Martin Mugalle frei in Bramme III

 

 

 

Martin Mugalle saß an Jossas Schreibtisch und war mit Eifer dabei, auf der Rückseite eines Vormelders, mitgebracht aus Brammermoor, einen Abschiedsbrief zu schreiben.

 

«Meine liebe Chantal,

nur schnell ein paar Zeilen, von denen ich hoffe, daß kein Polizist, kein Geheimdienst sie zu lesen bekommt, aber ich habe es einfach nicht geschafft, Dich telefonisch zu erreichen.

Soviel in aller Kürze: Mir ist es endlich gelungen, aus dem Knast herauszukommen. Im Augenblick bin ich quasi untergetaucht. Es macht mir aber einige Schwierigkeiten, an mein Geld heranzukommen. Alles kann ganz schön dauern. Bitte frage auf keinen Fall im Knast nach mir, schicke nichts dorthin oder lasse Dich dort blicken! Auf gar keinen Fall, verstehst Du!!! Das würde nur der Polizei helfen, sie auf meine Spur bringen und mein Ende bedeuten. Das wäre so, als würdest Du mit einem Staubwedel in ein filigranes Spinngewebe fahren. Also, alles ist fein gesponnen, mach es nicht entzwei! Verhalte Dich ruhig und vertraue mir.

So bald wie möglich melde ich mich aus meinem neuen Domizil wieder bei Dir. Ohne Dich will und kann ich nicht leben!!! Dann werde ich Dich wieder in die Arme nehmen. Zwar mit einer ganz anderen Identität, aber wirklich immer noch derselbe: Der, der Dich über alles liebt, Dein M.»

 

Ihre New Yorker Adresse hatte er im Kopf, das Hotel, in dem sie abgestiegen war.

Fast hätte er den Briefumschlag nach dem Zukleben noch mit Jossas Adresse versehen…

 

 

Jossa lag mit Kassau im Clinch, schrie ihn an, daß er sich schon lange mittels Vormelder um Kontaktaufnahme mit seinem Rechtsanwalt bemüht habe, dem Dr. Contile (einen Namen, den er in Mugalles Papieren vorgefunden hatte).

«Ich habe ein Recht darauf, Dr. Contile zu sprechen!»

«Das bestreitet ja auch keiner…» Kassau hatte seinen sanften Tag, nahm alles gelassen, wirkte ungemein gutmütig heute.

«Dann lassen Sie mich doch ans Telefon gehen und ihn bitten, daß er umgehend herkommen soll!»

Kassau lachte. «Mensch, Mugalle, Sie flippen mir ja wieder völlig aus!»

«Wieso?»

«Mann, du hast mir doch selber erzählt, daß sie Contile abgeknallt haben, in Palermo unten. Irgendwas mit Waffengeschäften in die eigene Tasche…»

«Sehen Sie, das ist der Beweis!» jubelte Jossa. «Daß ich nicht Mugalle bin, sondern Jossa! Weil ich das nicht wissen konnte, das mit Dr. Contile.»

Kassau stöhnte auf. «Mein Gott, Mugalle, das alte Lied schon wieder! Immer noch nicht geheilt davon!»

«Einen eigenen Anwalt will ich haben, ich: Jens-Otto Jossa!»

Kassau stieß ihn ohne weitere Worte ins Zelleninnere zurück, warf die Tür ins Schloß und verrammelte sie mehr als ordnungsgemäß.

«Ich trete ab jetzt in den Hungerstreik!» schrie Jossa. «Bis man mir einen Anwalt und einen Arzt meiner Wahl kommen läßt, bis hier die Öffentlichkeit hergestellt ist!»

Schon saß er am Tisch und formulierte seine HS-Erklärung schriftlich für den Anstaltsleiter.

Das war am Mittwoch, den er, nur ab und zu Wasser trinkend, sehr gut überstand, ebenso wie den Donnerstag, wo es ihm psychisch blendend ging, er nahezu euphorisch wurde: Ich kämpfe, ich tue endlich was, ich werde siegen! Seht doch her, wie stark ich bin!

Er wußte, daß er Zweeloo unter Zugzwang setzte, und war auch nicht erstaunt, als Kassau ihn am Freitag ins Krankenrevier führte, wo er einer ihm zuvor unbekannten Ärztin vorgestellt wurde. Ein Name wurde nicht genannt, und wie sie mit ihm umsprang, erinnerte ihn ein wenig an das, was er von KZs her wußte.

«Sie wollen also abnehmen! Gute Idee!»

Wie eine KZ-Ärztin sah sie gar nicht mal aus, sondern, in ihrem weißen Kittel, eher wie seine Markt- und Milchfrau in Hannover.

«Ich hungere, weil ich endlich aus’m Knast raus will!»

Jetzt war es der Sani, der lachte. «Meinste, Mugalle, weil de da bessa durch die Gitterstäbe durchpaßt!?»

«Ich bin nicht Mugalle, ich bin Jossa. Sie brauchen sich doch nur mal meine Krankenkarte anzusehen, um das zu merken!»

«Ich hab hier keine Karte mit dem Namen Jossa…»

«Nein, Mugalle!» rief Jossa. «Der muß doch ganz andere Werte gehabt haben als ich!»

Die Ärztin schien doch anders zu sein, als er eben geglaubt hatte, nicht der alte Schindertyp, gab sich auch alle Mühe, in den großen Karteikästen auf den Namen Mugalle zu stoßen, vom Sani dabei unterstützt, mußte aber schließlich passen.

«Tut mir leid, Mugalle gibt’s hier nicht!»

«Das ist doch unmöglich, so oft ich schon hier gewesen bin!»

Kaum war es heraus, da wußte Jossa, welch Fehler das war. Andererseits hatte er es wagen müssen, denn wenn es eine letzte Chance für ihn gab, dann Mugalles originäre Krankengeschichte; schon die Blutgruppe allein konnte genügen.

Die Ärztin sah ihn ärgerlich an. «Ich denke, Sie sind nicht der Mugalle; wie wollen Sie denn schon ‘n paarmal hier gewesen sein!?»

«Ich habe nur vermutet, daß Mugalle hier gewesen ist, weil ich in seinen Aufzeichnungen von seiner Gastritis und von seinem Ulkus was gelesen hab!»

«Hier ist keine Krankenkarte!» wiederholte der Sani, und sein pausbäckiges Eunuchengesicht hatte sich schon im Zorn gerötet, bevor Jossa darauf antworten konnte.

«Dann ist sie eben geklaut worden!»

«Ich bin erst seit gestern hier und weiß von nichts!»

Die Ärztin entschloß sich, pragmatisch zu sein. «Wir messen jetzt mal Puls, Blutdruck und Gewicht. Das andere kann Ihr Anstaltsarzt entscheiden, wenn er wieder da ist, ich bin ja lediglich die Urlaubsvertretung, und daher…»

Sie machte sich ans Werk, und der Sani trug alle Werte fein säuberlich in eine neu angelegte Krankenkarte ein, auf die er oben in der Kopfleiste mit wunderschönen antiken Druckbuchstaben den Namen Mugalle, Martin schrieb beziehungsweise malte.

Jossa wußte, daß sein Namenswechsel damit wiederum ein Stückchen amtlicher geworden war, doch konnte nichts dagegen unternehmen, entlud seinen Frust über den bis jetzt nur nach hinten losgegangenen Schuß lediglich in der Forderung nach Vitamintabletten.

«Essen Sie doch das Obst, das Sie kriegen!» erwiderte die Ärztin.

«Ich befinde mich im Hungerstreik!»

«Zwingt Sie doch keiner dazu!»

«Doch: die Anstalt hier, weil niemand mir abnimmt, daß ich Jens-Otto Jossa bin und nicht Martin Mugalle!»

«Möchten Sie denn einem Psychiater vorgestellt werden?»

«Nein! Weil ich so normal wie nur irgend möglich bin! Aber die andern hier, die sind doch alle verrückt!»

«Typisch…» murmelte die Ärztin, und Jossa wußte genau, was sie damit meinte.

Er stöhnte auf, konnte aber gut verstehen, warum sie sich so und nicht andres verhielt. Klar, daß sie ihn für einen Spinner halten mußte. Sie kannte weder Mugalle persönlich, noch hatte sie ihn, Jossa, vorher gesehen. Nach Lage der Dinge, das heißt, bei dem hohen Maß an psychischen Erkrankungen, die der Knast produzierte, mußte sie ganz einfach annehmen, daß hier wieder einer verrückt geworden war, warum auch immer.

«Kann ich denn nicht wenigstens ein Abführmittel haben», bat Jossa noch. «Daß ich nicht scheißen kann, quält mich am meisten.»

«Sie brauchen nur Ihre normale Kost zu sich zu nehmen, um wieder regelmäßig Stuhl zu haben!»

Jossa wurde in seine Zelle zurückgeschlossen, und während ihn nun doch der Hunger zu quälen begann, sah er wieder Martin Mugalle, wie der am Werke war, seine Freiheit zu nutzen, schrieb das Drehbuch zur nächsten kleinen Szene.