Variante 2

 

 

 

Brammer Meer, sogenannter Autobahnsee westlich von Bramme, beliebtes Naherholungsgebiet. Es war kurz nach 20 Uhr und trotz der Sommerzeit schon ziemlich dämmrig-düster, denn immer tiefer sank die Wolkendecke, peitschte Regen übers Land.

Kein Grund für Werner Zweeloo, Volljurist, nach Dienstschluß in der JVA nicht zum Brammer Meer zu fahren und aufs Schwimmen zu verzichten. Und wenn er noch so fror und bibberte, es war allemal lustvoller als zu Hause im Eigenheim am Brammer Trappenkamp in Familie zu machen, selber ein Gefangener zu sein, nachdem er den Tag lang fast absolut über andere geherrscht hatte. Schlimm für ihn, nun wie der blödeste Knacki fragen zu müssen, ob er wohl noch ein wenig fernsehen dürfe oder sie, Frau und Kinder, was dagegen hätten, wenn er im Keller eine kleine Partie Billard spielte. Vom Schwimmen entspannt und apathisch gemacht, ließ sich das alles viel besser ertragen.

Als er von der stark frequentierter Brammermoorer Heerstraße auf den Verbundstein-Weg abbog, der über viele Kilometer hin den weiten Mäandern des Bramme-Flusses folgte, hatte er das Gefühl, von einem flachen roten Wagen verfolgt zu werden, einem Porsche wohl. Er bremste unwillkürlich, wollte sehen, wie das andere Fahrzeug reagierte, denn immer auf der Hut zu sein, war oberstes Gebot für ihn. Hunderte von Knackis hielten sich, das wußte er, emotional nur über Wasser, indem sie Pläne schmiedeten, ihn nach ihrer Entlassung genußvoll-grausam zu eliminieren.

Doch der Porsche fuhr geradeaus weiter, schien nur rein zufällig von der JVA an hinter ihm gewesen zu sein.

Zweeloo erreichte den See an seiner nordwestlichen Ecke und parkte seinen blauen BMW direkt am Fuße des hölzernen Turmes, auf dem bei schönem Wetter die bronzebraunen Jünglinge des Wasserrettungsdienstes hockten. Doch verwaist war heute alles, öd und leer, und nur am Campingplatz drüben grillte der eine oder andere sein Hacksteak unterm Vordach oder schüttete billige Sangria in sich hinein.

Zweeloo hatte seine Badehose schon auf der Diensttoilette untergezogen, brauchte also nur schnell aus Hemd und Hose zu schlüpfen, legte aber keine große Eile an den Tag, denn sehr verlockend sah das graue Eiswasser nun wahrlich nicht aus. Viel lieber wäre er im warmen Wagen geblieben, hätte die Sitze zurückgleiten lassen und mit einem der Mädchen gebumst, die da eben vom Joggen kamen und unter dem pitschnassen Shirt des TSV Bramme viel Köstliches erkennen ließen. Potenztest nannte er das, und er brauchte ihn, seit er dreiundfünfzig war, fast täglich, um das Gefühl der eigenen Unsterblichkeit in sich wachzuhalten, als Gegengewicht sozusagen, nötig, um mit der Angst vorm Altern und Sterben fertig zu werden.

Kräftig stand sein Pint, als er sich entkleidet hatte, unter der geblümten Badehose, und er streichelte ihn dankbar und zart, stieß dann die Tür des Wagens auf und warf sich mit einem astreinen Kopfsprung ins graue, ungewisse Wasser, genoß den kurzen Flug und das anschließende Hineinstoßen in die zerplatzende Haut, wie er immer tiefer glitt und sich irgendwo im Schoß der Erde verlor, süchtig nach diesen orgasmusgleichen Sekunden. War bei den Fallschirmspringern gewesen und fand nun dieses Gefühl irgendwie vergleichbar-adäquat.

Neu geboren kam er wieder hoch und kraulte unter Einsatz aller Kräfte auf den See hinaus, hinter sich ein ganzes Heer feindlicher Kampfschwimmer annehmend oder aber -zig Indianer vom Stamme der Komantschen. Old Shatterhand unschlagbar; ein Akt lustvollster Regression.

Ein Schrei ließ ihn schlagartig ins Hier und Jetzt zurückkehren. Er verhielt und sah sich, hochsteigend wie ein Wasserballer vor dem Wurf, nach allen Seiten um.

In fünfzig Metern Entfernung das blonde Haar einer jungen Frau.

«Ein Krampf…! Helfen Sie mir, ich kann nicht mehr!»

Zweeloo war zur Stelle, als sie zum zweitenmal nach oben kam, gerade noch, und schleppte sie im Profigriff ans Land.

Auf dem Rücksitz seines Wagens rieb er sie mit seiner Decke trocken und massierte ihren Fuß. Wie sie denn zum Brammer Meer gekommen sei, und wo sie ihre Sachen habe? Mit dem Klapprad, und Pulli und Jeans lägen am Verbindungsgraben zur Bramme hin.

Zweeloo holte alles und fand, aus den Taschen ihrer Jeans herausschauend, noch ein pinkfarben-weißes Stirnband mit eingesticktem Namen, CHANTAL, und das ließ ihn reflexhaft ans Lido denken, Paris, ans Parfüm jener Damen, die zu nichts anderem da waren als dazu, die Männer zu verwöhnen.

Ja, Fotomodell und Tänzerin, das sei sie in der Tat, habe schon im Berliner Theater des Westens auf den Brettern gestanden, bei der deutschen Chorus Line-Premiere damals, sei aber derzeit dabei, als Sängerin Karriere zu machen, und zwei Platten lägen schon vor, die letzte hieße Das Leben ist die Chance des Lebens.

Zweeloo sagte ihr, daß er immer fürchterlich auf Jennifer Rush abfahre, gebrauchte, um ihr zu gefallen, sogar dieses Wort, das ja aus einer Welt stammte, der er ansonsten immer mit der wiedereingeführten Todesstrafe beikommen wollte, völlig weg sei, wenn sie im engen Lederrock die Schenkel spreizte. Chantal lachte und meinte, daß sie diesen Stil durchaus kopierenswert fände.

«Ich kann Sie doch unmöglich in den nassen Sachen auf dem Rad nach Hause fahren lassen. Erst rette ich Sie vorm Ertrinken, und dann laß ich Sie an ‘ner Lungenentzündung hopsgehen…!»

«Kriegen Sie denn das hinten rein?»

«Ihr Rad? Ja, sicher.»

So brachte er sie im Wagen nach Hause und ließ sich auch noch zu einem Schluck Champagner in ihr Apartment einladen («Heut bin ich doch zum zweitenmal geboren worden, und ist das nicht ein Grund zum Feiern?»).

Als sie sich dann warmgeduscht hatte, fragte sie Zweeloo, wie sie ihm denn danken könne, und als der mit der Antwort nicht eben lange zögerte, kam es, wie es kommen mußte, und zwar dreimal bis Mitternacht, so daß er vor Erschöpfung kaum zurück ins Auto fand.

Drei Tage später trafen sie sich dann im wunderschönen Wartesaal des Oldenburger Bahnhofs, und Chantal zeigte ihm («… ich hab da ‘n versteckten Apparat hinterm Spiegel…») ein paar überaus gelungene Aufnahmen ihren wilden Koitierereien.

Zweeloo war zuerst entzückt, dann aber nahe am Infarkt, als sie ihm eröffnete, daß sie diese Bilder nicht aus lauter Jux und Tollerei geschossen hätte.

«… sondern um Mugalle freizukriegen! Ist doch einer deiner Lieblingsknackis – oder…?»

«Was geht dich denn Mugalle an?»

«Sehr viel sogar. Nicht nur mein Verlobter ist das, dem bin ich auch irgendwie hörig. Und darum versuch ich auch alles, ihn möglichst schnell wieder… Siehe unsern kleinen Spaß, wie ich dir hinterhergefahren bin und die Ertrinkende gespielt habe…»

Zweeloo wußte, daß seine Karriere wie seine Ehe auf dem Spiel standen, kam die Sache raus, und er fragte mit gepreßter Stimme, was sie denn nun eigentlich – «Kannst du nicht mal konkreter werden, bitte!» – von ihm wollte.

«Mugalle muß raus aus’m Knast; das will ich! Ich geb dir drei Wochen Zeit, laß dir mal was einfallen…»

Jossa sah aus dem Fenster. Erst kam das massive Eisengitter, dann noch ein Drahtgitter und schließlich die Sichtblende. Dahinter strahlend blauer Himmel, schwarze Unendlichkeit, von der Sonne menschenfreundlich eingefärbt, und mit seinen Gedanken sprengte er die Kuppel dieses Erdenblaus und flog hinaus ins All, hinauf zum Orionnebel, zum Pferdekopf, weiter zum Diamantenschleier des Plejadenhaufens, aus der eigenen Galaxis hinaus und der Großen Magellanschen Wolke entgegen.

Folge eines Stanislaw Lem-Buches, das er gestern angefangen hatte…

Noch in der Welt der irren Sternentagebücher, glaubte er sich selber auf einen fremden Planeten versetzt, sah er Sonderbares: Turnte da auf dem schrägen Dach des gegenüberliegenden Flügels ein dürrer Mann herum, hangelte sich, mein Gott, Stück für Stück an den Befestigungen des Blitzableiters bis zum First hinauf, setzte sich dort hin und schrie: «Ich protestiere!»

Science-fiction, phantastischer Film?

Nein, Wirklichkeit der JVA Bad Brammermoor.

Jossa hatte Mühe mit dem Rücksturz zur Erde; erst recht, als er bemerkte, wer da oben thronte: Taubert, das stets devote Männlein, ihr Oberschlaffi. Schlurfte immer nur halb abgestorben dahin und saß jetzt plötzlich auf dem Dach.

Baldow erklärte Jossa, was Taubert zu diesem Schritt bewogen hatte: «Alles hatte er immer runtergschluckt, ‘n alter Setzer, immer mit flüssigem Blei gearbeitet, ‘n paarmal ziemlich krank gewesen, mit der Lunge was, und dann rausgeschmissen, als sein Verlag auf Computer umgestellt worden ist. Da hat er sich dann mit ‘nem kleinen Laden durchbringen wollen, Stempel, Adressen, Briefumschläge und so; mit seiner Abfindung hat er den aufgemacht, mit dem Geld, was er vom Sozialplan gekriegt hat. Und als er pleite war, hat er dann angefangen, Sachen zu fälschen. Promotions- und Sterbeurkunden, Führerscheine und so was; ist irgendwie auch ‘ne mächtige Begabung, was das angeht: Gebrauchsgraphik und so… Bis er eines Tages aufgeflogen ist.»

«Aber weswegen sitzt er denn nun da aufm Dach und…?»

«Das ist ‘ne lange Geschichte…» Der sanfte Balduin goß sich von Jossas Tee ein und setzte sich zum Erzählen auf die Klobrille, wollte nicht zu Jossa aufs Bett, um die anderen nicht denken zu lassen, sie hätten was miteinander. «Also…»

Taubert hatte das BSH-Gesetz gelesen und beim Sozialamt neue Wäsche beantragt, worauf sein Gruppenleiter von der Sachbearbeiterin angerufen und gefragt worden war, ob er die Möglichkeit hätte, den Wahrheitsgehalt dieser Angaben nachzuprüfen. Und was hatte der getan? Sich von der Hauskammer Tauberts Wohnungsschlüssel geholt und bei ihm zu Hause nachgesehen.

«Ist das denn auf dem Wege der Amtshilfe nicht möglich?» fragte Jossa.

«Wohl nur, wenn er Taubert mitgenommen hätte, aber das sei wegen der Fluchtgefahr angeblich nicht möglich gewesen…»

«Na, der und flüchten…! Aber deswegen gleich solchen Aufstand…?»

«Den macht er doch vor allen Dingen, weil sie ihm erzählt haben, sein Gruppenleiter hätte nicht nur nach seinen Wäschevorräten gesehen, sondern seine Wohnung auch noch als Absteige benutzt. Mit seiner Freundin zu Hause bei Taubert kräftig gebumst!»

In dieser Sekunde steckte Zweeloo seinen schönen Kopf aus einer der Dachluken und erklärte feierlich im Namen seiner JVA, daß es in Tauberts Wohnung keineswegs «zur Ausübung des Geschlechtsverkehrs» gekommen sei und der Gruppenleiter ja nichts weiter im Sinn gehabt habe, als Taubert zu helfen, das mit seinem Antrag beim Sozialamt schnellstmöglich über die Bühne zu ziehen.

«… und da er zwei Häuser weiter seine Mutter wohnen hat, und die ohnehin besuchen wollte, ist er gleich zu Ihnen mit ran…»

«Nach Artikel 13 Grundgesetz ist die Wohnung unverletzlich!» schrie Taubert.

«Er ist doch aber als Ihr Freund und in Ihrem Auftrage hingefahren!»

«Das ist ja nun wirklich eine infame Lüge!»

«Im Augenblick steht Aussage gegen Aussage!»

«Wir wissen doch alle, was das für ‘n Scheißkerl ist, der Neumann!»

«Okay, ich laß Sie in den B-Flügel verlegen, wo sich dann Kassau um Sie kümmern kann!»

«Ich komm nicht eher runter, als bis Sie Anzeige erstattet haben gegen Neumann!»

«Ich laß mich nicht erpressen, Taubert!»

«Und ich laß mir meine Grundrechte nicht nehmen, Herr Zweeloo, und wenn ich zehnmal ‘n Strafgefangener bin!»

Es war ein unheimlich aufregendes Stück, was sie da auf dem Dach ihres Knastes geboten bekamen, ohne Eintritt mitverfolgen durften: welch grandiose Freilichtbühne, welch mitreißende Spieler! Im Pennerlook ihr Taubert, saß auf einer Schornsteinfegerbohle und ließ die Beine baumeln, zitterte vor Höhenangst, war jedoch ein toller Kämpfer für die Knackirechte, so elend anzuschauen wie ein schwer Tbc-Kranker in einem alten Melodram; und zwei Meter unter ihm, Kopf und Oberkörper mühsam aus der schmalen Luke gepreßt, ihr eleganter Anstaltsleiter, ein Mann von Welt und im hellen Anzug jederzeit bereit, einer Einladung der Queen Folge zu leisten und an Bord der königlichen Yacht den Tee einzunehmen. Zweeloo als absoluter Herrscher dieser kleinen Welt quasi in der Gewalt eines hustenden Männleins, denn stürzte sich Taubert wirklich zu Tode und setzten die Parlamentarier einen Ausschuß in Marsch, sich die JVA Bad Brammermoor mal vorzunehmen, dann sah es um seine weitere Karriere nicht mehr eben rosig aus. Tauberts Sturz in die Tiefe wäre in gewisser Weise auch seiner gewesen.

Wer immer von den Knackis konnte, hing am Fenster, fasziniert von diesem Duell.

Nur einer hatte Besseres zu tun: Jens-Otto Jossa. Er ging auf Kassau zu und bat darum, durchgeschlossen zu werden: «Mein Zahnarzttermin!» Der gute Mann kam einmal die Woche in die Anstalt hinaus und war zu Jossas derzeit letzter Hoffnung aufgestiegen.

Warum, war klar. Jedermann wußte, daß in aller Welt immer wieder Leichen anhand der aufgefundenen Gebisse identifiziert werden konnten. Die Zahnärzte brauchten die fraglichen Gebißteile nur mit ihren Behandlungskarten zu vergleichen, und schon hatten sie’s.

Tagelang, nächtelang sah Jossa schon voraus, was hier bei ihm im Sani-Raum geschehen würde: Der Dr. med. dent, kommt und sieht ihm in den Mund, greift zur Karte Martin Mugalle, stutzt und ruft spontan: «Gott, das sind Sie doch gar nicht, Mugalle!»

Genau die Worte, die für ihn die Rettung waren.

War er leider erst darauf gekommen, als sein Eckzahn oben rechts zu puckern angefangen hatte. Ohne Brille doch beim Sehen etwas eingeschränkt, hatte er vorgestern morgen einen aufgeknackten Kern im Pflaumenmus vergessen.

Kassau übergab ihn der Obhut der dort waltenden Kollegen, doch Jossa hatte noch im Erste-Hilfe-Raum zu warten: Nobby war erst an der Reihe. Er war nicht allein; Baldow, vor ihm in der Liste eingetragen, war auch schon zur Stelle.

Sie redeten ein Weilchen über den Sinn und Unsinn von Tauberts Ausflug aufs Dach und glaubten beide nicht, daß ihm Entscheidendes gelänge, hatten vielmehr die Furcht, allesamt bestraft zu werden; Schluß mit dem, was Hafterleichterung hieß. Andererseits:

Konnte man’s dem armen Taubert denn verübeln, daß er da ausgeflippt war? Sicher nicht. That’s life!

Drinnen wurde heftig geschliffen, und hin und wieder hörten sie Nobbys Schmerzensschreie – nicht eben heldenhaft.

«… ‘n paar Zähne gleich läßt er sich Überkronen. Mit Gold natürlich.»

«Wie kriegt er denn das Geld dazu zusammen?»

«Draußen hat er doch immer noch drei Mädchen laufen. Und außerdem wird ihm Buth auch ‘n bißchen was gegeben haben…»

«Buth – wofür denn der?»

«Weißte das denn nicht? Vor zwei Jahren hat er doch mit seinen Leuten bei Buth Streikbrecher gespielt, das heißt, den Arbeitern, die an den Werktoren alles verbarrikadiert hatten, derart was auf die Schnauze gegeben, daß die Arbeitswilligen alle durchkonnten. Leider hat er einen von den Gewerkschaftern dabei halb totgeschlagen; drum sitzt er ja auch hier.»

Jossa nickte. Wollte man eine Stadt wie Bramme fest im Griff haben, brauchte man nicht nur die Intellektuellen (fürs Feinere, siehe Brammer Tageblatt), sondern auch die Schläger und die Kriminellen (fürs Gröbere eben), und so waren Nobby und er im Grunde Kollegen.

Jossa fieberte immer mehr der Sekunde entgegen, wo der Zahnarzt sich endlich, von Sekunde zu Sekunde immer erstaunter, mit seinen Zähnen abgeben würde. «Das ist niemals das Gebiß, das zu Martin Mugalle gehört!» Und gegen einen Beweis von soviel Karat war auch ein Mann wie Zweeloo ohne Chance, zumal der Mann ein freier Mitarbeiter war, draußen seine gute Praxis hatte, und hier nur wegen einer dummen Sache seines Bruders wirkte, die innere Not der Leute aus dessen Tagebuch kannte und bei dem schlechten Image seines Standes einfach auch mal Gutes tun wollte: Seht her, auf hundert Beutelschneider gibt es immerhin einen Gerechten!

Diesem Mann gegenüber hatte Jossa also volles Vertrauen; der war von keinem abhängig oder gekauft.

Endlich konnte Nobby den Marterstuhl verlassen, zog maulend und spuckend von dannen.

«Der nächste, bitte…!» Ganz wie draußen.

Der Sani winkte Jossa in den Vorraum des Krankenreviers, wo alles kunstgerecht aufgebaut war, und er sah Dr. Rick im weißen Kittel vor sich stehen, klein und kugelrund, ein Pykniker von enormer Körperfülle, der es schwer hatte, sich zum Patientenmund hinunterzubücken, dabei asthmatisch jiemte und in allem einem Mönch glich, der zuviel soff und aß, aber durch und durch liebenswert war, eine Seele von Mensch.

Jossa gab ihm die Hand, und Dr. Rick, schon beim Hände waschen, sagte, daß es ihn freue, ihm, dem berühmten Mugalle, persönlich ins Auge respektive in den Mund sehen zu dürfen, hätte er doch, ganz im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, mit Mugalles NordInvest eine Menge Geld gemacht, vor deren Konkurs, und müsse ihm dafür noch lange danken.

Endlich, Jossa kehrte zu seinen Science-fiction-Bildern zurück, sah er das langersehnte Raumschiff zur Landung ansetzen, gekommen, ihn zur Erde heimkehren zu lassen.

Er fiel in den Stuhl, eine Leihgabe des Deutschen Museums für Zahn- und Kieferheilkunde, bekam vom Sani, der hier die Assistentin spielte, ein schon leicht zerknülltes Lätzchen umgelegt und riß seinen Mund so weit und zackig auf, daß er sich selber wie eine hölzerne Puppe vorkam.

Endlich war es soweit, und schnaufend wie ein Liebhaber beugte sich Herr Dr. Rick nach unten, kam mit seinem dicken Bauch fast auf Jossa zu liegen. Der fürchtete die Maulsperre, das Aushaken seiner Kinnlade, einen Krampf aller Muskeln am Kopf, so sehr mühte er sich um die totale Freilegung aller seiner Zähne, fletschte sie wie in kindlichem Spiel, wußte, daß dies der Augenblick war, wo sich alles entschied.

Spiegel und Haken fuhren in die Öffnung hinein, Zahn um Zahn wurde abgeklopft und auf mögliche Löcher geprüft, bis der erwartete Schmerzensschrei kam.

«Hier also!»

«Ja, da tut es weh!» stöhnte Jossa, obwohl er kaum etwas gespürt hatte.

«Dann schreiben Sie mal», sagte Dr. Rick zum Sani und wollte dem die Bestandsaufnahme des Jossaschen Gebisses in die Feder diktieren.

Jossa hielt den Atem an. Jetzt, jetzt mußte den beiden doch auffallen, in die Augen springen, hundertprozentig, daß nicht sein konnte, was alle Gesetze der Logik verboten, daß zwei Menschen haargenau dieselben Zähne hatten, Jossa und Mugalle. Der Mann hier im Stuhl hatte ganz andere Zähne, als sie da auf der Karte Mugalles vermerkt worden waren – also war das nicht Mugalle!

«Links oben sieben – fehlt…» begann Dr. Rick.

«Momentchen mal…» sagte der Sani.

Jossa blieb der Atem weg. Er war gerettet! Heute abend war er wieder draußen, hatte alles überstanden!

«Was ist denn?» fragte Dr. Rick.

«Nicht so schnell bitte! Mugalle ist doch zum erstenmal hier, und ich hab noch keine Karte da…!»

Crash und aus! Das Raumschiff, das ihn retten wollte, zerbarst vor seinen Augen, verglühte sonnenhell.

Jossa verlor vorübergehend das Bewußtsein, ließ sich ohne Widerstand fallen, wollte bis ans Ende aller Zeiten in einem Schwarzen Loch verschwinden. Kreislaufkollaps, sagte man, phobische Angst vor Zange und Bohrer, spritzte ihm ein schnell wirkendes Mittel, ließ ihn noch ein Weilchen im Krankenrevier ruhen, zur Beobachtung, wie es hieß.

Und er hatte Angst davor, Dr. Rick noch zuzurufen: Ich bin Jossa, Jossa, Jossa – tun Sie bitte was für mich, vergleichen Sie mein Gebiß mit den Zähnen Mugalles. Schaffte es nicht, wollte nicht geschlagen werden: Wenn du uns noch mal anlügen solltest, dann prügeln wir dich windelweich, dann sperren wir dich wieder in den Keller!

O Gott! Binnen weniger Tage hatte er sich zum Kind zurück verwandelt, lag zusammengekauert wie ein Baby auf der weißbezogenen Liege. Hätte am liebsten geweint und gewimmert.

Doch in seiner Zelle zurück, war er schnell wieder bei Kräften, hatte Langeweile und machte sich daran, in Mugalles Sachen nach irgendwas zu suchen, das nützlich für ihn war.

Bücher fand er viel, vor allem weniger unterhaltsame Schriften wie «Theorien der Gewinnsteuerüberwälzung» von Klaus Ballarini oder «Zur Indexierung von Kreditverträgen» von Adolf Ahnefeld, dann etliche Briefe von Leuten, deren Namen ihm nichts sagten, endlich aber auch eine Ausgabe des FAZ-Magazins, wo man Martin Mugalle, damals auf der Höhe seines Ruhms, gebeten hatte, den legendären Fragebogen auszufüllen.

Welche Chance für Jossa, mehr über den zu erfahren, der er jetzt war!

 

 

FRAGEBOGEN

 

Martin Mugalle Bankier

Was ist für Sie das größte Unglück? Arm zu sein.

Wo möchten Sie leben? Im Chefbüro des Weltbankpräsidenten.

Was ist für Sie das vollkommene irdische Glück? Meine erste Million.

Ihre liebsten Romanhelden? Jakob Fugger und Meyer Anschel Rothschild.

Ihre Lieblingsgestalt in der Geschichte? Columbus.

Ihre Lieblingsmaler? Menzel und Constable.

Ihr Lieblingskomponist? Ravel.

Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einem Mann am meisten? Die, mit mir Geschäfte machen zu wollen.

Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einer Frau am meisten? Die, mit mir ins Bett zu wollen.

Ihre Lieblingstugend? Die Fähigkeit, immer wieder den Kopf aus der Schlinge ziehen zu können.

Ihre Lieblingsbeschäftigung? Angeln.

Ihr Traum vom Glück? Einen kleinen Laden zu haben und mit Schreib- und Spielwaren zu handeln.

Ihre Lieblingsfarbe? Violett.

Ihre Lieblingsblume? Der stinkende Storchenschnabel.

Ihr Lieblingsvogel? Der Wellensittich.

Ihr Lieblingsschriftsteller? Karl May.

Ihr Lieblingslyriker? Der Notenbankpräsident. Wer Banknoten nachmacht oder verfälscht usw.

Ihr Motto? Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt.

 

Jossa hatte schnell gelesen, manches dabei überspringend, war auch in einer außergewöhnlichen Weise aufgeregt gewesen, ahnte aber dennoch nicht, welche ungeheure Bedeutung dieser Fragebogen später einmal für ihn haben sollte.

Was ihn in dieser Sekunde viel stärker interessierte, war ein DIN-A5 großes Foto, das in Mugalles hinterlassenen Papieren unmittelbar unter dem FAZ-Magazin gelegen hatte.

Zwei Männer waren da beim Golfen: Günther Buth und Martin Mugalle. Und Brammes Nummer eins, diese unnachahmliche Mischung von Mafia-Don und christlichem Gönner, Blutsauger und Mäzen, hatte mit breitem Füller die Rückseite mit einer schönen Widmung bedeckt: Für Martin Mugalle zur ewigen Erinnerung! Es ist immer besser, selber einzulochen als eingelocht zu werden… G. B. Bramme.

Zu Spekulationen im Anschluß an diesen Tatbestand kam er indessen nicht mehr, denn inzwischen war einer der altbewährten Anstaltspsychologen, der Mackendoktor Uli Seeling, aufs Dach gestiegen, um mit dem armen Taubert zu reden. Dr. Seeling, ein Dr.-Ing. der Seele, wie seine Kollegen des öfteren spotteten, wenn sie ihn nicht gerade «unseren Anstalts-Jesus» nannten, war leidend, bärtig und hager und mit missionarischem Eifer um eine Verquickung von Therapie und Christentum bemüht, begann auch heute wieder mit einer Art Gebet.

«Herr Jesus Christus, so vieles bewegt uns heute, wo wir das Elend unseres Bruders Hans-Werner Taubert so kraß vor Augen haben. Herr, wir wissen, wieviel Zuwendung, wieviel Liebe Hans-Werner Taubert braucht, damit er wieder Vertrauen in die Welt gewinnt. Und wir sind auch bereit, ihm diese Liebe und Zuwendung zu geben.»

«Schickt doch gleich den Himmelskomiker rauf!» schrie Nobby.

Der Anstaltsgeistliche kam auch prompt und begann mit der typischen Einleitungsformel hierzulande diplomierter Psychologen: «Erzählen Sie doch mal bitte, Taubert, wie es dazu gekommen ist, daß Sie jetzt hier auf dem Dach sitzen und…»

Zum erstenmal seit Tagen konnte Jossa, so ernst und tragisch alles war, aus vollem Halse lachen.

Beide, Geistlicher wie Psychologe, waren schon gut, und dennoch schafften sie es nicht, Taubert auf den Leim zu locken, das heißt, dazu zu bewegen, von seinem Schornsteinfegerbrett hinunterzuklettern.

Und sicher hätte er sich in die Tiefe gestürzt, wenn da nicht Kassau eingegriffen hätte. Als Fallschirmspringer und Flieger an Höhe gewöhnt und absolut ohne Schwindelgefühl, hatte er sich auf der anderen Seite des Daches lautlos nach oben gearbeitet und stand nun, von einem kleinen Türmchen verdeckt, mit einem dicken Seil nur knapp hinter Taubert. Wenn er das nun wie ein Lasso warf, konnte er den Lebensmüden so lange festhalten, bis die O+S-Leute zu ihm hingerobbt waren.

Es gelang, und Taubert wanderte für eine Woche in die Arrestzelle hinunter.

Komm ich jemals hier raus, schwor sich Jossa, dann wird das die erste «Ich klage an»-Geschichte, die ich schreiben werde.

Ablenkung von der ganzen Scheiße bot ihm erst das Fernsehen abends im Gemeinschaftsraum. Zu seiner großen Überraschung wollte die Mehrheit seiner Mitinsassen die regionale Talkshow sehen.

«Warum denn das?»

«Mann, weil da die Klein was sagen will über den Verkauf von Kondomen hier im Knast!»

Jossa zuckte zusammen. «Die Edelgard Klein, die…?»

«Ja, die! Zweeloo hat ‘n paar hundert Stück gekauft und will morgen anfangen damit, mit dem Verkauf also, doch die Klein hat im Brammer Tageblatt furchtbar darüber gewettert. Nun sind sie beide zum Fernsehen eingeladen worden.»

Da sah Jossa sie dann im Studio sitzen, mit Zweeloo zusammen, und unter den Zuschauern erkannte er die gesamte Brammer Prominenz. Günther Buth an ihrer Spitze.

Aha, so war das also! Schlagartig wußte er da, warum er hier saß, er als Martin Mugalle.