig attraktiv.

Beim Verlassen der Technikzentrale stieß er dann, ein wenig forschend, jungenhaft, auf eine schmale Tür, die aufs Dach hinausführte und von da weiter auf das alleroberste Deck des neuen Parkhauses Packhofstraße. Diese Entdeckung freute ihn, denn er sparte sich, wenn er seinen, das heißt Jossas, Wagen hier parkte und diesen sozusagen Notausgang benutzte, gegenüber dem offiziellen Weg etliche Minuten.

Sehr schön!

Er kehrte in sein, beziehungsweise Jossas, Apartment zurück und machte sich ans Umverteilen der Geldscheine.

«Verdammt noch mal! Merde!» Mit der Tennistasche hatte er einen Aschenbecher, echtes böhmisches Glas, vom Tischchen gestoßen, gewaltig Lärm gemacht.

Im selben Augenblick wurde an der Wohnungstür geklingelt.

Mugalle erstarrte, absolut unfähig zu irgendwelcher Reaktion.

Vom Flur her kam eine weibliche Stimme. «Mach auf, ich weiß doch genau, daß du da bist!» Fordernd und bittend zugleich, verhalten-ruhig und dennoch ziemlich hysterisch.

Mugalle schlug den Koffer zu, ratschte den Reißverschluß der Tennistasche bis zum Anschlag entlang und stellte beide zwischen Sessel und Heizung.

Staub wirbelte hoch, und ein allergisches Niesen ließ sich nicht mehr unterdrücken.

«Wer ist denn da?»

«Anja! Hörst du doch!»

Eine Mücke kam sirrend zum Fenster herein, von seiner Körperwärme angezogen.

Der Wasserhahn in der Kochnische hinten machte in immer gleichen Abständen «Plopp».

In Jossas Trödelmarktwecker klemmte ein Rädchen, entlud sich der angestaute Federdruck mit einer leichten Vibration.

Vom Fluß her drang das Stampfen des Schiffsdiesels herauf, als die «Bürgermeister Büssenschütt», von Brake und Elsfleth glücklich heimkehrend, den Landungssteg ansteuerte.

Auf der Brammermoorer Heerstraße bremste ein Wagen im Rallyestil.

Wieder Anjas Stimme, ebenso klagend wie anklagend. «Ich bin extra von Stuttgart hochgekommen…!»

«Dann nimm den nächsten Zug und fahr wieder runter!» rief Mugalle. Wohl ein wenig zu schrill, doch das machte nichts, da Jossas Stimmlage, hörte man beide zugleich, eh eine Idee höher war als seine.

«Es geht um mich! Ich kann ohne dich nicht…! Jojo! Ich hab schon einen Suizid hinter mir. Das ist ein Hilfeschrei, meine Verzweiflung – hörst du das nicht!»

«Anja, bitte, es hat doch alles keinen Zweck mehr!»

«Mach wenigstens auf, hör mich an, laß uns noch mal in aller Ruhe über alles sprechen!»

Mugalle stöhnte auf, kannte solche Dialoge, denn Chantal liebte es, sie nächtelang zu führen. «Wozu denn!? Das haben wir doch schon x-mal gemacht, ohne daß dabei was rausgekommen ist.»

«Mach auf jetzt, sonst tret ich dir die Tür ein! Dann ist hier die Hölle los!»

Mugalle zwang sich, tief durchzuatmen. Dann drehte er den Dimmer auf die niedrigste Stufe hinunter, schuf ein ungewisses Dämmerlicht im Raum, nahm Jossas Nickelbrille vom Fernseher und setzte sie auf, besah sich kurz im Spiegel und zögerte wieder.

«Ich zähle bis drei! Eins… Und zwei… Und…»

Da war er an der Tür, hatte sie mit einem wütenden Hieb auf die Klinke so weit aufgerissen, daß die Wand dahinter Schaden nahm.

Er hatte Jossas Tagebücher und Briefe gelesen, Jossas Fotoalben durchgeblättert, und Anja Naujocks, die da im Treppenhaus stand, war ihm in einem solchen Maße vertraut, daß er zwar ein, zwei Sekunden brauchte, das reale Bild mit dem in seiner Phantasie gespeicherten angemessen abzugleichen, keineswegs aber derart verblüfft-erschrocken reagierte, daß sie den Männertausch sofort bemerkt hätte.

Ja, das war sie: Anfangs Kunststudentin, dann zu den Psychologen übergelaufen, später zwei Semester Schauspielschule, eine kaum verkaufte Platte Soul und Rock, im Aussehen imitierte sie die gerade populären Rocksängerinnen. Geht die Welt auch unter, ich geh nicht mit…! Doch es gab noch eine ernsthafte Seite. Sie hatte sogar ein Buch veröffentlicht: Anja Naujocks und Jens-Otto Jossa, Das Kunstverständnis von Bild-Lesern, Stuttgart 1983, 438 Seiten, DM 52,-.

Mugalle war ins Halbdunkel einer kleinen Diele getreten, ihr den Weg ins Zimmer freigebend, bemüht, ihr ganz klare Jossa-Signale zukommen zu lassen: Die Brille (er rückte sie mit einer kleinen Bewegung zurecht), den abgegriffenen Ringordner (er nahm ihn, scheinbar verlegen, vom Schuhschränkchen hoch, um ihn auf die Hutablage oben zu schieben), die braunen Camel-Lederstiefel (er stieß sie mit einem schnellen Fußtritt zur Seite), das «Markenzeichen» Lederweste (die hatte er an und drückte recht geräuschvoll zwei schwergängige Druckknöpfe zu).

Das erste Manöver gelang, Anja stürmte an ihm vorbei in die Mitte des Raumes, drehte sich im Kreis herum, hektisch, fiebrig, nahe am Ausflippen, die Bühne nutzend, doch noch ohne Text.

«Hier bist du also gelandet!» rief sie schließlich. «Gratuliere! Mein Gott, in Bramme! Alles hinwerfen, flüchten… Na, ist mir jetzt auch scheißegal, aber meine Sparbücher hätt ich gerne wieder, die hast du nämlich mitgehen lassen!»

«Nicht doch…» sagte Mugalle mit einem Versuch, möglichst stimmlos zu sprechen.

«Doch-doch!» Sie war viel zu erregt, um ein Ohr für bestimmte Nuancen zu haben. War vielleicht doch auch gekommen, das verdammte Unbewußte, um einen neuen Anfang mit ihm… Im Versuch, da gegenzusteuern, keifte sie fast. «Nicht genug, daß du mir alle meine Illusionen geraubt hast, nun auch noch all meine Ersparnisse…!»

«Das kann doch höchstens ein Versehen…»

«Ha-ha-ha!» Sie lachte furchtbar schrill und überzogen und begann nun wie ein verunsichert schnüffelndes Tier im Raume hin und her zu huschen, riß die Zeitungen vom Tisch und warf sie wieder hin, verspottete ihn: «Da weiß man, was man hat – in Bramme nur das Brammer Tageblatt. Großer Knall beim Feuerwehrball. Von Jens-Otto Jossa. Kinder stülpten Collie Tigerfell über – Großalarm in Bramme-Nord. O Gott, Jens-O.!» Fetzte seine Sofakissen von der Liege, roch daran. «Kein Parfüm, eher Samengeruch! Onanie immer – Aids nie! Mann, du…!» Wirbelte weiter, kickte mit dem rechten Fuß einen blau-roten Pullover vom Fußboden gegen den Fernseher. «Mein Weihnachtsgeschenk, selbstgestrickt, jetzt der Fußabtreter! O nein, du!»

Mugalle erwiderte nichts, machte nur einen Schritt zur Seite hin, wo es noch ein wenig dunkler war, schloß erst jetzt die Tür vollends.

«Und nach einem solchen Arschloch wie dir bin ich nun süchtig!» rief Anja, gerade vor der Heizung angekommen. «Aber die Koffer hast du auch schon wieder gepackt. Sieh da, sieh da, Timotheus…! Weiter nach Australien, was!? Abwarten, bis ich mal einen geglückten Selbstmord hinter mir habe!» Sie griff sich den Koffer und warf ihn aufs Sofa.

Dabei sprang er auf, und ein Teil des in ihm verbliebenen Geldes ergoß sich auf den grauen Teppichboden.

«Was denn, Jens-O. die Brammer Volksbank hast du auch noch überfallen!? Tüchtig, tüchtig, mein Junge!» Sie blieb stehen und sah ihn fordernd an. «Na, was ist denn da Sache?»

«Von der High Society hier ist einer entführt worden, und ich bin da der Mittelsmann…» Mugalle hatte keine Mühe mit seiner Begründung. «Keine Polizei, weil sie sonst…»

Anja erstarrte plötzlich. Nicht etwa als Folge seiner Erklärung, sondern eines rudimentären Instinkts wegen: der Mann da roch doch irgendwie ganz anders als Jossa, weniger nach Schweiß, ungewaschenen Socken und Männerumkleidekabine, mehr nach Duschmittel und teurem Rasierwässerchen, weiblicher und eleganter eben; das war nicht linke Szene, tip, zitty, Pflasterstrand sondern FAZ und Welt.

Sie ging langsam auf Mugalle zu.

«Sag mal, da stimmt doch was nicht…!»

«Was soll’n nicht stimmen?»

Das war die Assoziation: Die Stimme, ja! Höher war sie, viel mehr Bariton, und härter, norddeutscher.

Anja wich wieder zurück.

«Du bist doch gar nicht Jossa, du bist doch ‘n ganz anderer! Was wird’n eigentlich gespielt hier…!?»

«Das erst mal!» Mugalle riß eine Schublade des Jossaschen Schuhschranks auf und holte seine Beretta hervor.

Doch Anja war nicht der Typ, in dieser Situation alles über sich ergehen zu lassen.

«Hilfe!» schrie sie mit aller Kraft und stürzte gleichzeitig in Richtung des kleinen Balkons, um die Leute ringsum auf sich aufmerksam zu machen. «Feuer!»

Dann war alles eine Sache von Sekunden.

Als sie mit ziemlicher Wucht gegen das Balkongitter stieß, riß dieses aus der Wand, und sie stürzte kopfüber auf die Straße hinunter.

Mugalle dachte nichts weiter als «Scheiße, gottverdammte Scheiße!», war viele Pulsschläge lang ohne jede Kraft, ohne jeden Willen, hörte dann die Schreie auf der Gasse unten, wurde wieder aktiviert, riß die blaue Tennistasche hoch, stopfte das herausgefallene Geld in den Koffer zurück und lief mit beiden Stücken aus der Wohnung, rannte in die Technikzentrale und von da aus weiter ins Parkhaus hinüber.

 

 

Das war am Montagabend, und als Jossa am nächsten Morgen in der Schneiderwerkstatt seiner JVA beim Auftrennen falsch gesteppter Nähte saß, ahnte er nicht das geringste von allem, war weder bestürzt noch sonstwie von unguten Gefühlen erfaßt, erfreute sich im ganzen Gegenteil schon vom Aufwachen an eines euphorischen Hochs, denn heute war der Tag, an dem Chantal kommen mußte. Wie immer, am letzten Dienstag des Monats.

«Wenn Sie das bitte zu Protokoll nehmen würden: Das ist nicht Martin Mugalle, das ist ein ganz anderer Mann!»

Er hörte ihre Stimme, immer wieder, hörte sie so reden.

«Ich verlange einen Untersuchungsrichter, die Polizei, meinen Anwalt!»

Kein Zweifel, daß Zweeloo da nachgeben mußte, wollte er noch retten, was zu retten war.

Aber noch war es nicht soweit, noch hatte er zwei, drei Stunden zu warten, endlose Stunden.

Hinter ihm diskutierten die Knackis.

«Na, was sagt der Schlüsselspecht?»

«Der Chien? Knieschuß wieder mal!»

«Mensch, Schorse, du hast ja wirklich die Seuche diesen Sommer! Warum’n das, warum’n diesmal keinen Urlaub, äih?»

«Weil sie mich letzte Woche erwischt hatten, wo ich auf Trail gegangen bin.»

«Hat unser lieber Etagenkellner wieder mal ‘ne Lampe gebaut?»

«Bei der Geranie soll er sogar gewesen sein…»

«Der Trippelliese, der mußte mal wieder anständig in die Eier treten!»

«Ich hab doch noch x Koffer Schulden bei dem!»

«Diese Zinsengeier. Aufhängen alle, Mann, do!»

Jossa war ganz stolz, daß er inzwischen den Knacki-Jargon verstand: Da war einem «Kollegen» von seinem Gruppenbetreuer ein Urlaub nicht genehmigt worden, weil ein anderer Knacki ihn beim Anstaltsleiter wegen unerlaubten Verlassens seines Haftbereichs verpfiffen hatte, und zwar ein Mann, der von Männerbekanntschaften und vom Verleihen von Tabak und anderem lebte.

Ab 7 Uhr 50 begann seine erste Freistunde, und da wartete er schon, daß Kassau kam, um ihn zu den Besucherräumen unten durchzuschließen.

Doch nichts geschah.

Sicherlich zu früh für eine Frau wie Chantal.

Der Wäschewechsel war wieder mit einigem Wirbel verbunden. Einige der Häftlinge bekamen Fluchtverhinderungshosen ausgehändigt, viel zu weite Dinger, oder furchtbar schlabbernde Slips, ewig alte Unterhosen. Nichts paßte richtig, und gebügelt waren weder die beiden anstaltseigenen Oberhemden noch die Bettwäsche. «Wir sind doch nicht im Grand-Hotel hier, ihr Säcke!»

Baldow kam und heulte. Sie hatten ihm seine Gesuche auf Ausgang und Urlaub wieder einmal abschlägig beschieden.

Jossa legte ihm den Arm um die schmalen, schlaffen Schultern. «Warum denn das?»

«Weil ich angeblich keine sozialen Bindungen nach draußen hätte…»

«Und? Du hast doch Eltern…?»

«Schon… Aber anfangs hab ich mich so geschämt, daß ich… Also, sämtliche Kontakte nach draußen hab ich da abgebrochen. Und jetzt, da…»

«Laß man, bald bin ich ja draußen, und dann kannst du mich als Ansprechpartner angeben…»

Baldow sah ihn mitleidsvoll an.

Ein Schrei ließ sie auffahren. Sie rannten aus der Zelle, um zu sehen, was da los war draußen auf dem Flur, auf ihrer Galerie.

Taubert, gerade aus dem Bunker zurück, von Zweeloo begnadigt, hatte sich auf einem gerade genehmigten elektrischen Kocher eine Art Topfkuchen gebacken und ihn zum Abkühlen vor die Zelle gestellt; nun war er weg.

Kassau kam und lachte, als Taubert ihn bat, die umliegenden Zellen doch – bitteschön – alle zu filzen. «Mann, soll ich bei allen ‘ne Magenspiegelung machen!?»

Wenn er das Wort Kuchen hörte, war er ohnehin wenig begeistert, denn vor Jahren hatten ihn Knackis mal zum Kuchenessen eingeladen («Greifen Sie zu! Sie können ruhig zwei oder drei Stücken essen!»). Hatte er auch gemacht. Nur war da sehr viel Hasch im Teig gewesen, und er war ziemlich high und lallend durch die Anstalt gelaufen.

11 Uhr, und auch zu diesem Termin war Chantal nicht an der Pforte unten erschienen.

Ob Mugalle sie doch noch abgefangen hatte? Oder Zweeloo mitgemischt hatte, wenn die Variante 2 doch im wesentlichen stimmte? Wenn nicht gar die Geheimdienste, nach seiner Variante 6, ihre Finger im Spiel und Chantal irgendwie unter Druck gesetzt hatten.

Wer kam, war Nobby. Und zwar mit einer Hiobsbotschaft.

«Scheiße, du! S&O hat eben meine Zelle auseinandergenommen, absoluter Kahlschlag, und deinen Kassiber gefunden!»

«Meinen Brief an Lachmund?»

«Ja, ‘ne halbe Stunde, bevor ich los wollte!»

Jossa schluckte. «Na, macht nichts. Und was kriegen wir nun beide für ‘ne Strafe aufgebrummt?»

«Na, nichts, Mensch!»

«Wieso…?»

Nobby schüttelte den Kopf. «Haste immer noch nicht geschnallt, was hier Sache ist!? Der King bin ich, und Zweeloo freut sich, daß hier alles so supermäßig läuft! Und meinst du denn, der scheißt mich wegen so ‘ner Sache an!?»

«Und bei mir? Streichen sie mir was, Fernsehen oder daß ich Besuch empfangen kann?»

«Das hab ich schon für dich geregelt…»

«Danke, Nobby, ich…»

«Laß stecken! Du weißt ja: Vielleicht brauch ich später mal ‘n Rat oder Hilfe von dir… Wie Don Corleone von’er Mafia im Paten!»

Damit schlenderte er weiter, von Jossa in gewisser Weise bewundert: da waren Mann und Rolle eins.

Dr. Seeling lief vorbei, grüßte kurz und kehrte, als er schon am Ende des Flures angekommen war, bei Kassau stand, noch einmal zurück.

Jossa sah ihm mit einigem Bangen entgegen, fürchtete sich vor weiterem Ärger wegen seiner angeblichen Schizophrenie. Du Arsch von Mackendoktor, dachte er, gleichzeitig um ein lieb-erfreutes Lächeln bemüht: Kinder Gottes sind wir alle, und ich bin ebenso sanftmütig wie du, Bruder Seeling. Eine andere Überlebensstrategie gab es hier nicht.

Doch Dr. Seeling war ganz harmlos heute. «Mein lieber Mugalle, unser Gespräch neulich, das ist mir noch lange nachgegangen… Hoffentlich habe ich da bei Ihnen keine schlimmen Gefühle… Sie haben mich doch nach einer Kollegin gefragt, die früher mal als Praktikantin hier gewesen ist, der Anja Naujocks…?»

«Ja…»

«Das war ein Irrtum von mir. Die sitzt gar nicht im Rollstuhl, das hab ich verwechselt. Die Dame, die ich gemeint habe, die heißt Anke, Anke Soundso…»

Jossa sah ihm hinterher, und als er dann wieder beim Knöpfe-annähen saß, kam er gar nicht mehr von Anja los.

Anja auf dem Bett, wie er ihre Schenkel und Schamlippen mit einer großen Pfauenfeder streichelte, liebkoste. Bis sie ihn dann an sich riß. «Jetzt dein Mund!»

Anja, wie sie ihn zwingen will, auf ihrer Toilette im Sitzen zu pinkeln. «Ich wisch das nicht immer ab, wenn du da gewesen bist!» – «Pinkle du mal schräg nach unten, wenn er steht!»

Anja, nackt beim Sonnenbaden im Herrenhäuser Park. Er kommt mit einem Brief; ihre erste Rolle ist perfekt. Da springt sie auf und rennt den Hauptweg entlang, ihre Badehandtuch schwenkend.

Anja, wie sie («Mensch, du, wie das prickelt, echt irre!») im Minirock durch die hitzeheiße Innenstadt geht, mit keinem Slip darunter.

Wie sich ihre prüde Tante Kathi zum Fünfzigsten den «schönsten Gummibaum wünscht, den es in Fulda gibt», und Anja einen riesengroßen Birkenzweig nimmt, die Blätter abknipst und dafür Kondome überstreift.

Wie sie es einfach nicht schafft, das Wort «Institutionalisierung» fehlerfrei zu sprechen («Kußschäden an der Zunge!»), wie sie ihn mit ihren braunen Augen («Anja, mein Rehlein!») unentwegt fixieren konnte: Wer bist du? Wirst du mir Glück bringen, oder wirst du mich vernichten?

Im «Gitterstäbchen», der hiesigen Gefangenenzeitung, hatten sie ein Gedicht aus dem «Pendel» nachgedruckt, aus der JVA in Lüneburg, das er an diesem Tag immer wieder las: Detlef Jacobs, beim besuch…

 

beim besuch

halte ich deine hand

sehe dich an…

möchte dir so viel sagen…

eine viertel stunde

kraft tanken

und leben dürfen

und wärme spüren

halte deine hand

streiche dir übers haar

und bin froh

noch zu leben

nehme die kraft

die ich brauche…

eine viertel stunde

das gefühl

wieder mensch zu sein

dafür danke ich dir…

 

Jossa schloß die Augen und suchte mit all seiner Kraft seinen Willen so zu bündeln, daß er wie ein Laserstrahl zu Anja dringen konnte: Bitte, komm doch her, erlöse mich! Ich brauche dich, Anja!

Zugleich erschrak er darüber, denn was sollte das alles: Chantal kam, nicht Anja.

Doch der Tag verging, ohne daß Mugalles Verlobte in der JVA erschienen war, er wartete fieberhaft bis 17 Uhr 30.

Aus und vorbei.

Zerplatzt wie eine Seifenblase.

Dafür kam Kassau grinsend auf ihn zu, das Brammer Tageblatt schwenkend.

«Bloß gut, Mugalle, daß du nich wirklich Jossa bist! Sei froh…!»

«Wieso’n das…?»

«Weil du sonst zu uns in den Knast kommen würdest…!» Er lachte schallend über seinen Gag, konnte sich gar nicht mehr einkriegen, lief krebsrot an, ließ mehrere Kollegen herbeieilen. «Als Mörder aber!»

Jossa starrte ihn an. «Versteh ich nicht…?»

«Na, Mensch, weil der Jossa, der echte Jossa draußen, weil der gestern abend seine Ex-Verlobte aus’m Apartment rausgestürzt hat, oben vom Balkon runter…! Anja hieß die. Auf der Stelle tot. So ‘n einziger Matsch nur noch…»

Jossa wehrte sich mit aller Kraft dagegen, diese Information in sein Bewußtsein dringen zu lassen, sie rational zu registrieren, wollte sie abprallen lassen wie ein Tennisball von einer Wand. Fragte nur leise und mechanisch. «Ist er denn verhaftet worden…?»

«Nein, auf der Flucht is’ er.»

Jossa war derart geschockt, daß er nicht fähig war zu irgendwelcher Arbeit, auf seinem Arbeitsschemel ganz in sich zusammensackte und vom Meister in seine Heimatzelle durchgeschlossen werden mußte.

Dort allein hieb er, wie ein Specht oben in der Kiefer, so lange mit dem Kopf gegen die hölzerne Seitenwand seines Schrankes, bis er das Bewußtsein verlor.

Als er wieder zu sich kam, riß er Mugalles kunstvolle Chantal-Collage mit einem Ruck herunter, schmiß alles auf den Boden, zertrampelte es.

Chantal wie Anja, er mußte beide aus seinem Leben streichen.

Am Mittag des nächsten Tages kam dann Kassau und warf ihm einen Briefumschlag in die Zelle, traf fast die Schüssel mit Linsen und Wurst.

«Gratuliere, Mugalle, da haben Sie ja damals eine tolle Eroberung gemacht!»

Jossa ließ den Löffel in die Schüssel gleiten, dachte automatisch an Chantal, obwohl Kassaus Kommentar dann wohl anders ausgefallen wäre. Hastig suchte er den Absender, fand ihn vorne links: Eva Schauß, Oewerweg, 2800 Bremen 44. Weißes Papier mit bunten Sommerblumen bedruckt.

«Mein lieber Martin, Du wirst Dich noch an mich erinnern: die Eva Meinholt aus der 13 b. Warum ich Dir jetzt schreibe? In einer alten Illustrierten habe ich einen Artikel über Dich gefunden und weiß, daß Du jetzt in Bad Brammermoor einsitzen mußt und es schwer haben wirst. Vielleicht hilft Dir dieser kleine Brief ein wenig. Ich lebe hier in Bremen und betreibe im Ostertorviertel ein Heimwerkergeschäft. Mein Mann, der es aufgebaut hat, ist letztes Jahr gestorben, Kinder haben wir keine. Du wirst es mir nicht übelnehmen, wenn ich Dir jetzt ein Geständnis mache. Damals vor zwanzig Jahren habe ich mich nie getraut zu sagen, daß Du eigentlich meine erste große Liebe warst. Da warst du ja eng mit unserer Edelgard liiert, die wir, o Gott, vielleicht bald als neuen Bundeskanzler haben werden. Da hattest Du nie einen Blick für mich. Und ich war so wild auf Dich. Ob Du mir mal schreibst? Ich würde mich jedenfalls sehr darüber freuen. In alter Liebe Deine Eva.»

Wahnsinn, das ist ja irre! schoß es Jossa durch den Kopf. Klappte es auch nicht mit Mugalles jetziger Braut, so wenigstens mit seiner Verflossenen.

Doch was nutzte die ihm schon! Seit zwanzig Jahren hatte sie ihren Mugalle nicht mehr live zu sehen bekommen, wie sollte sie da in der Lage sein, ihn als Nicht-Mugalle zu erkennen?

Jossa warf den Brief in seinen Schrank und ging zum Duschen.

Als er endlich an der Reihe war und sich den matten Strahl auf den Kopf rieseln ließ, fiel ihm auf, das Kassau von der Tür her immer wieder zu ihm herüberstarrte. Warum denn das, Männer interessierten den doch wenig. Als er sich dann abtrocknete, stand der Beamte hinter ihm und fuhr ihm mit den Fingerkuppen den Rücken hinunter.

«Haben Sie die Narbe da denn schon immer gehabt?»

«Ja. Da bin ich mal beim Hochsprung auf die Latte gefallen. Das war ja damals alles noch Holz. Und die ist dann zerbrochen und mir voll in den Rücken rein. Tödlich war’s nun auch wieder nicht, aber…» Jossa stutzte, war voll jäher Hoffnung. «Warum fragen Sie…?»

«Ach, nur so…» Kassau wandte sich ab, ein wenig zu abrupt, wie Jossa schien. «Scheint sich ein bißchen entzündet zu haben… Sein Sie mal vorsichtig damit…»

Er ging, und während sich Jossa wieder anzog, hatte er das sichere Gefühl, daß Kassau da eben ein echtes Aha-Gefühl gehabt haben mußte. Da ist eine Narbe, die der andere Mugalle doch nie und nimmer…!

Sicher, sagte sich Jossa, wieso hätte er mich sonst gesiezt?

In der Zelle zog er sich noch einmal aus, um sich die Narbe knapp rechts über der Hüfte mit Hilfe eines Spiegels genauer zu besehen. Allerdings, sie war ein wenig gerötet, wirkte stellenweise richtig bläulich.

Da war es also doch nichts mit seinem Verdacht.

Andererseits, warum standen denn Zweeloo und Kassau in der Nähe der Kanzel flüsternd beisammen?

Jossa machte sich daran, die Antwort darauf in gewohnter Weise niederzuschreiben.