WECKGLASES
Schon alleine seine Stimme: dieses hochmütige, geschraubte Näseln. Er lag in der Gabel des Apfelbaumes und sagte: »Sie halten sich einen tüchtigen Hund, mein Herr!«
Ich darauf, etwas fassungslos: »Was machen Sie da auf dem Apfelbaum?« Er zierte sich in der Astgabel, räkelte seinen langen Oberkörper: »Nur Kochäpfel sind es, fürchten Sie bitte nichts.«
Da mußte ich ihn zurechtweisen: »Was gehen mich Ihre Kochäpfel an? Was habe ich zu befürchten?«
»Nun«, züngelte er, »Sie könnten mich für die paradiesische Schlange halten, denn auch damals gab es schon Kochäpfel.«
Ich wütend: »Allegorisches Geschwätz!«
Er überschlau: »Ja glauben Sie etwa, nur Tafelobst ist eine Sünde wert?«
Schon wollte ich mich davonmachen. Nichts wäre mir in jenem Moment unerträglicher gewesen als eine Diskussion über die Obstsorten des Paradieses. Da kam er mir direkt, sprang behende aus der Astgabel, stand lang und windig am Zaun: »Was war es denn, was Ihr Hund aus dem Roggen brachte?«
Warum antwortete ich nur: »Einen Stein brachte er.«
Das artete zu einem Verhör aus: »Und Sie steckten den Stein in die Tasche?«
»Ich trage gerne Steine in der Tasche.«
»Mir sah, was der Hund Ihnen brachte, eher wie ein Stöckchen aus.«
»Ich bleibe bei Stein, und wenn es zehnmal ein Stöckchen ist oder sein könnte.«
»Also doch ein Stöckchen?«
»Von mir aus: Stock oder Stein, Kochäpfel oder Tafelobst...«
»Ein bewegliches Stöckchen?«
»Den Hund zieht es heim, ich gehe!«
»Ein fleischfarbenes Stöckchen?«
»Passen Sie lieber auf Ihre Äpfel auf! — Komm Lux!«
»Ein beringtes, fleischfarbenes und bewegliches Stöckchen?«
»Was wollen Sie von mir? Ich bin ein Spaziergänger, der sich einen Hund ausgeliehen hat.«
»Sehen Sie, auch ich möchte mir etwas ausleihen. Dürfte ich eine Sekunde lang jenen hübschen Ring über meine kleinen Finger streifen, der an Ihrem Stöckchen glänzte und das Stöckchen zu einem Ringfinger machte? — Vittlar, meine Name. Gottfried von Vittlar. Ich bin der Letzte unseres Geschlechtes.«
So machte ich Vittlars Bekanntschaft, schloß noch am selben Tage mit ihm Freundschaft, nenne ihn heute noch meinen Freund und sagte deshalb vor einigen Tagen — er besuchte mich — zu ihm: »Ich bin froh, lieber Gottfried, daß du, mein Freund, damals die Anzeige bei der Polizei machtest und nicht irgendein x-beliebiger Mensch.«
Wenn es Engel gibt, sehen sie sicher aus wie von Vittlar: Lang, windig, lebhaft, zusammenklappbar, eher die unfruchtbarste aller Straßenlaternen umarmend als ein weiches, zuschnappendes Mädchen.
Man bemerkt Vittlar nicht sogleich. Eine bestimmte Seite zeigend, kann er, je nach Umgebung, zum Faden, zur Vogelscheuche, zum Garderobenständer, zu einer liegenden Astgabel werden. Deshalb fiel er mir auch nicht auf, als ich auf der Kabeltrommel saß und er im Apfelbaum lag. Selbst der Hund bellte nicht; weil Hunde einen Engel weder wittern noch sehen noch anbellen können.
»Sei doch so gut, lieber Gottfried«, bat ich ihn vorgestern, »und schicke mir eine Abschrift jener Anzeige vor Gericht, die du vor etwa zwei Jahren machtest, die meinen Prozeß auslöste.«
Hier habe ich die Abschrift, lasse nun ihn, der vor Gericht gegen midi aussagte, sprechen:
Ich, Gottfried von Vittlar, lag an jenem Tage in der Gabel eines Apfelbaumes, der in meiner Mutter Schrebergarten jedes Jahr soviele Kochäpfel trägt, wie unsere sieben Weckgläser an Apfelmus fassen können. In der Astgabel lag ich, lag also auf der Seite, den linken Beckenknochen im tiefsten, etwas bemoosten Punkt der Gabel gebettet. Meine Füße wiesen gegen die Glashütte Gerresheim. Ich blickte — wohin blickte ich? — geradeaus blickte ich und erwartete, daß sich etwas in meinem Blickfeld zutragen würde.
Der Angeklagte, der heute mein Freund ist, trat in mein Blickfeld. Ein Hund begleitete ihn, umkreiste ihn, benahm sich, wie ein Hund sich benimmt, und hieß, wie mir der Angeklagte später verriet, Lux, war ein Rottweiler, den man in der Nähe der Rochuskirche, in einer Hundeleihanstalt ausleihen konnte.Der Angeklagte setzte sieh auf jene leere Kabeltrommel, die seit Kriegsende dem Schrebergarten meiner Mutter Alice von Vittlar vorliegt. Wie das hohe Gericht weiß, muß man den Körperwuchs des Angeklagten klein, auch verwachsen nennen. Das fiel mir auf. Noch merkwürdiger berührte mich das Benehmen des kleinen, gut angezogenen Herrn. Er trommelte mit zwei dürren Ästen gegen den Rost der Kabeltrommel. Wenn man jedoch bedenkt, daß der Angeklagte von Beruf Trommler ist und, wie sich erwiesen hat, wo er geht und steht, diesen Trommlerberuf ausübt, auch daß die Kabeltrommel — die heißt nicht umsonst so — jeden, selbst einen Laien zum Trommeln verführen kann, wird man sagen müssen: der Angeklagte Oskar Matzerath nahm an einem gewittrigen Sommertag auf jener Kabeltrommel Platz, die dem Schrebergarten der Frau Alice von Vittlar vorlag, und intonierte mit zwei ungleichgroßen dürren Weidenästen rhythmisch geordnete Geräusche.
Weiterhin sage ich aus, daß der Hund Lux längere Zeit lang in einem schnittreifen Roggenfeld verschwand. Über die Länge der Zeit befragt, wüßte ich keine Antwort zu geben, da mir, sobald ich in der Astgabel unseres Apfelbaumes liege, jeder Sinn für die Länge oder Kürze einer Zeit abgeht. Wenn ich dennoch sage, der Hund blieb längere Zeit verschwunden, bedeutet das, daß ich den Hund vermißte, weil er mir mit seinem schwarzen Fell und den Schlappohren gefiel.
Der Angeklagte jedoch — so glaube ich sagen zu dürfen — vermißte den Hund nicht.
Als der Hund Lux aus dem schnittreifen Roggenfeld zurückkam, trug er etwas in der Schnauze. Nicht etwa, daß ich erkannte, was der Hund in der Schnauze hielt! An einen Stock dachte ich, an einen Stein, weniger an eine Blechbüchse oder gar an einen Blechlöffel. Erst als der Angeklagte das corpus delicti der Hundeschnauze entnahm, erkannte ich deutlich, um was es sich handelte. Doch von jenem Augenblick an, da der Hund die noch gefüllte Schnauze am — glaube ich — linken Hosenbein des Angeklagten rieb, bis zu dem leider nicht mehr zu fixierenden Zeitpunkt, da der Angeklagte besitzergreifend hinein griff, vergingen, vorsichtig gesagt, mehrere Minuten.
So sehr sich der Hund auch um die Aufmerksamkeit seines Leihherren bemühte: der trommelte unentwegt in jener eintönig einprägsamen, dennoch unfaßbaren Art, wie Kinder trommeln. Erst als der Hund zu einer Unart Zuflucht nahm, die feuchte Schnauze zwischen die Beine des Angeklagten stieß, ließ jener die Weidenäste sinken und trat — ich erinnere mich genau — rechtsbeinig den Hund. Der schlug einen halben Bogen, näherte sich hündisch zitternd abermals, bot seine gefüllte Schnauze an.
Ohne sich zu erheben, sitzend also, griff der Angeklagte — diesmal linkshändig — dem Hund zwischen die Zähne. Seines Fundes ledig, trat der Hund Lux mehrere Meter hinter sich. Der Angeklagte jedoch blieb sitzen, hielt den Fund in der Hand, schloß die Hand, öffnete sie wieder, schloß abermals und ließ, als er die Hand wieder öffnete, etwas an dem Fund glitzern. Nachdem sich der Angeklagte an den Anblick des Fundes gewöhnt hatte, hielt er ihn mit Daumen und Zeigefinger senkrecht hoch, etwa in Augenhöhe.
Jetzt erst nannte ich für mich den Fund einen Finger, erweiterte, des Glitzerns wegen, den Begriff, sagte Ringfinger und gab damit, ohne es zu ahnen, einem der interessantesten Prozesse der Nachkriegszeit den Namen: Schließlich nennt man mich, Gottfried von Vittlar, den wichtigsten Zeugen im Ringfingerprozeß.
Da der Angeklagte ruhig blieb, blieb auch ich ruhig. Ja, seine Ruhe teilte sich mir mit. Und als der Angeklagte den Finger mit Ring sorgfältig in jenes Tüchlein wickelte, das er zuvor wie ein Kavalier in der Brusttasche hatte blühen lassen, empfand ich Sympathie für den Menschen auf der Kabeltrommel: ein ordentlicher Herr, dachte ich, den möchtest du kennenlernen.
So rief ich ihn an, als er mit seinem Leihhund in Richtung Gerresheim davon wollte. Er aber reagierte zuerst ärgerlich, fast arrogant. Bis heute kann ich nicht begreifen, warum der Angesprochene in mir, nur weil ich im Apfelbaum lag, das Symbol einer Schlange sehen wollte. Auch verdächtigte er die Kochäpfel meiner Mutter, sagte, die seien gewiß paradiesischer Art.
Nun mag es in der Tat zu den Angewohnheiten des Bösen gehören, sich vorzugsweise in Astgabeln zu lagern. Mich jedoch bewog nichts anderes als eine mir mühelos geläufige Langeweile, mehrmals in der Woche den Liegeplatz im Apfelbaum aufzusuchen. Doch vielleicht ist die Langeweile schon das Böse an sich. Was aber trieb den Angeklagten vor die Mauern der Stadt Düsseldorf? Ihn trieb, wie er mir später gestand, die Einsamkeit. Aber ist die Einsamkeit nicht der Vorname der Langeweile? Diese Überlegungen stelle ich alle an, um den Angeklagten zu erklären, und nicht, um ihn zu belasten. War es doch gerade seine Spielart des Bösen, sein Trommeln, das das Böse rhythmisch auflöste, die ihn mir sympathisch machte, so daß ich ihn ansprach und Freundschaft mit ihm schloß. Auch jene Anzeige, die mich als Zeugen, ihn als Angeklagten vor die Schranken des hohen Gerichtes zitiert, ist ein von uns erfundenes Spiel, ein Mittelchen mehr, unsere Langeweile und Einsamkeit zu zerstreuen und zu ernähren.
Auf meine Bitte hin streifte mir der Angeklagte nach einigem Zögern den Ring des Ringfingers, der sich leicht abziehen ließ, auf meinen linken kleinen Finger. Er paßte gut und erfreute mich.
Selbstverständlich verließ ich noch vor der Ringanprobe meine eingelegene Astgabel. Wir standen auf beiden Seiten des Zaunes, tauschten die Namen, sprachen uns ein, indem wir einige politische Themen berührten, und dann gab er mir den Ring. Den Finger behielt er,hielt ihn behutsam. Wir waren uns einig, daß es sich um einen weiblichen Finger handelte. Während ich den Ring trug und ihm Licht gab, begann der Angeklagte mit der freien linken Hand dem Zaun einen tänzerischen, heiter und aufgeräumten Rhythmus anzuschlagen. Nun ist der Holzzaun vor dem Schrebergarten meiner Mutter von so haltloser Art, daß er dem Trommlerbegehren des Angeklagten klappernd, vibrierend, auf hölzerne Weise entgegenkam. Ich weiß nicht, wie lange wir so standen und uns mit den Augen verständigten. Im harmlosesten Spiel fanden wir uns, als ein Flugzeug in mittlerer Höhe seine Motoren hören ließ. Wahrscheinlich wollte die Maschine in 'Lohhausen landen. Obgleich es uns beiden wissenswert war, ob das Flugzeug mit zwei oder vier Motoren zur Landung ansetzen würde, lösten wir dennoch nicht die Blicke voneinander, sprachen das Flugzeug nicht an, nannten dieses Spiel später, als wir dann und wann Gelegenheit fanden, es zu üben, Schugger Leos Askese; denn der Angeklagte will vor Jahren einen Freund gleichen Namens besessen haben, mit dem er dieses Spielchen vorzugsweise auf Friedhöfen spielte.
Nachdem das Flugzeug seinen Landeplatz gefunden hatte — ich kann wirklich nicht sagen, ob es sich um eine zwei-oder viermotorige Maschine handelte — gab ich den Ring zurück. Der Angeklagte steckte ihn dem Ringfinger an, benutzte abermals sein Taschentüchlein als Verpackungsmaterial und forderte mich auf, seinen Weg zu begleiten.
Das war am siebenten Juli neunzehnhunderteinundfünfzig. In Gerresheim nahmen wir an der Endstation der Straßenbahn nicht etwa die Bahn, sondern ein Taxi. Der Angeklagte hatte später noch oft Gelegenheit, sich mir gegenüber großzügig zu zeigen. Wir fuhren in die Stadt, ließen das Taxi vor der Hundeleihanstalt an der Rochuskirche warten, gaben den Hund Lux ab, fanden wieder ins Taxi, das führte uns quer durch die Stadt über Bilk, Oberbilk zum Werstener Friedhof, dort mußte Herr Matzerath über zwölf Mark bezahlen; dann erst besuchten wir das Grabsteingeschäft des Steinmetz Korneff.
Dort war es sehr schmutzig, und ich war froh, als der Steinmetz den Auftrag meines Freundes nach einer Stunde erledigt hatte. Während mir der Freund umständlich und liebevoll das Werkzeug und die verschiedenen Steinsorten erklärte, machte Herr Korneff, der über den Finger kein Wort verlor, einen Gipsabguß des Fingers ohne Ring. Ich sah ihm bei der Arbeit nur mit einem halben Auge zu, mußte doch der Finger vorbehandelt werden; das heißt, man rieb ihn mit Fett ein, ließ einen Zwirnfaden ums Fingerprofil laufen, trug dann erst Gips auf, teilte mit dem Zwirnfaden die Form, bevor der Gips hart wurde. Zwar ist mir, der ich von Beruf Dekorateur bin, das Anfertigen einer Gipsform nichts Neues, doch bekam der Finger, sobald ihn der Steinmetz in die Hand nahm, etwas Unästhetisches, das sich erst wieder verlor, als der Angeklagte, nach geglücktem Abguß, den Finger wieder an sich nahm, vom Fett reinigte und in seinem Tüchlein versorgte. Mein Freund bezahlte den Steinmetz. Der wollte zuerst nichts annehmen, da er in dem Herrn Matzerath einen Kollegen sah. Auch sagte er, der Herr Oskar habe ihm früher die Furunkel ausgedrückt und gleichfalls nichts dafür verlangt. Als der Guß erstarrt war, nahm der Steinmetz die Form auseinander, lieferte dem Original den Abguß nach, versprach, innerhalb der nächsten Tage noch weitere Abgüsse aus der Stückform zu gewinnen, und begleitete uns durch seine Grabsteinausstellung bis -zum Bittweg.
Eine zweite Taxifahrt brachte uns zum Hauptbahnhof. Dort lud midi der Angeklagte zu einem ausgedehnten Abendessen in den gepflegten Bahnhofsgaststätten ein. Mit den Obern sprach er vertraulich, Woraus ich schloß, daß Herr Matzerath ein Stammgast der Bahnhofsgaststätten sein müsse. Wir aßen Ochsenbrust mit frischem Rettich, auch Rheinsahn, schließlich Käse und tranken hinterher ein Fläschchen Sekt. Als wir wieder auf den Finger zu sprechen kamen, ich dem Angeklagten riet, den Finger als fremdes Eigentum zu betrachten, ihn abzugeben, zumal er jetzt doch den Gipsabguß besitze, erklärte der Angeklagte fest und bestimmt, er betrachte sich als rechtmäßigen Besitzer des Fingers, da man ihm schon anläßlich seiner Geburt, wenn auch verschlüsselt durch das Wort Trommelstock, solch einen Finger versprochen habe; auch könne er die Narben seines Freundes Herbert Truczinski nennen, die fingerlang auf dem Rücken des Freundes den Ringfinger prophezeit hätten; dann gebe es noch jene Patronenhülse, die sich auf dem Friedhof Saspe fand, auch die habe die Maße und die Bedeutung eines zukünftigen Ringfingers gehabt.
Wenn ich anfänglich über die Beweisführung meines neugewonnenen Freundes lächeln wollte, muß ich doch zugeben, daß ein aufgeschlossener Mensch die Folge: Trommelstock, Narbe, Patronenhülse, Ringfinger mühelos begreifen müßte.
Ein drittes Taxi brachte mich nach jenem Abendessen nach Hause. Wir verabredeten uns, und als ich nach drei Tagen der Verabredung gemäß den Angeklagten besuchte, hielt der für mich eine Überraschung bereit.
Zuerst zeigte er mir seine Wohnung, das heißt, seine Zimmer, denn Herr Matzerath wohnte in Untermiete. Anfangs hatte er wohl nur ein recht dürftiges, ehemaliges Badezimmer gemietet, zahlte dann später, als seine Trommelkunst ihm Ansehen und Wohlstand brachte, für eine fensterlose Kammer, die er Schwester Dorotheas Kammer nannte, weitere Miete und scheute sich nicht, auch für ein drittes Zimmer, das zuvor ein gewisser Herr Münzer, Musiker und Kollege des Angeklagten, bewohnt hatte, ein Sündengeld auszugeben, denn jener Herr Zeidler, der Mietherr der Wohnung, trieb, da erum den Wohlstand des Herrn Matzerath wußte, die Mieten unverschämt in die Höhe.
In der sogenannten Kammer der Schwester Dorothea hielt der Angeklagte die Überraschung für mich bereit. Auf der Marmorplatte einer Waschkommode mit Spiegel stand ein Weckglas von jener Größe, wie es meine Mutter Alice von Vittlar zum Einwecken des Apfelmuses aus unseren Kochäpfeln verwendet. Jenes Weckglas jedoch beherbergte den im Spiritus schwimmenden Ringfinger. Stolz zeigte der Angeklagte mir mehrere dicke wissenschaftliche Bücher, die ihn beim Konservieren des Fingers geleitet hatten. Ich blätterte nur flüchtig in den Bänden, verweilte kaum über den Abbildungen, gab aber zu, daß es dem Angeklagten gelungen sei, das Aussehen des Fingers zu wahren, auch nahm sich das Glas mit Inhalt vor dem Spiegel recht hübsch und dekorativ interessant aus; was ich als ein Dekorateur von Beruf immer wieder bestätigen konnte.
Als der Angeklagte merkte, daß ich mich mit dem Anblick des Weckglases befreundet hatte, verriet er mir, daß er jenes Glas gelegentlich anbete. Neugierig, auch etwas keß bat ich ihn sogleich um eine Probe seines Gebetes. Er bat mich um einen Gegendienst, versorgte mich mit Bleistift und Papier, verlangte, ich möge doch sein Gebet mitschreiben, auch Fragen stellen bezüglich des Fingers, er wolle nach bestem Wissen betend antworten.
Hier gebe ich als Zeugnis Worte des Angeklagten, meine Fragen, seine Antworten — die Anbetung eines Weckglases: Ich bete an. Wer ich? Oskar oder ich? Ich fromm, Oskar zerstreut. Hingebung, ohne Unterlaß, nur keine Angst vor Wiederholungen. Ich, einsichtig, weil ohne Gedächtnis. Oskar, einsichtig, weil voller Erinnerungen. Kalt, heiß, warm, ich. Schuldig bei Nachfrage. Unschuldig ohne Nachfrage. Schuldig weil, kam zu Fall weil, wurde schuldig trotz, sprach mich frei von, wälzte ab auf, biß mich durch durch, hielt mich frei von, lachte aus an über, weinte um vor ohne, lästerte sprechend, verschwieg lästernd, spreche nicht, schweige nicht, bete. Ich bete an. Was? Glas. Was Glas?
Weckglas. Was weckt das Glas ein? Weckglas weckt Finger ein. Was Finger? Ringfinger. Wessen Finger? Blond. Wer blond? Mittelgroß. Mißt Mittelgroß einen Meter sechzig? Mittelgroß mißt einen Meter dreiundsechzig. Was besonderes? Leberfleck. Wo Fleck? Oberarm Innenseite. Links reckts?
Rechts. Ringfinger wo? Links. Verlobt? Ja, doch ledig. Bekenntnis? Reformiert. Unberührt?
Unberührt. Geboren wann? Weiß nicht. Wann? Bei Hannover. Wann? Im Dezember. Schütze oder Steinbock? Schütze. Und der Charakter? Ängstlich. Gutwillig? Fleißig, auch schwatzhaft. Besonnen?
Sparsam, nüchtern, auch heiter. Schüchtern? Naschhaft, aufrichtig und bigott. Blaß, träumt meistens von Reisen, Menstruation unregelmäßig, träge, leidet gerne und spricht darüber, selbst einfallslos, passiv, läßt es drauf ankommen, hört gut zu, nickt zustimmend, verschränkt die Arme, senkt beim Sprechen die Lider, schlägt, wenn angesprochen, die Augen groß auf, hellgrau mit braun nahe der Pupille, Ring vom Vorgesetzten geschenkt bekommen, der verheiratet, wollte zuerst nicht annehmen, nahm an, schreckliches Erlebnis, faserig, Satan, viel weiß, verreiste, zog um, kam wieder, konnte nicht ablassen, auch Eifersucht aber unbegründet, Krankheit aber nicht selbst, Tod aber nicht selbst, doch, nein, weiß nicht, will nicht, pflückte Kornblumen, da kam, nein, begleitete schon vorher, kann nicht mehr ... Amen? Amen.
Nur deshalb füge ich, Gottfried von Vittlar, meiner Aussage vor Gericht dieses mitgeschriebene Gebet bei, weil, so verworren es sich lesen mag, die Angaben über die Besitzerin des Ringfingers sich zum großen Teil mit den gerichtlichen Angaben über die Ermordete, die Krankenschwester Dorothea Köngetter, decken. Es ist nicht meine Aufgabe, die Aussage des Angeklagten, er habe weder die Krankenschwester ermordet noch von Angesicht zu Angesicht gesehen, hier anzuzweifeln.
Bemerkenswert, und für den Angeklagten sprechend, will mir heute noch die Hingabe sein, mit der mein Freund vor dem Weckglas, das er auf einen Stuhl gestellt hatte, kniete und seine Blechtrommel bearbeitete, die er sich zwischen die Knie geklemmt hatte.
Ich habe noch oft, über ein Jahr lang Gelegenheit gehabt, den Angeklagten beten und trommeln zu sehen, denn er machte mich gegen ein großzügiges Gehalt zu seinem Reisebegleiter, nahm mich auf seine Tourneen mit, die er längere Zeit lang unterbrochen hatte, aber kurz nach dem Fund des Ringfingers wieder aufnahm. Wir bereisten ganz Westdeutschland, hatten auch Angebote in die Ostzone, selbst ins Ausland. Doch Herr Matzerath wollte sich innerhalb der Landesgrenzen halten, wollte, nach seinen eigenen Worten, nicht in den üblichen Konzertreisenrummel hineingeraten.
Niemals trommelte und betete er vor der Vorstellung das Weckglas an. Erst nach seinem Auftritt und nach ausgedehntestem Abendbrot fanden wir uns in seinem Hotelzimmer: er trommelte und betete, ich stellte Fragen und schrieb nieder, hernach verglichen wir das Gebet mit den Gebeten der vorangegangenen Tage und Wochen. Zwar gibt es längere und kürzere Gebete. Auch stoßen sich manchmal die Worte heftig, fließen am nächsten Tag fast beschaulich und langatmig. Dennoch sagen alle von mir gesammelten Gebete, die ich hiermit dem hohen Gericht übergebe, nicht mehr aus als jene erste Niederschrift, die ich meiner Aussage beifügte.
Während dieses Reisejahres lernte ich flüchtig, zwischen Tournee und Tournee, einige Bekannte und Verwandte des Herrn Matzerath kennen. So stellte er mir seine Stiefmutter Frau Maria Matzerath vor, die der Angeklagte sehr, doch zurückhaltend, verehrt. An jenem Nachmittag begrüßte mich auch der Halbbruder des Angeklagten, Kurt Matzerath, ein elfjähriger guterzogener Gymnasiast. Gleichfalls machte die Schwester der Frau Maria Matzerath, Frau Auguste Köster, auf mich einen vorteilhaften Eindruck. Wie mir der Angeklagte gestand, waren seine Familienverhältnisse während der ersten Nachkriegsjahre mehr als gestört. Erst als Herr Matzerath seiner Stiefmutter ein großes Feinkostgeschäft, das auch Südfrüchte führt, einrichtete, auch immer wieder mit seinen Mitteln nachhalf, wenn dem Geschäft Schwierigkeiten drohten, kam es zu jenem freundschaftlichen Bund zwischen Stiefmutter und Stiefsohn.
Auch machte mich Herr Matzerath mit einigen ehemaligen Kollegen, vorwiegend Jazzmusikern bekannt. So heiter und umgänglich mir der Herr Münzer, den der Angeklagte vertraulich Klepp nennt, vorkommen wollte, hatte ich bis heute nicht Mut und Willen genug, diese Kontakte weiter zu pflegen.
Wenn ich es dank der Großzügigkeit des Angeklagten auch nicht nötig hatte, weiterhin den Beruf des Dekorateurs auszuüben, übernahm ich dennoch, aus Freude am Beruf, sobald wir nach einer Tournee wieder im Lande waren, die Dekoration einiger Schaufenster. Auch der Angeklagte interessierte sich freundlich für mein Handwerk, stand oftmals zu später Nachtstunde auf der Straße und wurde nicht müde, meinen bescheidenen Künsten den Zuschauer zu liefern. Gelegentlich machten wir nach getaner Arbeit noch einen kleinen Bummel durchs nächtliche Düsseldorf, mieden aber die Altstadt, da der Angeklagte keine Butzenscheiben und altdeutschen Wirtschaftsschilder sehen mag. So führte uns — und ich komme jetzt zum letzten Teil meiner Aussage — ein Spaziergang nach Mitternacht durchs nächtliche Unterrath vor das Straßenbahndepot.
Wir standen einträchtig und sahen den letzten planmäßig einlaufenden Straßenbahnwagen zu. Hübsch ist solch ein Schauspiel. Rings die dunkle Stadt. Fern grölt, weil Freitag ist, ein betrunkener Bauarbeiter. Sonst Stille, denn die letzten einlaufenden Straßenbahnen machen, selbst wenn sie klingeln und gekurvte Schienen sprechen lassen, keinen Lärm. Die meisten Wagen fuhren sogleich ins Depot ein. Einige Wagen jedoch standen kreuz und quer, leer, aber festlich beleuchtet auf den Gleisen.
Wessen Idee war es? Es war unsere Idee, aber ich sagte: »Nun, lieber Freund, wie wäre es?« Herr Matzerath nickte, wir stiegen ohne Hast ein, ich stellte mich an den Führerstand, fand mich sofort zurecht, fuhr weich, schnell Geschwindigkeit gewinnend, an, zeigte mich als ein guter Straßenbahnführer, was mir Herr Matzerath — wir hatten die Helligkeit des Depots schon hinter uns — freundlich mit diesem Sätzchen quittierte: »Gewiß bist du ein getaufter Katholik, Gottfried, sonst könntest du nicht so gut Straßenbahn fahren.«
In der Tat machte mir die kleine Gelegenheitsarbeit viel Freude. Man schien am Depot unsere Abfahrt nicht bemerkt zu haben; denn niemand verfolgte uns, auch hätte man durch das Abschalten des Leitungsstromes unser Gefährt mühelos stoppen können. Ich führte den Wagen in Richtung Flingern, durch Flingern hindurch, überlegte, ob ich bei Haniel links einbiegen, nach Rath, Ratingen hinauffahren sollte, da bat mich Herr Matzerath, die Strecke Grafenberg, Gerresheim einzuschlagen.
Obgleich ich die Steigung unterhalb der Tanzgaststätte Löwenburg fürchtete, kam ich dem Wunsch des Angeklagten nach, schaffte die Steigung, hatte die Tanzgaststätte schon hinter mir, da mußte ich den Wagen bremsen, weil drei Männer auf den Schienen standen und ein Halt mehr erzwangen denn erbaten.
Herr Matzerath hatte schon kurz hinter Haniel das Innere des Wagens aufgesucht, um eine Zigarette zu rauchen. So mußte ich als Straßenbahnführer »Einsteigen bitte!« rufen. Es fiel mir auf, daß der dritte, hutlose Mann, den die beiden anderen, die grüne Hüte mit schwarzen Hutbändern trugen, in der Mitte hatten, beim Einsteigen ungeschickt oder sehbehindert mehrmals das Trittbrett verfehlte. Recht brutal halfen ihm seine Begleiter oder Wächter in meinen Führerstand und gleich darauf in den Wagen.
Ich fuhr schon wieder, da hörte ich von hinten her, aus dem Wageninneren zuerst ein klägliches Wimmern, auch ein Geräusch, als verteilte jemand Ohrfeigen, dann jedoch, zu meiner Beruhigung, die feste Stimme des Herrn Matzerath, der die frisch Zugestiegenen zurechtwies und sie ermahnte, einen verletzten, halbblinden Menschen, der unter dem Verlust seiner Brille leide, nicht zu schlagen.
»Mischen Sie sich da nicht rein!« hörte ich einen der Grünhüte brüllen. »Der wird heut' noch sein blaues Wunder erleben. Hat lange genug gedauert.«
Mein Freund, der Herr Matzerath, wollte, während ich langsam gen Gerresheim fuhr, wissen, was der arme Halbblinde denn verbrochen habe. Das Gespräch nahm sogleich eine merkwürdige Wendung:
nach zwei Sätzen befand man sich mitten im Krieg, oder vielmehr drehte es sidi um den ersten September neununddreißig, Kriegsausbruch, der Halbblinde wurde Freischärler genannt, der ein polnisches Postgebäude widerrechtlich verteidigt hatte. Merkwürdigerweise war auch Herr Matzerath, der zu dem Zeitpunkt allenfalls fünfzehn Jahre gezählt hatte, auf dem laufenden, erkannte sogar den Halbblinden, nannte ihn Viktor Weluhn, einen armen, kurzsichtigen Geldbriefträger, der während der Kampfhandlungen seine Brille verlor, der brillenlos floh, den Schergen entkam, doch die ließen nicht locker, verfolgten ihn bis Kriegsende, sogar bis in die Nachkriegsjahre hinein, zeigten auch ein Papier vor, im Jahr neununddreißig ausgestellt, einen Erschießungsbefehl. Endlich hätten sie ihn, schrie der eine Grünhut, und der andere Grünhut versicherte, er sei froh, daß die Geschichte jetzt endlich bereinigt sei. Seine ganze Freizeit, auch die Ferien müsse er opfern, damit ein Erschießungsbefehl aus dem Jahre neununddreißig endlich ausgeführt werde, schließlich habe er noch einen Beruf, sei Handelsvertreter, und sein Kumpel habe als Ostflüchtling gleichfalls seine Schwierigkeiten, der müsse noch mal ganz von vorne anfangen, habe im Osten eine gutgehende Maßschneiderei verloren, aber jetzt sei Feierabend; heute nacht wird der Befehl ausgeführt, dann ist Schluß mit der Vergangenheit — wie gut, daß wir noch die Straßenbahn erwischt haben.
So wurde ich also wider Willen zu einem Straßenbahnführer, der einen zum Tode Verurteilten und zwei Henker mit Erschießungsbefehl nach Gerresheim führte. Auf dem leeren, etwas verkanteten Marktplatz des Vorortes bog ich rechts ein, wollte den Wagen bis zur Endstation nahe der Glashütte führen, dort die Grünhüte und den halbblinden Viktor abladen und mit meinem Freund die Heimreise antreten. Drei Stationen vor der Endhaltestelle verließ Herr Matzerath das Wageninnere, stellte seine Aktentasche, in der, wie ich wußte, aufrecht das Weckglas stand, etwa dorthin, wo berufsmäßige Straßenbahnführer ihre Blechschachtel mit den Butterbroten lagern.
»Wir müssen ihn retten. Es ist Viktor, der arme Viktor!« Herr Matzerath war offensichtlich erregt.
»Immer noch nicht hat er eine passende Brille gefunden. Er ist stark kurzsichtig, sie werden ihn erschießen, und er wird in die falsche Richtung blicken.« Ich hielt die Henker für waffenlos. Aber dem Herrn Matzerath waren die sperrig gebauschten Mäntel der beiden Grünhüte aufgefallen.
»Er war Geldbriefträger bei der Polnischen Post in Danzig. Jetzt übt er denselben Beruf bei der Bundespost aus. Nach Feierabend jedoch hetzen sie ihn, weil es noch immer den Erschießungsbefehl gibt.«
Wenn ich auch den Herrn Matzerath nicht in allen Punkten verstand, versprach ich ihm dennoch, an seiner Seite der Erschießung beizuwohnen und wenn möglich mit ihm die Erschießung zu verhindern.
Hinter der Glashütte, kurz vor den Schrebergärten — ich hätte bei Mondschein den Garten meiner Mutter mit dem Apfelbaum sehen können — bremste ich den Straßenbahnwagen und rief ins Wageninnere: »Aussteigen bitte, Endstation!« Sie kamen auch sogleich mit ihren grünen Hüten und schwarzen Hutbändern. Der Halbblinde hatte abermals Mühe mit dem Trittbrett. Dann stieg Herr Matzerath aus, zog zuvor seine Trommel unter dem Rock hervor und bat mich beim Aussteigen, seine Aktentasche mit dem Weckglas mitzunehmen.
Den noch lange leuchtenden Straßenbahnwagen ließen wir zurück und blieben den Henkern, auch dem Opfer auf den Fersen.
An Gartenzäunen ging es entlang. Das machte mich müde. Als die drei vor uns stillstanden, bemerkte ich, daß man den Schrebergarten meiner Mutter zum Erschießungsort auserkoren hatte. Nicht nur Herr Matzerath, auch ich protestierte. Die kümmerten sich nicht darum, legten den ohnehin morschen Lattenzaun flach, banden jenen Halbblinden, den der Herr Matzerath den armen Viktor nennt, an den Apfelbaum unterhalb meiner Astgabel und zeigten uns im Taschenlampenlicht, da wir weiter protestierten, abermals jenen knitterigen Erschießungsbefehl, den ein Feldjustizinspektor namens Zelewski unterzeichnet hatte. Das Datum zeigte, ich glaube, Zoppot, den fünften Oktober neununddreißig an, auch die Stempel stimmten, es war kaum etwas zu machen; und dennoch redeten wir von den Vereinten Nationen, von Demokratie, Kollektivschuld, Adenauer und so weiter; aber der eine Grünhut wischte alle unsere Einwürfe mit der Bemerkung weg, wir hätten uns da nicht reinzumischen, es gebe noch keinen Friedensvertrag, er wähle genau wie wir Adenauer, doch was den Befehl angehe, der habe noch seine Gültigkeit, sie seien mit dem Papier zu höchsten Stellen gegangen, hätten sich beraten lassen, täten schließlich nichts als ihre verdammte Pflicht, es sei wohl besser, wir würden gehen.
Wir gingen nicht. Vielmehr rückte sich Herr Matzerath, als die Grünhüte ihre Mäntel öffneten und die Maschinenpistolen herausschwingen ließen, seine Trommel zurecht — in jenem Moment brach ein fast voller, nur leicht eingebeulter Mond die Wolken auf, ließ Wolkenränder metallen, wie den zackigen Rand einer Konservenbüchse blinken — und auf ähnlichem, doch heilem Blech begann Herr Matzerath die Stöcke zu mischen, tat das verzweifelt. Das hörte sich fremd an und kam mir dennoch bekannt vor. Oft und immer wieder rundete sich der Buchstabe O: verloren, noch nicht verloren, noch ist nicht verloren, noch ist Polen nicht verloren! Doch das war schon die Stimme des armen Viktor, die da zur Trommel des Herrn Matzerath den Text wußte: Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben. Und auch den Grünhüten schien der Rhythmus bekannt zu sein, denn sie verkrampften sich hinter ihren vom Mondschein nachgezeichneten Metallteilen, rief doch jener Marsch, den der Herr Matzerath und der arme Viktor im Schrebergarten meiner Mutter laut werden ließen, die polnische Kavallerie auf den Plan. Mag sein, daß der Mond nachhalf, daß Trommel, Mond und die brüchige Stimme des kurzsichtigen Viktor gemeinsam soviele berittene Rosse aus dem Boden stampften: Hufe donnerten, Nüstern schnaubten, Sporen klirrten, Hengste wieherten, Hussa und Heissa... nichts davon, nichts donnerte, schnaubte, klirrte, wieherte, nicht Hussa, nicht Heissa schrie es, sondern glitt lautlos über die abgeernteten Felder hinter Gerresheim, war dennoch eine polnische Ulanenschwadron, denn weißrot, wie die gelackte Trommel des Herrn Matzerath, zerrten die Wimpel an Lanzen, nein, zerrten nicht, schwammen, wie auch die ganze Schwadron unterm Mond, womöglich vom Mond herkommend, schwamm, links einschwenkend in Richtung unseres Schrebergartens schwamm, nicht Fleisch, nicht Blut zu sein schien, dennoch schwamm, gebastelt, dem Spielzeug gleich, herangeisterte, vielleicht vergleichbar jenen Knotengebilden, die der Pfleger des Herrn Matzerath aus Bindfäden knüpft: eine Polnische Kavallerie geknotet, ohne Laut, dennoch donnernd, fleischlos, blutlos und dennoch polnisch und zügellos auf uns zu, daß wir uns zu Boden warfen, den Mond und Polens Schwadron erduldeten, auch über den Garten meiner Mutter, über all die anderen, sorgfältig gepflegten Schrebergärten fielen sie her, verwüsteten dennoch keinen, nahmen nur den armen Viktor mit und auch die beiden Henker, verloren sich dann gegen das offene Land unterm Mond hin — verloren, noch nicht verloren, beritten in Richtung Osten, nach Polen, hinter dem Mond.
Wir warteten schweratmend ab, bis die Nacht wieder ohne Ereignis war, bis der Himmel sich wieder schloß und jenes Licht wegnahm, das da längst verweste Reiterheere zur letzten Attacke überreden konnte. Ich erhob mich zuerst und gratulierte, obgleich ich den Einfluß des Mondes nicht unterschätzte, dem Herrn Matzerath zu seinem großen Erfolg. Er aber winkte müde und recht niedergeschlagen ab: »Erfolg, lieber Gottfried? Ich habe viel zu viel Erfolg in meinem Leben gehabt.
Ich möchte einmal keinen Erfolg haben. Aber das ist sehr schwer und erfordert viel Arbeit.«
Mir gefiel diese Rede nicht, weil ich zu den fleißigen Menschen gehöre und dennoch keinen Erfolg habe. Undankbar wollte mir der Herr Matzerath erscheinen, und so tadelte ich ihn: »Du bist überheblich, Oskar!« wagte ich anzufangen, denn damals duzten wir uns schon. »Alle Zeitungen sind voll von dir. Du hast dir einen Namen gemacht. Ich will hier nicht vom Geld reden. Aber glaubst du, daß es für mich, den keine Zeitung nennt, leicht ist, neben dir, dem Gefeierten, auszuharren? Wie gerne möchte auch ich einmal eine Tat, eine einzigartige Tat, wie jene Tat, die du eben vollbrachtest, ganz alleine vollbringen und so in die Zeitung kommen, mit Druckbuchstaben gedruckt werden: Das tat Gottfried von Vittlar!«
Mich kränkte das Gelächter des Herrn Matzerath. Er lag auf dem Rücken, wühlte seinen Buckel in die lockere Erde, rupfte mit beiden Händen Gras aus, warf die Büschel hoch und lachte wie ein unmenschlicher Gott, der alles kann: »Mein Freund, nichts leichter als das! Hier, die Aktentasche!
Wunderbarerweise geriet sie nicht unter die Hufe der Polnischen Kavallerie. Ich schenke sie dir, birgt das Leder doch jenes Weckglas mit dem Ringfinger. Nimm dieses alles, laufe nach Gerresheim, dort steht noch immer die hellerleuchtete Straßenbahn, steige ein und fahre dich mit meinem Geschenk in Richtung Fürstenwall zum Polizeipräsidium, erstatte Anzeige, und schon morgen wirst du deinen Namen in allen Zeitungen buchstabiert finden!«
Anfangs wehrte ich mich noch gegen das Angebot, wendete ein, er könne sicher nicht ohne den Finger im Glas leben. Er aber beruhigte mich, sagte, er habe im Grunde die ganze Fingergeschichte satt, besitze zudem mehrere Gipsabdrücke, auch habe er sich einen Abguß in nacktem Gold anfertigen lassen, ich möge nun endlich die Tasche nehmen, zur Straßenbahn zurückfinden, mit der Bahn zur Polizei fahren und die Anzeige erstatten.
So lief ich und hörte den Herrn Matzerath noch lange lachen. Denn er blieb liegen, wollte, während ich mich gegen die Stadt hinklingelte, die Nacht auf sich wirken lassen, Gras ausreißen und lachen.
Die Anzeige jedoch — ich erstattete sie erst am nächsten Morgen — hat mich mehrmals, dank Herrn Matzeraths Güte, in die Zeitungen gebracht. — Ich aber, Oskar, der gütige Herr Matzerath, lag lachend im nachtschwarzen Gras hinter Gerresheim, wälzte mich lachend unter einigen sichtbaren todernsten Sternen, wühlte meinen Buckel ins warme Erdreich, dachte: Schlaf Oskar, schlaf noch ein Stündchen, bevor die Polizei erwacht. So frei liegst du nie mehr unter dem Mond.
Und als ich erwachte, bemerkte ich, bevor ich bemerken konnte, daß es taghell war, daß etwas, jemand mein Gesicht leckte: warm, rauh, gleichmäßig, feucht leckte.
Das wird doch nicht etwa schon die Polizei sein, die, vom Vittlar geweckt, hierhergefunden hat und dich wachleckt? Dennoch öffnete ich nicht sogleich die Augen, sondern ließ mich noch ein wenig warm, rauh, gleichmäßig, feucht lecken, genoß das, ließ es mir gleichgültig sein, wer mich da leckte: entweder die Polizei, mutmaßte Oskar, oder eine Kuh. Dann erst öffnete ich meine blauen Augen.
Sie war schwarzweiß gefleckt, lag neben mir, atmete und leckte mich, bis ich die Augen öffnete.
Taghell war es, wolkig bis heiter, und ich sagte mir: Oskar, verweile dich nicht bei dieser Kuh, so himmlisch sie dich auch anblickt, so fleißig sie auch mit ihrer rauhen Zunge dein Gedächtnis beruhigt und schmälert. Taghell ist es, die Fliegen brummen, du mußt dich auf die Flucht machen. Vittlar zeigt dich an, folglich mußt du fliehen. Zu einer echten Anzeige gehört auch eine echte Flucht. Laß die Kuh muhen und fliehe. Sie werden dich hier oder dort fangen, aber das kann dir gleichgültig sein.
So machte ich mich, von einer Kuh geleckt, gewaschen und gekämmt, auf die Flucht, verfiel schon nach den ersten Fluchtschritten einem morgendlich hellen Gelächter, ließ meine Trommel bei der Kuh, die liegenblieb und muhte, während ich lachend floh.