Martin Mugalle frei in Bramme I
Mugalle parkte Jossas schwarzen Golf auf der schmalen Schotterschneise, die sich von der Knochenhauergasse bis zur Packhofstraße hin erstreckte, ins alte Fachwerkviertel teils 1944 von Royal Air Force-Bomben geschlagen, teils vom angrenzenden Hotel «Zur Stadtwaage» zwanzig Jahre später widerrechtlich, doch mit filz-freundlicher Duldung des Stadtdirektors von Bulldozern plattgewalzt.
BRE-JO 345, und ein nagelneues Nummernschild. Mugalle sah es lange an, memorierte Buchstaben und Ziffern mit halb geschlossenen Augen, trat dabei eine zerfledderte Matratze, von spielenden Kindern vergessen, gegen eine weiß getünchte Mauer.
Das Gewitter war vorüber. Die Sonne knallte wieder vom plattdeutschen Himmel, verdampfte das Wasser der noch verbliebenen Pfützen.
Jossa hatte sein Konto bei der Deutschen Bank am Markt, also ging Mugalle ins Bankhaus Buth hinein, Knochenhauergasse, in die neue Filiale, dem Mönchsgang gegenüber.
«Meine hat schon zu», sagte er, als er der Dame hinterm Panzerglas, amerikanisch aufgetakelt, Mitte Fünfzig, einen auf 400 DM ausgestellten Scheck nebst Euro-Card hingab. «Die Gebühr können Sie gleich abziehen…»
«Würden Sie bitte auf der Rückseite des Schecks noch einmal Ihre Unterschrift, Herr Jossa…!» Ihre Aussprache war so geziert wie sie selber.
Mugalle klopfte Jossas, klopfte seine Lederweste ab, suchte in allen vorhandenen Taschen, konnte aber keinen Kugelschreiber finden, fluchte leise vor sich hin, nahm schließlich den, den sie am Marmortresen festgebunden hatten.
Er zögerte unmerklich, schloß die Augen, signalisierte, Kopfschmerzen zu haben, konzentrierte sich voll und ganz auf Jossas Unterschrift, Kasparow im Endspiel, hatte sich den Galgen des J eingeprägt mit aller Kraft, auch die vier Kringel dahinter, kleine Spiralen: o-s-s, alle gleich, rechts oben begonnen und nach links in rückkehrendem Bogen gezogen, und dann das a ein wenig kindlich, mit einem Schwanz nach rechts außen endend.
Ein kurzes Schwungholen noch, dann schrieb er, war auch deswegen verunsichert, weil er ja durch Jossas Brille, so schwach sie war, alles leicht verschwommen sah.
«Bitte sehr…!» Endlich reichte er den Scheck zurück.
«Danke sehr…» Mit geübtem Blick prüfte die Kassiererin die Unterschrift, ließ sich damit viel, viel Zeit.
Mugalle zog Jossas Personalausweis hervor und hielt ihn bereit, die Seite mit dem Paßbild aufgeschlagen.
Sie sah es und gab ihm die Scheckkarte wieder. «Bitte sehr, Herr Jossa. Wie darf es denn sein?»
«Gestückelt bitte.»
«Gerne.» Sie wandte sich zu ihrem Pult, wo alle Scheine und Münzen wohlgeordnet lagen, griff sich in sagenhafter Schnelle das Gewünschte, einmal blau, viermal braun, viermal grün und zu guter Letzt noch einige silberne Münzen, selber berauscht von ihrer Aktion, zählte sie ihm das alles vor, die Zwischensummen mitmurmelnd.
«Vielen Dank!» sagte Mugalle, und seine Finger zitterten ein wenig, als er Jossas Geld mit einem einzigen Griff aus der Plastikschale nehmen wollte. Ein Markstück glitt ihm aus der Hand, fiel hinunter, rollte den Boden entlang. Hartgummi war da ausgelegt, schwarz, mit vielen runden Inseln darin, wie auf vielen Flughäfen auch.
Mugalle hatte Mühe, die Münze unter einem Tisch mit Prospekten zu finden, und als er wieder hochkam, sah er einen grün-weißen Streifenwagen Mönchsgang Ecke Knochenhauergasse halten, das Blaulicht eingeschaltet, hörte nun auch ein, zwei Martinshörner gellen.
Er rührte sich nicht, stand da wie alle anderen Kunden: versteinert.
Ein Telefon schrillte, schmerzhaft eindringlich, grell wie eine Nuttenstimme, so schien es Mugalle, und verstummte wieder.
Eine elektronische Maschine war von einer Aushilfskraft mit einem vertippten Buchstaben allein gelassen worden und piepte nun kläglich.
Ein Heuallergiker nieste zwei-, dreimal und bekam seine Nase erst mit einem Sprühstoß Lomupren unter Kontrolle.
Mit kurz nachhallendem Klicken sprang die Uhr über Mugalle auf die nächste volle Stunde um.
Dann herrschte für Sekunden absolute Stille, ehe die Polizisten drüben eine Pinte stürmten, im Mönchsgang gegenüber, ein Bistro mit dem Namen m.a.v. vor kurzem erst eröffnet.
Mugalle machte sich daran, das Geld in Jossas abgewetzter Lederweste zu verstauen, erforschte gleichzeitig deren Taschen noch weiter.
Es dauerte, und als er das Bankhaus Buth wieder verließ, kam ihm vom Mönchsgang her ein Mann entgegen, der ihn genau zu kennen schien. Ob als Jossa oder als Mugalle, das ließ er mit einem lauten «Hallo!» völlig offen.
Mugalle blieb stehen.
«So ‘n Zufall!» lachte der andere.
Mugalle sah ihn an, studierte ihn. Mitte Zwanzig, leptosom, hochintelligenter Technokrat, einer, der sich morgens ans Klavier setzte, um Schumann zu spielen, und mittags zwanzig Mann erschießen ließ, ein liebes Märchenprinzengesicht, aber zugleich auch fischig und fies, Möwenaugen unter angeklatschten schwarzen Haaren, weicher Frauenmund, fehlte nur der Lippenstift, aber eine Nase, sozusagen kühn und scharf, die Nase eines Westernhelden.
Mugalle wurde offensiv, wenn auch mit aller Vorsicht, zeigte zum Bistro hinüber. «Wieder mal was los da drüben?»
«Drüben sind nicht nur unsere Brüder und Schwestern…»
Mugalle suchte weiterhin nach einem Ansatzpunkt.
«Mensch, Jossa, was ist los mit Ihnen heute…!? Vorgestern haben wir noch darüber… Sie sehen blaß aus, ist Ihnen nicht gut…?»
«Doch, doch!»
Die Rettung kam, als ein paar TV-Leute mit Kamera und Mikro aus einem schnell geparkten Kombi stürzten und Mugalle nach Rugby-Art zur Seite drängten.
Aufnahme.
«Meine Damen und Herren, in Bramme ist es auch heute wieder zu einer spektakulären Razzia gekommen. Ziel war diesmal das Bistro m.a.v. in der Altstadt hinterm Markt. Thomas Catzoa, Sie sind Hauptkommissar hier in Bramme; warum dies alles?»
Nun wußte Mugalle, mit wem er das Vergnügen gehabt hatte. Hastig steckte er sich zwei von Jossas Pfefferminzpastillen in den Mund.
«Wir fahnden ja», erklärte Catzoa, «mit Hochdruck nach Mitgliedern jener terroristischen Vereinigung, der Aktion Nord, die in den letzten Monaten im Großraum Bramme nicht nur für das Absägen dreier Strommasten verantwortlich zeichnet, sondern auch die Oberleitung der Strecke Bramme-Oldenburg an mehreren Stellen zerstört und den Zugverkehr nachhaltig behindert hat.»
«Und welcher Zusammenhang besteht nun zur Razzia im Bistro drüben…?»
«Wir haben Erkenntnisse, daß Mitglieder der Aktion Nord dort mehrere Treffen abgehalten haben. Wenn Sie den Namen des Lokals lesen – m.a.v. –, dann könnten Sie denken, das hieße manfred and verena, nach den Anfangsbuchstaben der Vornamen der beiden Betreiber. Heißt es aber nicht…»
«Sondern…?»
«Für die Eingeweihten heißt das: Mort aux vaches, gleich: Tod den Polizisten, denn im französischen Verbrecherjargon sind sie Polizisten die vaches, die Kühe…»
«Ah, ja, vergleichbar unseren Bullen also…»
Mugalle löste sich aus der schnell angewachsenen Menge, die das Catzoa-Interview live mitbekommen wollte, und ging die Knochenhauergasse hinunter, an der stadtbekannten Pension der Witwe Meyerdierks vorbei, wohl ein bißchen Edelpuff geworden, und einem endlos langen grauen Kasten, dem Luperti-Stift, von einem der unbegabtesten aller Schinkel-Schüler für den tristen Lebensabend bessergestellter Damen gedacht, fand den Zugang zur Fährgasse nicht gleich, mußte erst den fettleibigen Hausmeister fragen, der vorm Albert-Schweitzer-Gymnasium die mittags niedergetretenen Ziersträucher wieder aufzurichten versuchte.
«Gleich rechts hier, wo der Supermarkt ist, Taschenmacher!»
«Danke, ja.»
Jossas Adresse war Fährgasse 28, Apartmenthochhaus, Eingang Ecke Packhofstraße.
Mugalle erreichte ihn ohne weitere Verzögerung, hatte auch keinerlei Mühe, den Namen Jossa unten an den Klingelknöpfen zu entdecken und den richtigen Schlüssel herauszufinden.
Der Fahrstuhl kam, kaum daß er das Aufwärtsknöpfchen gedrückt hatte, und eine säuerlich ausschauende Rentnerin trat ins Treppenhaus hinaus.
«Guten Tag», murmelte Mugalle.
«…’n Tag!» Sie hatte keinerlei Interesse an ihm.
Dafür aber um so mehr die junge Frau, die mit ihr herabgekommen war, bäuerlich-massiv, von der Figur her zum Kugelstoßen prädestiniert, aber mit einem Gesicht, das, von einer Brille dahingehend gefördert, auf ein hohes Maß an Reflexion und innerem Erbeben hindeutete.
«Haben Sie’s schon gelesen?» fragte sie Mugalle.
Der stöhnte auf. «Heute abend ganz sicher…!»
«Es ist ja so ganz anders, Herr Jossa, als Ihr eigenes Hörspiel für den WDR…»
«Ja, als Mann, da…»
Sie sah ihn sehr verwundert an, hatte hinter ihren Brillengläsern Augen groß wie Gedenkmünzen. «Gestern noch, da waren Sie voll meiner Meinung, daß das Androgyne als Prinzip auch bei Ihnen absolute Priorität eingeräumt bekommen hätte…?»
«Gestern hab ich die Welt auch noch aus einer ganz anderen Perspektive gesehen!» lachte Mugalle und machte einen Schritt in den Fahrstuhlkorb hinein.
«Darüber müssen wir nachher noch reden, Herr Jossa!»
«Aber ja!»
Die Türen schlossen sich, und Mugalle glitt nach oben, stieg aus im fünften Stock und stand Sekunden später in Jossas Apartment, durchquerte es und trat ans Fenster, sah auf die Stadt und das grün gewellte Brammer Umland hinab.
Wie eine große Furche der Fluß mit seinen Deichen, wie ein Kanten Brot die Brammer Geest. Davor ein Pickel aus Sand, der Pötterberg, doch mit einer Mühle, die im Abendsonnenschein gewaltig wie ein Gipfelkreuz wirkte. Dahinter endlos das Moor, und kupferrot-golden darin aufleuchtend die Backsteintürme von Bad Brammermoor, allen voran die der Kirche auf dem JVA-Gelände. Mit dem Mühlensee von Wittkoppen sah der Knast wie ein Wasserschloß aus.
Hinter ihm pingelte das Telefon.
Mugalle ging hin, und mit festem Griff nahm er den Hörer hoch, hustete vorbeugend.
«Jossa!» rief er. «Ja, bitte…?»
Sekunden nach dem Erwachen, als sein Gehirn wieder zu funktionieren begann, schien Jens-Otto Jossa völlig klar, was da geschehen war: Schlecht war ihm geworden, sein Kreislauf wieder, das tropischschwüle Wetter, und mit einem Kollaps hatten ihn die Sanitäter hier in der Zelle auf die Pritsche gelegt. Mugalle. Der Aufgesetzte. Der Beginn des Interviews. Alles war ihm voll bewußt.
Er begann sich aufzurichten, rieb sich Stirn und Schläfen, setzte die Beine auf den Boden, ging zum Becken, drehte den Wasserhahn auf und hielt den Kopf darunter. Die Schmerzen, Aschermittwochskater hoch drei, ließen spürbar nach. Wo war die Brille geblieben? Weg. Egal.
Jossa ging zur Tür, sie aufzuziehen und den Sani zu rufen, doch sie bewegte sich nicht, war fest verschlossen. Knast, na ja, das übertriebene Sicherheitsdenken der Beamten hier.
«Hallo!» rief er, im Tonfall so, als ginge es um einen säumigen Kellner, und schlug dann, als sich nichts rührte, mit den offenen Handflächen ziemlich energisch gegen das wellig-elastische Blech, mit der sie innen die Tür gepolstert hatten.
Wieder keine Reaktion draußen auf dem Flur. Und das Stutzen über diesen Tatbestand eskalierte zum puren Entsetzen, als er plötzlich bemerkte, daß er nicht mehr seine Sachen trug, sondern Mugalles. Statt Lederweste und Jeans ein sackartiges Hemd, blauweiß gestreift und von absoluter Scheußlichkeit, und eine Trainingshose, wie sie im Dritten Reich modern gewesen war, opahaft und schlabbrig.
Er begriff sofort, was hier gelaufen war, und dennoch stand er völlig fassungslos da, starrte in die offene Kloschüssel neben der Tür, sah, wie das Wasser aus der undichten Spülung in einem kleinen Bach durch hüglige Bremsspuren rann.
Dann fand er eine Antwort für das alles: Da hatten sie wieder mal einen der Scheißjournalisten reinlegen wollen. Was mußte der auch seine dreckige Schnauze in alles stecken, was ihn einen feuchten Kehricht anging.
Ein übler Streich also.
… wir dachten, Sie hätten mal Interesse am echten Knastgefühl…!
Na schön, mußte er also gute Miene zum bösen Spiel machen, das Gesicht wahren, souverän bleiben.
Tief durchatmend drückte er die Ampel, rief per Notsignal den aufsichtführenden Beamten herbei.
Kassau kam und fragte, was denn los sei, ohne aber aufzuschließen und den Blickkontakt zu suchen.
«Es war ja wirklich ‘n netter Gag von Ihnen, mich hier einzusperren, aber ich möchte jetzt langsam wieder nach Hause…»
«Wenn ich schon mal beide Augen zudrücke und euch euern Aufgesetzten lasse, dann besauft euch wenigstens nicht dauernd!» grollte Kassau. «Noch einmal umsonst die Ampel gedrückt, mein Lieber, und dein nächster Einkauf fällt ins Wasser! Capito?»
Jossa wurde langsam ungeduldig, wurde zornig, aggressiv, kannte es nicht anders, als daß sie ihn, den Journalisten, fast alle hofierten, mit verbalen Streicheleinheiten, wenn nicht gar mehr, zu beeinflussen suchten; und nun diese Arschlöcher hier im Knast, die ihn wie den letzten Dreck behandelten.
«Nun hab ich aber die Nase voll von Ihrer Posse! Sie wissen doch ganz genau, daß ich der Jossa bin und nicht der Mugalle!»
Kassau lachte. «Mensch, Mugalle, letzte Woche waren Sie der alte Rothschild und davor Graf Lambsdorff! Der Trick auf Haftverschonung, der zieht doch nun nicht mehr, und ins Krankenrevier kommen Sie deswegen auch nicht eher. Schizophrenie, das ist doch ‘n Witz; Mann, Mugalle!»
«Herrgott, ich bin nicht Mugalle, ich bin Jens-Otto Jossa!»
«Soll’n wir dich wieder mit Beruhigungsmitteln vollstopfen, oder hast du Sehnsucht nach der Arrestzelle, was!?» Erneutes Gelächter.
Jossa zwang sich mit aller Kraft zu einer sachlichen Erwiderung. «Ach so, ich verstehe: Das hier habt ihr gemacht, damit ich fürs Brammer Tageblatt ‘ne schöne Story bekomme! JVA will Journalisten echtes Knastgefühl vermitteln – Wie unser Reporter drei Stunden lang zum echten Knacki wurde…»
«Sie haben ja schon immer ‘ne Menge Phantasie gehabt, Mugalle!»
Jossa versuchte es mit aller Eindringlichkeit, mit allem Ernst, mit aller Überzeugungskraft. «Herr Kassau, ich bitte Sie um alles in der Welt: Sie müssen doch vorhin beim Aufschließen der Zelle bemerkt haben, daß da einer wie tot aufm Bett gelegen hat!»
«Sie doch selber, Mensch! Sie haben doch das Interview von sich aus abgebrochen und sich schlafend gestellt, damit der Jossa endlich wieder geht!»
«Ich bin der Jossa! Mugalle ist mit meinen Sachen und meinem Ausweis getürmt!»
«Du hat ja ‘n Arsch offen, Mann!»
Ein wütender Fußtritt gegen die Tür, dann entfernte sich Kassau mit schweren Schritten.
Jossa sank aufs Bett, bekam keine Luft mehr, schnappte, keuchte, jiemte, röchelte, bäumte sich auf, konnte endlich etwas Schleim abhusten. Die Brust war eng geworden. Reißende Schmerzen zogen von der linken Schulter über den Arm bis in die Finger. Er wußte, daß er zur Angina pectoris neigte, wußte auch, daß das im schlimmsten Falle Herzinfarkt hieß, kam diesem Punkt auch immer näher, als ihn die Angst, die Panik wie eine Flutwelle erfaßte und fortriß. Allein wie auf einem Floß im Ozean, so lag er hier auf seiner Pritsche, von der Welt vergessen, längst verreckt, bevor ein Arzt zur Stelle war.
Was wurde hier gespielt?
Das konnte doch nicht wahr sein, daß ihn alle für Mugalle hielten und der echte Mugalle längst draußen war, auf und davon. Das war doch Deutschland hier, nicht Südamerika, hier gab’s doch so was nicht! Hier verschwanden doch Menschen nicht spurlos irgendwo im Gefängnis.
Er bemühte sich, tief und ruhig zu atmen, erhob sich auch wieder, dehnte den Brustkorb, indem er die Arme weit nach oben streckte, dann nach hinten zog.
Er fühlte sich so schwach wie nach einem schweren Infekt, die Beine schienen wegzuknicken, doch es gelang ihm schließlich, den Prozeß zu stoppen, der auf einen Kollaps zulief, Gedanken, Gefühle und Nerven wieder unter Kontrolle zu haben.
Er war Jens-Otto Jossa, und er war hier in Bramme-Bad Brammermoor. Völlig undenkbar, daß da einer ohne Anwalt und Gerichtsverfahren im Knast verschwand. Und noch dazu ein Journalist; die Freiheit der Presse! Die waren doch hier nicht vom Wahnsinn befallen!
Er war so schweißgebadet, daß er jetzt fror, sich Mugalles Decke umlegte und wieder setzte.
Ruhig bleiben, ganz ruhig!
Nur nicht die Nerven verlieren!
Kommt Zeit, kommt Rat!
Morgen lachst du drüber!
Und mit dir die ganze Republik, denn das ist doch eine phantastische Story.
Jetzt überleg mal ganz in Ruhe, wie du hier wieder rauskommen kannst…!
Was waren denn die Fakten? Mugalle hatte ihn mit seinen k.o.-Tropfen betäubt, sich seine Sachen angezogen und war dann mit seiner Passierkarte zum Ausgang geeilt, hatte sich als Jossa überall durchschließen lassen. Und das mußte ihm auch alles geglückt sein, sonst hätte es ja hier drinnen längst Großalarm gegeben. Kassau hatte nichts gemerkt, war zu unsensibel, zu naiv und zu gutgläubig dazu, außerdem ja, wie seine Reaktionen klar erkennen ließen, von Mugalle oft genug genasführt worden.
Aber Zweeloo, der Anstaltsleiter, ein studierter Mann, im Umgang mit Leuten der gehobenen Schichten viel erfahrener als ein einfacher Schließer und daher zur Differenzierung eher befähigt, Zweeloo, der mußte doch auf der Stelle bemerken, daß er Jossa war ‘ und nicht Mugalle.
Doch wie den Anstaltsleiter herbeiholen? Sicher nicht, indem er Kassau darum bat, auch nicht durch ein Formular und demutsvolles Bitten. Wenn schon, dann durch eine brisante Aktion.
So drückte er abermals den Notsignalknopf und verhielt einen Augenblick, bis er draußen Lärm und Schritte hörte, nahm dann Mugalles Stuhl und donnerte ihn mit derartiger Kraft gegen die Tür, daß ein Bein abbrach.
«Ich will sofort den Anstaltsleiter sprechen, sonst bring ich mich um, und ihr habt hier ‘n Untersuchungsausschuß am Hals!»
Das Glas, aus dem er vorhin Mugalles selbstgemachten Schnaps getrunken hatte, flog ins Waschbecken und schnell war eine größere Scherbe gefunden, mit der man sich mühelos die Pulsadern aufschneiden konnte.
«Ich hab hier ‘ne Scheibe in der Hand, ich mache ernst!»
Stille draußen, dann Kassaus Stimme. «Okay, in fünf Minuten ist er da!»
Jossa wartete und konnte nicht verhindern, daß er inzwischen auf dem Bildschirm hinter seinen Augenlidern viele Bilder, Bildfetzen aus dem abendlichen Bramme sah.
Im Mönchsgang das Bistro, das m.a.v. Catzoa würde in dieser Minute dort sitzen, gehaßt von allen anderen Gästen, aber von den Brammer Bürgern draußen als Held gesehen.
Die Knochenhauergasse nebenan mit Mutter Meyerdierks, die nicht mehr merkte, daß die netten Mädchen in ihrer Pension im Brammer Tageblatt täglich ihre Entspannungsdienste anboten.
Günther Buth, diese Kreuzung zwischen Ludwig XIV. und einer Dampfwalze, wie es im Spiegel mal geheißen hatte, daß im Restaurant Zum Wespennest, seinem Eigentum natürlich, und wartete darauf, von ihm, Jossa, nach der Nutzung mehrerer tausend Quadratmeter Bodens am Reiherberg befragt zu werden. Die hatte er von einer verstorbenen Tante geerbt, und es ging nun das Gerücht, Buth wolle dort nun statt der vorgesehenen Tennisanlage eine Lackfabrik errichten.
Das war das Wahnsinnigste dabei: Da war er mit dem mächtigsten Manne weit und breit so ziemlich kordial, und dennoch hielten diese Ärsche ihn hier fest, Leute, die ansonsten fast ihn Ohnmacht fielen, wenn Buth auch nur in ihrer Nähe war.
Oder Frauke, seine Verehrerin, dieser schreibende Pfannkuchen von nebenan aus der Fährgasse. Die mit dem Hörspiel, das er dem Kamps vom WDR verkaufen sollte. Die hätte schon längst ihre Leute zur Demo zusammengetrommelt, wenn sie auch nur geahnt hätte, was hier mit ihm geschah.
Bramme hätte es doch fühlen müssen, daß hier einer widerrechtlich festgehalten wurde, daß «der Jossa vom B. T.» irgendwie abgeschossen werden sollte. Aber nein, das Leben draußen lief ungestört weiter, kein Aas dachte an ihn. Er hätte die ganze Stadt dafür in die Luft sprengen können.
Plötzlich war Action, Hochbetrieb im Flügel B, hallte alles wider von zugeworfenen Gittern, militärisch ausgestoßenen Befehlen, den Stiefeln der Sicherheitsgruppe.
Dann fuhr der Schlüssel in die Tür, die Riegel wurden weggestoßen und Jossa mußte einen Schritt zurückspringen, um nicht getroffen zu werden, als das schwere Ding aus Holz und Stahl und Blech nach innen flog.
Zweeloo stand da, zum Theaterbesuch festlich gekleidet, hatte gerade zu Hauptmanns «Biberpelz», der Diebskomödie, losfahren wollen, wirkte reichlich deplaziert inmitten seiner martialischen Männer in ihrer unschönen anthrazitgrauen Kluft, war auch nicht sonderlich begeistert davon, daß die ihm wieder mal ihre hohen Judo- und Karatekünste vorführen wollten, sah kopfschüttelnd zu seinem Gruppenleiter hinüber.
«Was ist denn los hier, Kassau? Und Sie, Mugalle…?»
«Gott, sehen Sie denn nicht, daß ich in Wirklichkeit…! Ist doch ganz eindeutig, daß ich nicht, also wer hier und wer nicht…!» Jossa war, trotz aller Vorsätze, doch viel zu aufgeregt, nervös, erschüttert, um seine Argumente und Gedanken so vorzutragen, daß es Eindruck machte, er souverän erschien und voller Überzeugungskraft, verhaspelte sich statt dessen wieder und wieder, war kein selbstbewußter Journalist, sondern nur ein total von der Rolle gekommener Knacki. War es die Kleidung, die solches bewirkte, Mugalles muffig-billiges Zeug, waren es die Blicke und die ausgestrahlten Kräfte der versammelten Männer, deren Zuschreibung: Du bist Mugalle, wir wissen es; und weil wir es wissen, bist du Mugalle! Ihr Bewußtsein schaffte quasi Fakten, so gewichtig war es, durch keinen Zweifel geschwächt.
«Das ist Freiheitsberaubung», schrie Jossa, «was Sie da mit mir machen!»
«Das ist das legitime Monopol des Staates auf physische Gewalt», erwiderte Zweeloo, ebenso akademisch wie arrogant. «Auch ihr Volkswirte, lieber Mugalle, solltet das wissen.»
«Ich bin nicht Mugalle, verdammt noch mal! Mugalle hat mir k.o.-Tropfen ins Glas geschüttet und ist dann auf und davon! Sie machen sich mitschuldig, wenn Sie nicht sofort nach ihm fahnden lassen!»
Zweeloo dachte daran, daß er nun zu spät ins Brammer Stadttheater kommen würde, und daher lautete sein nächster Satz nicht anders als: «Nun lassen wir doch endlich das ganze Affentheater, Mensch, Mugalle! Weg mit der Scherbe, und ich laß Sie auch nicht in die Arrestzelle stecken. Vergessen wir Ihre kleine Rolle als Jens-Otto Jossa. Sie hätten sich wenigstens noch eine Brille zulegen sollen, um ihm ein bißchen ähnlicher zu sehen…!»
Während Zweeloo den Konflikt durch Heiterkeit entschärfen wollte, mußte Jossa versuchen, den anderen den Ernst des Ganzen begreiflich zu machen.
«Meine Brille hat Mugalle mitgenommen; ist denn das so schwer verständlich?! Meine Brille, meine Hosen, meine Lederweste!»
Die Reaktion bestand in nichts anderem als schallendem Gelächter, und Jossa hatte, mysteriös die Zündfunken in seinen Synapsen, plötzlich zuckend und verwaschen eine kleine Szene vor Augen, die Sketchup-Verfilmung eines uralten Kalauers: Ruft da ein Schwimmer, der gerade am Ertrinken ist, laut um Hilfe. Fragt ein Mann am Ufer. «Warum schreien Sie denn so?»
«Weil ich keinen Grund habe!»
«Na, wenn Sie keinen Grund haben, dann brauchen Sie doch nicht derart laut zu schreien!» Spricht es und eilt kopfschüttelnd weiter.
Zweeloo musterte ihn mit der Konzentration eines Hautarztes, der nach einer Krebswucherung suchte. Ein Funken Hoffnung für Jossa.
Aber vielleicht sah er für den Anstaltsleiter ohne Brille wirklich völlig anders aus, wie viele Menschen ja, irgendwie entstellt, während Mugalle mit Brille offenbar sehr glaubhaft gewirkt haben mußte.
Das Urteil kam.
«Das ist und bleibt Mugalle!»
Noch beherrschte sich Jossa, wollte seiner Drohung dadurch ebenso Nachdruck verleihen wie durch den Verweis auf seine hochrangigen Kontakte. «Wenn ich hier rauskomme, dann wird ganz Deutschland über Sie lachen; dafür sorgen schon alle Kollegen von mir. Dann ist das Ende Ihrer Karriere, erledigt sind Sie!»
«Das wäre ich ganz sicher, wenn ich Sie jetzt laufen ließe!»
Jossa gab nicht auf, wußte von seinen Recherchen her, daß ein Anstaltsleiter, Gottvater ja in seinem Revier, nicht ohne Grund so lange und überhaupt mit einem Knacki debattierte, Zweeloo also doch irgendwie was spüren mußte, Unruhe, Verunsicherung, ein ungewisses Störgefühl. Wäre er sonst so lange geblieben…
Jossa kämpfte also. «Herrgott, Herr Zweeloo, dann erzähl ich Ihnen jetzt mal Sachen aus meinem Leben, die ich nur ganz alleine wissen kann, ich als Jens-Otto Jossa aus Königs Wusterhausen, Bezirk Frankfurt/Oder.»
Kassau mischte sich ein. «Mensch, das haben Sie doch alles aus’m Brammer Tageblatt, als die den Jossa da, als er angefangen hat, uns auf mehr als ‘ner halben Seite vorgestellt haben! Für wie dußlig halten Sie uns denn?!»
«Untersuchen Sie mein Blut, röntgen Sie mich! Und meine Fingerabdrücke erst…! Das ist doch alles anders bei mir als bei Mugalle, mein Gott!»
Die Männer sahen ihn mit leeren Blicken an, gleichgültig und gelangweilt, und unwillkürlich wurde er an den alten Satz erinnert, daß es den Mond wenig kümmerte, wenn ihn die Hunde anbellten.
Kassau lachte wieder. «Wir lassen uns doch von Ihnen hier nicht vorführen, Mugalle, zum Narren halten; bei allem Wohlwollen nicht.»
«Ich hätte gerne meinen Anwalt gesprochen!»
«Der war doch heute morgen erst hier!»
«Ich will jetzt raus hier!»
Das klang trotzig wie von einem Neunjährigen und machte wenig Eindruck.
Doch Jossa konnte nicht anders, als es zum zweiten Mal zu sagen, mit noch mehr Larmoyanz dabei. «Bitte, laßt mich jetzt nach Hause gehen…!»
«Gerne! Und die vierhundert andern Knackis schicken wir gleich mit!»
«Das ist doch alles absurd, das ist doch alles Wahnsinn hier!»
Zweeloo dachte nach. «Ich will wirklich nicht ins Gerede kommen, Mugalle, da haben Sie recht. Und daß zwischen Ihnen und Jossa eine gewisse äußere Ähnlichkeit besteht, das ist ja in der Tat nicht abzustreiten… Und weil ja nichts unmöglich ist, geh ich jetzt – höchstpersönlich sogar – zum nächsten Telefon und rufe Jossa an.»
«Hier, wo die Sozialarbeiter sitzen…!» Kassau wies ihm den Weg.
Zweeloo eilte in die zum Büro umfunktionierte Zelle am Ende des Flügels, und seine Männer bewunderten ihn, wie souverän er sei, wie er es, meisterhaft, verstünde, Situationen wie diese voll im Griff zu haben, vermieden es, mit Jossa zu reden, in ein, sozusagen «schwebendes Verfahren» einzugreifen, sprachen statt dessen vom Üblichen: Frauen, Urlaub, Autos und ob der TSV nicht endlich Bramme in die Zweite Bundesliga brächte.
Zweeloo kam zurück und war silvester-fröhlich: «Natürlich ist Jossa zu Hause bei sich und putzmunter dazu. Wär’ er wirklich Mugalle, so säße er bestimmt nicht da, sondern irgendwo im Flugzeug oder in’er Bahn!»
Jossa starrte ihn an. Bewegte die Lippen, doch es war nur sein Zittern, seine Erregung, kein Versuch, Worte zu bilden. Nichts sprach dafür, daß Zweeloo log, und doch waren seine Sätze eine totale Umkehrung aller menschlichen Logik. Jeder Mensch war absolut einmalig, und niemand konnte zur selben Zeit an zwei verschiedenen Orten sein.
Natürlich ist Jossa zu Hause bei sich und putzmunter dazu…
Das hallte immer weiter nach.
Und in Jossa wurde nun ganz mechanisch der Impuls ausgelöst, mit einer formelhaften Wendung auf Zweeloo einzugehen: «Erkläret mir, Graf Örindur, diesen Zwiespalt der Natur!»
«Wieso denn Zwiespalt, mein lieber Mugalle, die Sache ist doch sonnenklar: Nichts geworden mit dieser Art von Fluchtversuch! Schon genial, doch längst nicht so wie das mit Ihrer Bank damals, den verschwundenen Millionen… Müssen Sie wohl noch ‘n Weilchen drauf warten!»
«Herr Zweeloo, ich flehe Sie an…!»
«Nu is ja gut, mein Lieber! Sie wissen ja, daß ich wirklich ‘ne Menge für Sie übrig hab, aber das hier, das…»
«Ich bin Jossa, und Sie sind der größte Idiot zwischen Weser und Ems!» schrie Jossa.
«Halt die Schnauze!» brüllte da einer der eben hinzugekommenen Gefangenen, von den anderen Nobby genannt, angelehnt an Nobby Stiles, den größten Klopper unter Englands Fußballern, klein und ziemlich zahnlos, tätowiert und offenbar der King in diesem Laden. «Wenn wir deinetwegen Ärger kriegen, kommst du nicht mehr lebend aus’m Duschraum raus!»
«Jungs, bitte!» rief Kassau, aber augenzwinkernd. «Komm, Mugalle, ich leg dir den sanften Balduin mit auf die Zelle, dann könnt ihr wieder die Nacht durch Schach spielen…!»
«Zweimal zwei ist vier», sagte Jossa. «Und da könnt ihr alle hundertmal behaupten, daß das fünf sei. Mein Gott, es muß doch einen Menschen hier geben, der beschwören kann, daß ich Jossa bin. Jossa, Jos-sa, Jos-saaa!»
«Jetzt hatta schon wieda ‘n Anfall», sagte der sanfte Balduin und machte sich daran, Jossa lieb in die Arme zu nehmen.
Jossa stieß ihn beiseite. «Meine Ex-Frau, Anja! Oder der Schlagersänger, der neulich hier gewesen ist, in’er Anstalt hier, der Große Manitou…!»
Zweeloo sah auf seine Uhr. «Bei aller Sympathie, Mugalle, aber jetzt bist du uns lange genug auf die Nerven gegangen, mit deinem Blödsinn, Mensch! Los, nehmt ihm die Glasscherbe weg – und dann ab mit ihm, in die Arrestzelle runter!»
Da drehte Jossa durch, war ihm, als sollte er erschossen werden, die Binde vor die Augen und dann auf den Hof hinaus geschleift, wo das Peloton schon stand, war außer sich vor Todesangst, wollte losrennen wie das Gnu vorm Löwen, flüchten, mehr, sich zu betäuben als zu retten, sich im Ende auflehnen gegen die Gesetze des Kosmos; doch sie packten ihn von allen Seiten.
Sie nahmen ihm seine Identität, und damit töteten sie ihn; insofern hatte er recht.
Er kam noch einmal frei, sprang Kassau an, entriß ihm die Schlüssel, schlug ihn zu Boden, jagte auf die Gittertür zu, registrierte einen absurd-irren Impuls in dieser Sekunde, sah sich beim american football mit dem Ball in der Hand durch die rempelnden Körper der anderen zur touch down-Linie laufen. Jossa, Jossa! Wurde, als er aufschließen wollte, von den Beamten nach hinten gerissen und getreten und geschlagen, in Notwehr selbstverständlich, zur Eigensicherung, auch noch, als er halbtot auf dem Boden lag. Schrie und schrie und fühlte dennoch nichts, war so in Raserei geraten, daß es ihn betäubte, war Voodoo-Tänzer, Derwisch, war berauscht von seiner Kraft, sich aufzulehnen gegen alle Übermacht, genoß es geradezu: diesen Rausch aus der unmäßigen Aufwallung, dieses irrsinnig-explodierende Gefühl, aus der engen Kapsel des Alltags, aus seiner dürren Existenz, endlich mal, hinaus gesprengt zu werden in eine gänzlich andere Welt: die des Verglühens, des Untergangs, des Sterbens, diesen Orgasmus des Schmerzes zu erleben.
Gasse und Spießrutenlaufen, und als er durch war, banden und verschnürten sie ihn, schleppten ihn in den Keller zur Arrestzelle runter, stülpten ihm noch einen Kopfschutz über, wußten, daß er so lange gegen Tür und Wände rennen würde, bis er dann bewußtlos liegen blieb.
Und so kam es denn auch.