KARFREITAGSKOST

Zwiespältig, das wäre ein Wort, meine Gefühle zwischen dem Karmontag und dem Karfreitag zu benennen. Einerseits ärgerte ich mich über jenen gipsernen Jesusknaben, der nicht trommeln wollte, andererseits blieb so mir alleine die Trommel vorbehalten. Wenn auf der einen Seite meine Stimme den Kirchenfenstern gegenüber auch versagte, erhielt sich Oskar auf der anderen Seite angesichts des heilen und bunten Glases jenen Rest katholischen Glaubens, der ihm noch viele verzweifelte Lästerungen eingeben sollte.

Doch weiter im Zwiespalt: gelang es mir einerseits, auf dem Heimweg, von der Herz-Jesu-Kirche kommend, probeweise ein Mansardenfenster zu zersingen, machte mich andererseits der Erfolg meiner Stimme dem Profanen gegenüber fortan auf meine Mißerfolge im sakralen Sektor aufmerksam.

Zwiespältig, sage ich. Dieser Bruch blieb, ließ sich nicht heilen und klafft heute noch, da ich weder im Sakralen noch im Profanen beheimatet bin, dafür etwas abseits in einer Heil-und Pflegeanstalt hause.

Mama bezahlte den Schaden am linken Seitenaltar. Das Ostergeschäft war gut, obgleich der Laden auf Matzeraths Wunsch, der ja Protestant war, am Karfreitag geschlossen werden mußte. Mama, die sonst immer ihren Willen durchsetzte, gab jeweils an den Karfreitagen nach, machte den Laden zu und beanspruchte dafür am Fronleichnamstag das Recht, aus katholischen Gründen das Kolonialwarengeschäft geschlossen zu halten, die Persilpackungen und Kaffee-Hag-Attrappen gegen ein buntes, elektrisch beleuchtetes Marienbildchen im Schaufenster auszutauschen und an der Prozession in Oliva teilzunehmen.

Es gab einen Pappdeckel, auf dessen einer Seite man lesen konnte: Wegen Karfreitag geschlossen. Die andere Seite der Pappe besagte: Wegen Fronleichnam geschlossen. An jenem Karfreitag, der dem trommellosen und stimmlosen Karmontag folgte, hängte Matzerath die Pappe mit »Wegen Karfreitag geschlossen« ins Schaufenster, und wir fuhren gleich nach dem Frühstück mit der Straßenbahn nach Brösen. Um beim Wort zu bleiben: zwiespältig nahm sich der Labesweg aus. Die Protestanten gingen zur Kirche, die Katholiken putzten die Fensterscheiben und klopften auf den Hinterhöfen alles, was einem Teppich nur ähnlich war, so kraftvoll und weithallend, daß man meinte, biblische Knechte nagelten auf allen Höfen der Mietshäuser gleichzeitig einen vervielfältigten Heiland auf vervielfältigte Kreuze.

Wir aber ließen die passionsträchtige Teppichklopferei hinter uns, setzten uns in oftbewährter Zusammenstellung: Mama, Matzerath, Jan Bronski und Oskar in die Straßenbahn Linie Neun und fuhren durch den Brösener Weg, am Flugplatz, alten und neuen Exerzierplatz vorbei, warteten an der Weiche neben dem Friedhof Saspe auf die von Neufahrwasser — Brösen entgegenkommende Bahn.

Mama nahm den Aufenthalt zum Anlaß für lächernd geäußerte, dennoch lebensmüde Betrachtungen.

Den kleinen unbenutzten Gottesacker, auf dem sich schief und bewachsen Grabsteine des letzten Jahrhunderts unter verkrüppelten Strandkiefern hielten, nannte sie hübsch, romantisch und bezaubernd.

»Auf dem mecht ich mal liegen, wenner noch in Betrieb war«, schwärmte Mama. Aber Matzerath fand den Boden zu sandig, beschimpfte die dort wuchernden Stranddisteln und den tauben Hafer. Jan Bronski gab zu bedenken, daß der Lärm vom Flugplatz her und die sich neben dem Friedhof ausweichenden Straßenbahnen den Frieden des sonst idyllischen Fleckens stören könnten.

Die entgegenkommende Bahn wich uns aus, zweimal klingelte der Schaffner, und wir fuhren, Saspe und seinen Friedhof hinter uns lassend, gegen Brösen, ein Badeort, der um diese Zeit, etwa Ende April, recht schief und trostlos aussah. Die Erfrischungsbuden vernagelt, das Kurhaus blind, der Seesteg ohne Fahnen, in der Badeanstalt reihten sich zweihundertfünfzig leere Zellen. An der Wettertafel noch Kreidespuren vom Vorjahr: Luft: zwanzig; Wasser: Siebzehn; Wind: Nordost;

Weitere Aussichten: heiter bis wolkig.

Zuerst wollten wir alle zu Fuß nach Glettkau, schlugen dann aber, ohne es zu besprechen, den entgegengesetzten Weg, den Weg zur Mole ein. Die Ostsee leckte träge und breit den Strand. Bis zur Hafeneinfahrt zwischen weißem Leuchtturm und der Mole mit dem Seezeichen kein Mensch unterwegs. Ein am Vortag gefallener Regen hatte dem Sand sein gleichmäßigstes Muster aufgedrückt, das zu zerstören, barfuß Stempel hinterlassend, Spaß machte. Matzerath ließ guldenstückgroße, sanft geschliffene Ziegelscherben übers grünliche Wasser hüpfen und zeigte Ehrgeiz dabei. Jan Bronski, weniger geschickt, suchte zwischen den Wurfversuchen nach Bernstein, fand auch einige Sputter und ein Stück von der Größe eines Kirschkernes, das er Mama schenkte, die gleich mir barfuß lief, sich immer wieder umblickte und wie in ihre Spuren verliebt zeigte. Die Sonne schien vorsichtig. Es war kühl, windstill, klar; man konnte den Streifen am Horizont erkennen, der die Halbinsel Heia bedeutete, auch zwei drei schwindende Rauchfahnen und die sprunghaft über die Kimm kletternden Aufbauten eines Handelsschiffes.Nacheinander und in unterschiedlichen Abständen erreichten wir die ersten Granitbrocken der breiten Molenwurzel. Mama und ich zogen wieder Strümpfe und Schuhe an. Sie half mir beim Schnüren, während Matzerath und Jan schon auf dem holperigen Scheitel der Mole von Stein zu Stein gegen die offene See hinhüpften. Klamme Tangbärte wuchsen unordentlich aus den Fugen des Fundamentes. Oskar hätte sie kämmen mögen. Aber Mama nahm mich bei der Hand, und wir folgten den Männern, die vor uns wie Schulbuben taten. Bei jedem Schritt schlug meine Trommel gegen mein Knie; ich wollte sie mir selbst hier nicht abnehmen lassen. Mama trug einen hellblauen Frühjahrsmantel mit himbeerfarbenen Aufschlägen. Die Granitbrocken bereiteten ihren Stöckelschuhen Mühe. Ich steckte wie an jedem Sonn-und Feiertag in meinem Matrosenmantel mit den goldenen Ankerknöpfen. Ein altes Mützenband aus Gretchen Schefflers Andenkensammlung mit der Aufschrift »SMS Seydlitz« faßte meine Matrosenmütze ein, hätte geflattert, wenn es windig gewesen wäre. Matzerath knöpfte seinen braunen Paletot auf. Jan, vornehm wie immer, im Ulster mit dem schimmernden Sammetkragen.

Wir sprangen bis zum Seezeichen am Ende der Mole. Unter dem Seezeichen saß ein älterer Mann mit Stauermütze und wattierter Jacke. Neben ihm lag ein Kartoffelsack, in dem es zuckte und unaufhörlich Bewegung zeigte. Der Mann, der wahrscheinlich in Brösen oder Neufahrwasser zu Hause war, hielt das Ende einer Wäscheleine. Mit Seegras verfilzt verschwand die Leine im brackigen Mottlauwasser, das in der Mündung noch ungeklärt und ohne Hilfe der offenen See gegen die Molensteine klatschte.

Wir wollten wissen, warum der Mann unter der Stauermütze mit einer ordinären Wäscheleine und offensichtlich ohne Schwimmer angelte. Mama fragte ihn gutmütig spöttelnd und sagte Onkel zu ihm.

Der Onkel grinste, zeigte uns tabakbraune Zahnstümpfe und spuckte, ohne sich weiter .zu erklären, langen, brockigen, sich in der Luft überschlagenden Saft in die Brühe zwischen den unteren, teerund ölüberzogenen Granitbuckeln. Dort schaukelte die Ausscheidung so lange, bis eine Möwe kam und sie ihm Flug, den Steinen geschickt ausweichend, mitnahm und andere, kreischende Möwen nach sich zog.

Schon wollten wir gehen, denn es war kühl auf der Mole, und die Sonne half nicht, da begann der Mann mit der Stauermütze das Seil Zug um Zug einzuholen. Mama wollte trotzdem gehen. Aber Matzerath war nicht vom Fleck zu bringen. Auch Jan, der sonst Mama keinen Wunsch abschlug, wollte sie diesmal nicht unterstützen. Oskar war es gleichgültig, ob wir blieben oder gingen. Doch weil wir blieben, schaute ich zu. Während der Stauer gleichmäßig greifend, mit jedem Griff das Seegras abstreifend, die Leine zwischen seinen Beinen sammelte, vergewisserte ich mich, daß der Handelsdampfer, der vor einer knappen halben Stunde kaum mit den Aufbauten über die Kimm gelangt hatte, nun, tief im Wasser liegend, den Kurs änderte und den Hafen anlief. Wenn er so tief liegt, wird es ein Schwede mit Erz sein, schätzte Oskar.

Ich ließ von dem Schweden ab, als der Stauer sich umständlich erhob. »Na nu mechten wä beßchen kieken, was is mit ihm.« Das sagte er zu Matzerath, der nichts verstand und dem Stauer dennoch beipflichtete. »Na nu mechten wä ...« und »Beßchen kieken ...« ständig wiederholend hievte der Stauer das Seil weiterhin, doch nun mit mehr Anstrengung, kletterte dem Seil entgegen die Steine hinunter und griff — Mama drehte sich nicht rechtzeitig genug weg — breitarmig griff er in die aufblubbernde Bucht zwischem dem Granit, suchte, faßte etwas, faßte nach, zog und schleuderte, laut Platz fordernd, etwas triefend Schweres, einen sprühend lebendigen Brocken zwischen uns: einen Pferdekopf, einen frischen, wie echten Pferdekopf, den Kopf eines schwarzen Pferdes, einen schwarzmähnigen Rappenkopf also, der gestern noch, vorgestern noch gewiehert haben mochte; denn faul war der Kopf nicht, stank nicht, höchstens nach Mottlauwasser; aber danach roch alles auf der Mole.

Schon stand der mit der Stauermütze — die saß ihm jetzt im Nak-ken — breitbeinig über dem Stück Gaul, aus dem sich wütend hellgrün kleine Aale schleuderten. Der Mann hatte Mühe, sie zu fangen; denn Aale bewegen sich auf glatten, dazu noch feuchten Steinen schnell und geschickt. Auch waren sofort Möwen und Möwengeschrei über uns. Die stießen zu, schafften spielend zu dritt oder viert einen kleinen bis mittleren Aal, ließen sich auch nicht vertreiben; denn denen gehörte die Mole.

Trotzdem gelang es dem Stauer, der zwischen die Möwen schlug und Zugriff, vielleicht zwei Dutzend kleinere Aale in den Sack zu stopfen, den Matzerath hilfsbereit, wie er sich gerne gab, hielt. So konnte er auch nicht sehen, daß Mama käsig im Gesicht wurde, zuerst die Hand und gleich darauf den Kopf auf Jans Schulter und Sammetkragen legte.

Aber als die kleinen und mittleren Aale im Sack waren und der Stauer, dem bei seinem Geschäft die Mütze vom Kopf gefallen war, anfing, dickere, dunkle Aale aus dem Kadaver zu würgen, da mußte Mama sich setzen, und Jäh wollte ihr den Kopf weg drehen, aber das ließ sie nicht zu, starrte unentwegt mit dicken Kuhaugen mitten hinein in das Würmerziehen des Stauers.

»Beßchenkieken!« stöhnte der zwischendurch. »Na nu mechten wä!« Riß, mit dem Wasserstiefel nachhelfend, dem Gaul das Maul auf, zwängte einen Knüppel zwischen die Kiefer, so daß der Eindruck entstand : das vollständige gelbe Pferdegebiß lacht. Und als der Stauer — jetzt sah man erst, daß der oben kahl und eiförmig aussah — mit beiden Händen hineingriff in den Rachen des Gaules und gleich zwei auf einmal herausholte, die mindestens armdick waren und armlang, da riß es auch meiner Mama das Gebiß auseinander: das ganze Frühstück warf sie, klumpiges Eiweiß und Fäden ziehendes Eigelb zwischen Weißbrotklumpen im Milchkaffeeguß über die Molensteine und würgte immer noch, aber es kam nichts mehr; denn soviel hatte sie nicht zum Frühstück gegessen, weil sie Übergewicht hatte und unbedingt abnehmen wollte, deshalb allerlei Diäten versuchte, die sie aber selten durchhielt — heimlich aß sie — und nur vom Dienstagturnen bei der Frauenschaft ließ sie sich nicht abbringen, auch wenn Jan und selbst Matzerath sie auslachten, wenn sie mit dem Turnbeutel zu den komischen Tunten ging, in blauglänzendem Stoff Keulengymnastik trieb und dennoch nicht abnahm.

Auch damals hat Mama höchstens ein halbes Pfund auf die Steine gespuckt, und sie mochte würgen, soviel sie wollte, mehr gelang ihr nicht abzunehmen. Nichts außer grünlichem Schleim kam — und die Möwen kamen. Kamen schon, als sie anfing zu spucken, kreisten tiefer, ließen sich fett und glatt fallen, schlugen sich um das Frühstück meiner Mama, hatten keine Angst vorm Dickwerden, waren durch nichts zu vertreiben — durch wen auch? — wenn Jan Bronski sich vor den Möwen fürchtete und die Hände vor die schönen blauen Augen hielt.

Aber auch auf Oskar hörten sie nicht, der seine Trommel gegen die Möwen einsetzte und mit Knüppeln auf weißem Lack gegen dieses Weiß wirbelte. Doch das half nichts, das machte die Möwen höchstens noch weißer. Matzerath aber kümmerte sich überhaupt nicht um Mama. Der lachte und äffte den Stauer nach, machte auf starke Nerven, und als der Stauer fast fertig war und zum Abschluß dem Gaul einen mächtigen Aal aus dem Ohr zog, mit dem Aal die ganze weiße Grütze aus dem Hirn des Gaules sabbern ließ, da stand zwar gleichfalls dem Matzerath der Käse im Gesicht, aber die Angeberei gab er dennoch nicht auf, kaufte dem Stauer für ein Spottgeld zwei mittlere und zwei starke Aale ab und wollte den Preis noch nachträglich runterhandeln.

Da lobte ich mir Jan Bronski. Der sah aus, als wenn er weinen wollte, half aber trotzdem meiner Mama auf die Beine, legte ihr den einen Arm hinten herum, hielt den anderen vorne und führte sie weg, was komisch aussah, denn Mama stöckelte in ihren Schühchen mit hohen Absätzen von Stein zu Stein in Richtung Strand, knickte bei jedem Schritt und brach sich dennoch nicht die Knöchel.

Oskar blieb bei Matzerath und dem Stauer, weil der Stauer, der seine Mütze wieder aufgesetzt hatte, uns zeigte und erklärte, warum der Kartoffelsack mit grobkörnigem Salz halbgefüllt war. Es war Salz im Sack, damit die Aale sich in dem Salz totliefen, damit ihnen das Salz den Schleim von der Haut und auch von innen herauszog. Denn wenn Aale im Salz sind, hören sie nicht mehr auf zu laufen, die sind dann so lange unterwegs, bis sie tot sind und ihren Schleim im Salz gelassen haben. Das macht man, wenn man die Aale hinterher räuchern will. Das ist zwar von der Polizei und vom Tierschutzverein verboten, aber die Aale müssen trotzdem laufen. Wie sollte man sonst auch den Schleim ohne Salz von den Aalen herunter und von innen heraus bekommen. Hinterher werden die toten Aale mit trockenem Torf fein säuberlich abgerieben und ins Rauchfaß über Buchenholz zum Räuchern aufgehängt.

Matzerath fand das gerecht, daß man Aale im Salz laufen ließ. Die gehen ja auch in den Pferdekopp, sagte er. Und in menschliche Leichen gehen sie auch, sagte der Stauer. Besonders nach der Seeschlacht am Skagerrak sollen die Aale mächtig fett gewesen sein. Und mir erzählte noch vor einigen Tagen ein Arzt der Heil-und Pflegeanstalt von einer verheirateten Frau, die sich mit einem lebendigen Aal befriedigen wollte. Aber der Aal biß sich fest, und sie mußte eingeliefert werden und soll deswegen später keine Kinder bekommen haben.

Der Stauer aber machte den Sack mit den Aalen im Salz zu und warf ihn sich, beweglich wie er war, über die Schulter. Die aufgeschossene Wäscheleine hing er sich um den Hals und stiefelte, während gleichzeitig das Handelsschiff einlief, in Richtung Neufahrwasser davon. Der Dampfer hatte ungefähr tausendachthundert Tonnen und war kein Schwede, sondern ein Finne, hatte auch nicht Erz, sondern Holz geladen. Der Stauer mit dem Sack kannte wohl einige Leute auf dem Finnen, denn er winkte zu dem rostigen Kahn rüber und schrie etwas. Die auf dem Finnen winkten zurück und schrien gleichfalls. Warum aber Matzerath winkte und solch einen Blödsinn wie »Schiff ahoi!« brüllte, blieb mir schleierhaft. Denn der verstand als gebürtiger Rheinländer überhaupt nichts von der Marine, und Finnen kannte er keinen einzigen. Aber das war so seine Angewohnheit, immer zu winken, wenn andere winkten, immer zu schreien, zu lachen und zu klatschen, wenn andere schrien, lachten oder klatschten. Deshalb ist er auch verhältnismäßig früh in die Partei eingetreten, als das noch gar nicht nötig war, nichts einbrachte und nur seine Sonntagvormittage beanspruchte.

Oskar ging langsam hinter Matzerath, dem Mann aus Neufahrwasser und dem überladenen Finnen her.

Ab und zu drehte ich mich um, denn der Stauer hatte den Pferdekopp unter dem Seezeichen liegen lassen. Man sah aber nichts mehr von dem Kopf, denn die Möwen hatten den eingepudert. Ein weißes, ganz leichtes Loch in der flaschengrünen See. Eine frischgewaschene Wolke, die sich jeden Moment fein säuberlich in die Lüfte erheben konnte, laut schreiend einen Pferdekopf verhüllend, der nicht wieherte, sondern schrie.

Als ich genug hatte, lief ich den Möwen und Matzerath davon, schlug beim Springen mit der Faust auf mein Blech, überholte den Stauer, der jetzt eine kurze Pfeife rauchte, und erreichte Jan Bronski und Mama am Anfang der Mole. Jan hielt Mama noch wie vorher, ließ aber eine Hand unter ihrem Mantelaufschlag verschwinden. Das jedoch, auch daß Mama eine Hand in Jans Hosentasche hatte, konnte Matzerath nicht sehen; denn der war noch weit hinter uns und wickelte gerade die vier Aale, die ihm der Stauer mit einem Stein betäubt hatte, in ein Zeitungspapier, das er zwischen den Molensteinen aufgelesen hatte.Als Matzerath uns einholte, ruderte er mit dem Bündel Aale und gab an: »Einsfuffzich wollt der haben. Aber ich gab' ihm ein Gulden und basta.«

Mama sah wieder besser im Gesicht aus, hatte auch wieder beide Hände beieinander und sagte: »Bild dir bloß man nich ein, daß ich von dem Aal eß. Überhaupt kein Fisch eß ich mehr und Aale schon ganz und gar nicht.«

Matzerath lachte: »Hab dich nich so, Mädchen. Hast doch gewußt, daß Aale da ran gehen, und hast trotzdem immer, auch frische gegessen. Das woll'n wir doch mal sehen, wenn meine Wenigkeit die prima zubereitet mit allem Drum und Dran und bißchen Grün.«

Jan Bronski, der die Hand rechtzeitig aus Mamas Mantel gezogen hatte, sagte nichts. Ich trommelte, damit die nicht wieder mit dem Aal anfingen, bis wir in Brösen waren. Auch an der Straßenbahnhaltestelle und im Anhänger hielt ich die drei Erwachsenen vom Sprechen ab. Die Aale gaben sich einigermaßen ruhig. Bei Saspe kein Aufenthalt, weil die Gegenbahn schon da war. Kurz hinter dem Flugplatz begann Matzerath trotz meiner Trommelei über seinen enormen Hunger zu erzählen. Mama reagierte nicht und sah an uns allen vorbei, bis ihr Jan eine von seinen »Regatta« anbot. Als er ihr Feuer gab und sie sich das Goldmundstück zwischen die Lippen paßte, lächelte sie Matzerath an, weil sie wußte, daß der sie nicht gerne in der Öffentlichkeit rauchen sah.

Am Max-Halbe-Platz stiegen wir aus, und Mama nahm trotzdem Matzeraths und nicht Jans Arm, wie ich es erwartet hatte. Jan ging neben mir, hielt mich bei der Hand und rauchte Mamas Zigarette zu Ende.

Im Labesweg klopften die katholischen Hausfrauen noch immer ihre Teppiche. Während Matzerath die Wohnung aufschloß, sah ich Frau Kater, die im vierten Stockwerk neben dem Trompeter Meyn wohnte, auf der Treppe. Sie hielt mit blaurot mächtigen Armen einen zusammengerollten bräunlichen Teppich auf der rechten Schulter. In beiden Achselhöhlen flammten ihr blonde, vom Schweiß verknotete und versalzene Haare. Der Teppich knickte nach vorn und hinten. Sie hätte genau so gut einen betrunkenen Mann auf der Schulter tragen können; aber ihr Mann lebte nicht mehr. Als sie ihr Fett in einem schwarzglänzenden Taftrock vorbeitrug, traf mich ihr Ausdünstung: Salmiak, Gurke, Karbid — sie mußte ihre Tage haben.

Bald darauf hörte ich vom Hof her jenes gleichmäßige Teppichklopfen, das mich durch die Wohnung trieb, das mir nachkam, dem ich endlich im Kleiderschrank unseres Schlafzimmers hockend entging, weil die dort hängenden Wintermäntel den ärgsten Teil jener vorösterlichen Geräusche abfingen.

Doch war es nicht nur die teppichklopfende Frau Kater, die mich in den Kasten fliehen ließ. Mama, Jan und Matzerath hatten ihre Mäntel noch nicht abgelegt, da begann schon der Streit um das Karfreitagessen. Doch blieb es nicht bei den Aalen, auch ich mußte wieder einmal herhalten, mein berühmter Sturz von der Kellertreppe: »Du bist schuld, du hast schuld, ich mach jetzt die Aalsuppe, sei nicht so zimperlich, mach, was du willst, nur keine Aale, sind ja Konserven genug im Keller, hol Pfifferlinge hoch, aber mach die Falltür zu, daß nicht wieder sowas passiert, hör mit den ollen Kamellen auf, Aale gibt es, basta, mit Milch, Senf, Petersilie und Salzkartoffeln und ein Lorbeerblatt kommt dran und ne Nelke, nein, nun laß doch Alfred, wenn sie nicht will, misch du dich da nicht rein, ich kauf doch die Aale nicht umsonst, werden ja sauber ausgenommen und gewässert, nein, nein, das werden wir sehen, wenn die erst mal auf dem Tisch stehen, wolln wir mal sehen, wer ißt und wer nicht ißt.«

Matzerath schlug die Wohnzimmertür zu, verschwand in der Küche, auffallend laut hörten wir ihn hantieren. Der tötete die Aale mit einem Kreuzschnitt hinter dem Kopf, und Mama, die eine allzu lebhafte Phantasie hatte, mußte sich auf die Chaiselongue setzen, was ihr Jan Bronski prompt nachmachte, und schon hatten sie sich bei den Händen und flüsterten auf kaschubisch.

Als die drei Erwachsenen sich so in der Wohnung verteilt hatten, saß ich noch nicht im Schrank, sondern gleichfalls im Wohnzimmer. Es gab ein Kinderstühlchen neben dem Kachelofen. Dort baumelte ich mit den Beinen, ließ mich von Jan fixieren und spürte genau, wie ich den beiden im Wege war, obgleich sie ja doch nicht viel machen konnten, weil Matzerath hinter der Wohnzimmerwand zwar unsichtbar, aber dennoch deutlich mit halbtoten Aalen drohte, die er wie eine Peitsche schwang. So tauschten sie ihre Hände, drückten und zogen an zwanzig Fingern, ließen die Gelenke knacken und gaben mir mit diesen Geräuschen den Rest. War das Teppichklopfen der Katerschen vom Hof her nicht genug? Drang es nicht durch alle Wände, rückte näher, obgleich es an Lautstärke nicht zunahm?

Oskar rutschte von seinem Sttih-lchen, hockte sich, um den Abgang nicht allzu augenfällig zu gestalten, einen Moment neben den Kachelofen, rutschte dann, ganz und gar mit seiner Trommel beschäftigt, über die Türschwelle ins Schlafzimmer.

Um jedes Geräusch zu vermeiden, ließ ich die Schlafzimmertür halb offen und stellte mit Genugtuung fest, daß mich niemand zurückrief. Noch überlegte ich, ob Oskar unters Bett oder in den Kleiderschrank sollte. Ich zog den Schrank vor, weil ich unter dem Bett meinen heiklen marineblauen Matrosenanzug beschmutzt hätte. Den Schrankschlüssel konnte ich gerade erreichen, drehte ihn einmal, zog die Spiegeltüren auseinander und schob mit den Trommelstöcken die an der Stange aufgereihten Kleiderbügel mit den Mänteln und Winterkleidern zur Seite. Um die schweren Stoffe erreichen und bewegen zu können, mußte ich mich auf meine Trommel stellen. Schließlich war die in der Mitte des Schrankes entstandene Lücke zwar nicht groß, aber doch geräumig genug, um einen hineinsteigenden, sich niederhockenden Oskaraufnehmen zu können. Es gelang mir sogar, mit einiger Mühe die Spiegeltüren heranzuziehen und sie mit einem Shawl, den ich im Kastenboden fand, so mit der Anschlagleiste zu verklemmen, daß ein fingerbreiter Spalt notfalls Aussicht und einige Luftzufuhr ermöglichte. Die Trommel legte ich auf die Knie, trommelte aber nicht, auch nicht ganz leise, sondern ließ mich willenlos von den Ausdünstungen der Wintermäntel einfangen und durchdringen.

Wie gut, daß es den Schrank gab und schwere kaum atmende Stoffe, die mir erlaubten, fast alle Gedanken zusammenzunehmen, zu bündeln und an ein Wunschbild zu verschenken, das reich genug war, dieses Geschenk mit gemessener, kaum merklicher Freude anzunehmen.

Wie immer, wenn ich mich konzentrierte und meinem Vermögen gerecht lebte, versetzte ich mich in die Praxis des Dr. Hollatz im Brunshöferweg und genoß jenen Teil der allwöchentlichen Mittwochbesuche, auf den es mir ankam. So war es weniger der mich immer umständlicher untersuchende Arzt, um den ich die Gedanken kreisen ließ, als vielmehr die Schwester Inge, seine Assistentin. Sie durfte mich ausziehen und anziehen, sie alleine durfte mich messen, wiegen, testen; kurz, alle die Experimente, die Dr. Hollatz mit mir unternahm, führte Schwester Inge korrekt, doch auch etwas mürrisch aus und meldete jeweils und nicht ohne Spott Mißerfolge, die Hollatz Teilerfolge nannte. Selten sah ich Schwester Inge ins Gesicht. Am sauberen gestärkten Weiß ihrer Schwesterntracht, am schwerelosen Gebilde, das sie als Haube trug, an einer schlichten, mit rotem Kreuz verzierten Brosche ruhten sich mein Blick und mein von Zeit zu Zeit gehetztes Trommlerherz aus. Wie gut war es, den immer neuen Faltenwürfen ihrer Berufskleidung aufzupassen. Hatte sie einen Körper unter dem Stoff? Ihr immer älter werdendes Gesicht und die trotz aller Pflege grobknochigen Hände ließen ahnen, daß Schwester Inge dennoch eine Frau war. Gerüche allerdings, die eine ähnlich körperliche Beschaffenheit bewiesen hätten, wie sie meine Mama aufwies, wenn Jan oder auch Matzerath sie vor meinen Augen aufdeckten, diesen Dunst züchtete Schwester Inge nicht. Nach Seife roch sie und müdemachenden Medikamenten. Wie oft kam es vor, daß mich Schlaf überwältigte, während sie meinen kleinen und, wie man meinte, kranken Körper abhorchte: leichter, aus dem Faltenwurf weißer Stoffe geborener Schlaf, karbolverhüllter Schlaf, Schlaf ohne Traum; es sei denn, daß sich entfernt ihre Brosche vergrößerte zum, was weiß ich: Fahnenmeer, Alpenglühn, Klatschmohnfeld, bereit zur Revolte, gegen wen, was weiß ich: gegen Indianer, Kirschen, Nasenbluten, gegen die Kämme der Hähne, rote Blutkörperchen in Sammlung begriffen, bis ein die ganze Sicht bewohnendes Rot einer Leidenschaft Hintergrund bot, die mir damals wie heute zwar selbstverständlich, aber dennoch nicht zu benennen ist, weil mit dem Wörtchen rot nichts gesagt ist, und Nasenbluten tut's nicht und Fahnenstoff verfärbt sich, und wenn ich trotzdem nur rot sage, will rot mich nicht, läßt seinen Mantel wenden: schwarz, die Köchin kommt, schwarz, schreckt mich gelb, trügt mich blau, blau glaub ich nicht, lügt mir nicht, grünt mir nicht: grün ist der Sarg, in dem ich grase, grün deckt mich, grün bin ich mir weiß: das tauft mich schwarz, schwarz schreckt mich gelb, gelb trügt mich blau, blau glaub ich nicht grün, grün blüht mir rot, rot war die Brosche der Schwester Inge, ein rotes Kreuz trug sie, genau gesagt, am Waschkragen ihrer Krankenschwesterntracht; aber es blieb selten und so auch im Kleiderschrank nicht bei dieser einfarbigsten aller Vorstellungen.

Buntester Lärm schlug, aus dem Wohnzimmer drängend, gegen meine Schranktüren, weckte mich aus gerade beginnendem, der Schwester Inge gewidmetem Halbschlaf. Nüchtern und mit dicker Zunge saß ich, die Trommel auf den Knien haltend, zwischen verschieden gemusterten Wintermänteln, roch Matzeraths Parteiuniform, hatte Koppel, Schulterriemen mit Karabinerhaken ledern neben mir, fand nichts mehr von dem weißen Faltenwurf der Krankenschwesterntracht: Wolle fiel, Kammgarn hing, Cord knüllte Flanell, und über mir die Hutmode der letzten vier Jahre, zu meinen Füßen Schuhe, Schühchen, gewichste Stiefelgamaschen, Absätze, beschlagen und unbeschlagen, ein Lichtstreif von draußen hereinfallend, der alles andeutete; Oskar bedauerte, zwischen den Spiegeltüren einen Spalt offen gelassen zu haben.

Was konnten die im Wohnzimmer mir schon bieten? Vielleicht hatte Matzerath die beiden auf dem Sofa überrascht, was kaum möglich war, denn Jan bewahrte sich immer, nicht nur beim Skatspiel, einen Rest Vorsicht. Wahrscheinlich, und so war es dann auch, hatte Matzerath die getöteten, ausgenommenen, gewässerten, gekochten, gewürzten und abgeschmeckten Aale als Aalsuppe mit Salzkartoffeln in der großen Suppenterrine fertig zum Servieren auf den Wohnzimmertisch gestellt und hatte es gewagt, weil niemand Platz nehmen wollte, sein Gericht, alle Zutaten aufzählend, ein Rezept herunterbetend, anzupreisen. Mama schrie. Sie schrie kaschubisch. Das konnte Matzerath weder verstehen noch leiden und mußte es sich dennoch anhören, verstand wohl auch, was sie meinte; es konnte ja nur von den Aalen die Rede sein, und wie immer, wenn Mama schrie, von meinem Sturz von der Kellertreppe. Matzerath gab Antwort. Die kannten ja ihre Rollen. Jan machte Einwürfe. Ohne ihn gab es kein Theater. Schließlich der zweite Akt: der Klavierdeckel knallte, ohne Noten, auswendig, die Füße auf beiden Pedalen, nach-, vor-und ineinanderhallend der Jägerchor aus dem Freischütz: was gleicht wohl auf Erden. Und mitten hinein ins Halali der knallende Klavierdeckel, weg von den Pedalen, der umstürzende Klavierschemel, Mama im Kommen, schon im Schlafzimmer, noch ein Blick in die Spiegeltüren des Schrankes, und sie warf sich, ich sah es durch den Spalt, quer übers Ehebett unter dem blauen Betthimmel, weinte und rang ähnlich vielfingrig die Hände, wie esdie büßende, goldgerahmte Farbdruckmagdalena am Kopfende der Eheburg tat.

Längere Zeit hörte ich nur Mamas Wimmern, leichtes Bettknarren, gedämpftes Gemurmel aus dem Wohnzimmer. Jan beruhigte Matzerath. Matzerath bat Jan, Mama zu beruhigen. Das Gemurmel magerte ab, Jan betrat das Schlafzimmer. Dritter Akt: Er stand vor dem Bett, betrachtete abwechselnd Mama und die büßende Magdalena, setzte sich vorsichtig auf die Bettkante, streichelte der auf dem Bauch liegenden Mama Rücken und Gesäß, sprach beschwichtigend kaschubisch auf sie ein und fuhr ihr schließlich — weil Worte nicht mehr halfen — mit der Hand unter den Rock, bis sie aufhörte zu wimmern und Jan den Blick von der vielfingrigen Magdalena wegnehmen konnte. Man muß das gesehen haben, wie Jan nach getaner Arbeit aufstand, sich die Finger mit dem Taschentuch betupfte, dann Mama laut und nicht mehr kaschubisch, damit es Matzerath im Wohnzimmer oder in der Küche verstehen konnte, Wort für Wort betonend ansprach: »Nu komm Agnes, wir wolln das jetzt endlich vergessen. Alfred hat die Aale schon längst rausgebracht und ins Klo geschüttet. Wir dreschen jetzt einen anständigen Skat, von mir aus auch Viertelpfennigskat, und wenn wir dann alles hinter uns haben und wieder gut sind, macht Alfred uns Pilze mit Rührei und Bratkartoffeln.«

Mama sagte nichts darauf, drehte sich vom Bett, strich die gelbe Steppdecke wieder gerade, schüttelte sich ihre Frisur vor den Spiegeltüren des Schrankes zurecht und verließ hinter Jan das Schlafzimmer.

Ich nahm mein Auge von dem Sehschlitz und hörte bald darauf, wie sie die Karten mischten. Kleines vorsichtiges Gelächter, Matzerath hob ab, Jan verteilte, und da reizten sie ihre Karten aus. Ich glaube, Jan reizte Matzerath. Der paßte schon bei dreiundzwanzig. Woraufhin Mama Jan bis sechsunddreißig reizte, dann mußte auch er klein beigeben, und Mama spielte einen Grand, den sie knapp verlor. Den folgenden Karo einfach gewann Jan bombensicher, während Mama das dritte Spiel, einen Herzhand ohne Zwein knapp, aber dennoch nach Hause brachte.

Gewiß, daß dieser Familienskat, durch Rührei, Pilze und Bratkartoffeln kurz unterbrochen, bis in die Nacht hineinreichen würde, hörte ich den folgenden Spielen kaum noch zu, versuchte vielmehr, wieder zur Schwester Inge und ihren weißen, schlaffördernden Berufskleidern zurückzufinden. Es sollte mir aber der Aufenthalt in der Praxis des Dr. Hollatz getrübt bleiben. Nicht nur, daß grün, blau, gelb und schwarz immer wieder in den roten Text der Rotkreuzbrosche sprachen, auch die Ereignisse des Vormittags drängten sich dazwischen: immer wenn sich die Tür zum Sprechzimmer und zur Schwester Inge öffnete, bot sich nicht der reine und leichte Anblick der Krankenpflegerinnentracht, sondern es zog der Stauer auf der Hafenmole von Neufahrwasser unter dem Seezeichen Aale aus triefend wimmelndem Pferdekopf, und was sich als Weiß ausgab, was ich der Schwester Inge zuordnen wollte, das waren Möwenflügel, die für den Augenblick täuschend das Aas und die Aale im Aas verdeckten, bis wieder die Wunde aufbrach, doch nicht blutete und Rot spendete, sondern schwarz war der Rappe, flaschengrün die See, ein bißchen Rost brachte der Finne, der Holz geladen hatte, ins Bild und die Möwen — man soll mir nicht mehr von Tauben sprechen — die bewölkten das Opfer und tauchten die Flügelspitzen ein und warfen den Aal meiner Schwester Inge zu, die fing ihn auch, feierte ihn und wurde zur Möwe, nahm Gestalt an, nicht Taube, wenn schon Heiliger Geist, dann in jener Gestalt, die da Möwe heißt, sich als Wolke aufs Fleisch senkt und Pfingsten feiert.

Die Mühe aufgebend, gab ich damals den Schrank auf, stieß die Spiegeltüren unwillig auseinander, stieg aus dem Kasten, fand mich unverändert vor den Spiegeln, war aber immerhin froh, daß Frau Kater keine Teppiche mehr klopfte. Zwar war der Karfreitag für Oskar zu Ende, aber die Passionszeit sollte erst nach Ostern beginnen.

DIE VERJÜNGUNG ZUM FUSSENDE

Doch auch für Mama sollte erst nach diesem Karfreitag des aalwimmelnden Pferdekopfes, nach dem Osterfest erst, das wir mit den Bronskis im ländlichen Bissau bei der Großmutter und dem Onkel Vinzent verbrachten, eine Leidenszeit beginnen, die selbst durch gutgelauntes Maiwetter nicht zu beeinflussen war.

Es stimmt nicht, daß Matzerath Mama zwang, wieder Fisch zu essen. Aus freien Stücken und von rätselhaftem Willen besessen, begann sie knapp zwei Wochen nach Ostern, Fisch in solchen Mengen und ohne Rücksicht auf ihre Figur zu verschlingen, daß Matzerath sagte: »Nu iß nicht soviel von dem Fisch, als wenn man dich zwingen würd'.«

Aber sie begann mit Ölsardinen zum Frühstück, fiel zwei Stunden später, wenn nicht gerade Kundschaft im Geschäft war, über das Sperrholzkistchen mit den Bohnsacker Sprotten her, verlangte zum Mittagessen gebratene Flundern oder Pomuchel in Senfsoße, hatte am Nachmittag schon wieder den Büchsenöffner in der Hand: Aal in Gelee, Rollmöpse, Bratheringe, und wenn Matzerath sich weigerte, zum Abendbrot wieder Fisch zu braten oder zu kochen, dann verlor sie kein Wort, schimpfte nicht, stand ruhig vom Tisch auf und kam mit einem Stück geräuchertem Aal aus dem Laden zurück, daß uns der Appetit verging, weil sie mit dem Messer der Aalhaut innen und außen das letzte Fett abschabte und überhaupt nur noch Fisch mit dem Messer aß. Tagsüber mußte sie sich mehrmals übergeben. Matzerath war hilflos besorgt, fragte: »Biste v'leicht schwanger oder was is?«

»Quatsch nich son Zeug«, sagte dann Mama, wenn sie überhaupt etwas sagte, und als die Großmutter Koljaiczek eines Sonntags, als Aal Grün mit frischen Kartoffeln in Maibutter schwimmend auf den Mittagstisch kamen, mit flacher Hand zwischen die Teller schlug, »Nu, Agnes«, sagte, »nu sag mal, was is? Was ißte Fisch, wenn dir nich bekommt und sagst nich warum und tust wie Deikert!« schüttelte Mama nur den Kopf, schob die Kartoffeln zur Seite, führte den Aal durch die Maibutter und aß unentwegt, als hätte sie eine Fleißaufgabe zu erfüllen. Jan Bronski sagte nichts. Als ich die beiden einmal auf der Chaiselongue überraschte, hielten sie sich zwar wie sonst an den Händen und hatten verrutschte Kleider, doch fielen mir Jans verweinte Augen und Mamas Apathie auf, die jedoch plötzlich ins Gegenteil umschlug. Sie sprang auf, griff, hob, drückte mich, zeigte mir einen Abgrund, der wohl durch nichts, auch durch Unmengen gebratener, gesottener, eingelegter und geräucherter Fische nicht auszufüllen war.

Wenige Tage später sah ich, wie sie in der Küche nicht nur über die gewohnten, verdammten Ölsardinen herfiel, sie goß auch das Öl aus mehreren älteren Dosen, die sie aufbewahrt hatte, in eine kleine Soßenpfanne, erhitzte die Brühe über der Gasflamme und trank davon, während mir, der ich in der Küchentür stand, die Hände von der Trommel fielen.

Noch am selben Abend mußte Mama in die städtischen Krankenanstalten eingeliefert werden.

Matzerath weinte und jammerte, bevor der Krankenwagen kam: »Warum willste das Kind denn nich?

Is ja gleich, von wem es is. Oder isses noch immer wegen dem blöden Pferdekopf? Warn wir da bloß nich hingegangen! Nu vergiß das doch, Agnes. War ja nich Absicht von mir.«

Der Krankenwagen kam, Mama wurde hinausgetragen. Kinder und Erwachsene sammelten sich auf der Straße, man fuhr sie fort, und es sollte sich herausstellen, daß Mama weder die Mole noch den Pferdekopf vergessen hatte, daß sie die Erinnerung an den Gaul — ob der nun Fritz oder Hans geheißen hatte — mit sich nahm. Ihre Organe erinnerten sich schmerzhaft überdeutlich an den Karfreitagsspaziergang und ließen, aus Angst vor einer Wiederholung des Spazierganges, meine Mama, die mit ihren Organen einer Meinung war, sterben.

Dr. Hollatz sprach von Gelbsucht und Fischvergiftung. Im Krankenhaus stellte man fest, daß Mama sich im dritten Schwangerschaftsmonat befand, gab ihr ein Einzelzimmer, und sie zeigte uns, die wir sie besuchen durften, vier Tage lang ihr angeekeltes, im Ekel mich manchmal anlächelndes, von Krämpfen verwüstetes Gesicht.

Wenn sie sich auch Mühe gab, ihren Besuchern kleine Freuden zu bereiten, wie auch ich mir heutzutage Mühe gebe, meinen Freunden an den Besuchstagen beglückt zu erscheinen, konnte sie dennoch nicht verhindern, daß ein periodisch auftretender Brechreiz ihren langsam nachgebenden Körper immer wieder umstülpte, obgleich dem nichts mehr entfallen wollte, als schließlich am vierten Tage jenes mühevollen Sterbens jenes bißchen Atem, das jeder endlich ausstoßen muß, um den Totenschein zu bekommen.

Wir atmeten alle auf, als sich in meiner Mama keine Anlässe mehr für die ihre Schönheit so entstellenden Brechreize fanden. Sobald sie gewaschen im Leichenhemd lag, zeigte sie uns auch wieder ihr vertrautes rundes, schlau naives Gesicht. Die Oberschwester drückte Mama die Augen zu, weil Matzerath und Jan Bronski weinten und blind waren.

Ich konnte nicht weinen, da all die anderen, die Männer und die Großmutter, Hedwig Bronski und der bald vierzehnjährige Stephan weinten. Auch überraschte mich der Tod meiner Mama kaum. War es Oskar, der sie am Donnerstag in die Altstadt und am Sonnabend in die Herz-Jesu-Kirche begleitete, nicht vorgekommen, als suche sie schon seit Jahren angestrengt nach einer Möglichkeit, das Dreieckverhältnis dergestalt aufzulösen, daß Matzerath, den sie womöglich haßte, die Schuld an ihrem Tod erbte, daß Jan Bronski, ihr Jan, seinen Dienst bei der polnischen Post mit Gedanken fortsetzen konnte, wie: Sie ist für mich gestorben, sie wollte mir nicht im Wege stehn, sie hat sich geopfert.

Bei aller Berechnung, der beide, Mama und Jan, fähig waren, wenn es galt, ihrer Liebe ein ungestörtes Bett zu beschaffen, zeigten sie gleichviel Begabung zur Romanze: man kann, wenn man will, in ihnen Romeo und Julia oder jene zwei Königskinder sehen, die angeblich nicht zusammenkamen, weil das Wasser zu tief war.

Während Mama, die die Sterbesakramente rechtzeitig mitbekommen hatte, kalt und durch nichts mehr zu bewegen unter den Gebeten des Priesters lag, fand ich Zeit und Muße, die Krankenschwestern, die zumeist protestantischer Konfession waren, zu beobachten. Sie falteten die Hände anders als die Katholiken, ich möchte sagen, selbstbewußter, sprachen das Vaterunser mit vom katholischen Originaltext abweichenden Worten und bekreuzigten sich nicht, wie es etwa die Großmutter Koljaiczek, die Bronskis und auch ich taten. Mein Vater Matzerath — ich nenne ihn gelegentlich so, auch wenn er mich nur mutmaßlich zeugte — er, der Protestant, unterschied sich beim Gebet von den anderen Protestanten, weil er die Hände nicht vor der Brust verankerte, sondern die Finger verkrampft unten, etwa in Höhe der Geschlechtsteile von einer Religion in die andere wechseln ließ und sich offensichtlich seiner Beterei schämte. Meine Großmutter kniete neben ihrem Bruder Vinzent vor dem Totenbett, betete laut und hemmungslos auf kaschubisch, während Vinzent nur die Lippen, wahrscheinlich auf polnisch bewegte, dafür die Augen aber voller geistigem Geschehen weitete. Ich hätte gerne getrommelt. Schließlich verdankte ich meiner armen Mama die vielen weißroten Bleche.

Sie hatte mir, als Gegengewicht zu Matzeraths Wünschen, das mütterliche Versprechen einer Blechtrommel in die Wiege gelegt, auch hatte mir Mamas Schönheit dann und wann, besonders als sie noch schlanker war und nicht turnen mußte, als Trommelvorlage dienen können. Schließlich konnte ich mich nicht mehr beherrschen, ließ im Sterbezimmer meiner Mama noch einmal das Idealbild ihrer grauäugigen Schönheit auf dem Blech zur Gestalt werden und wunderte mich, daß Matzerath es war, der den sofortigen Protest der Oberschwester dämpfte und »Lassen Sie ihn doch, Schwester, die hingen so aneinander« flüsternd, meine Partei ergriff.

Mama konnte sehr lustig sein. Mama konnte sehr ängstlich sein. Mama konnte schnell vergessen.

Mama hatte dennoch ein gutes Gedächtnis. Mama schüttete mich aus und saß dennoch mit mir in einem Bade. Mama ging mir manchmal verloren, aber ihr Finder ging mit ihr. Wenn ich Scheiben zersang, handelte Mama mit Kitt. Sie setzte sich manchmal ins Unrecht, obgleich es ringsherum Stühle genug gab. Auch wenn Mama sich zuknöpfte, blieb sie mir aufschlußreich. Mama fürchtete die Zugluft und machte dennoch ständig Wind. Sie lebte auf Spesen und zahlte ungerne Steuern. Ich war die Kehrseite ihres Deckblattes. Wenn Mama Herz Hand spielte, gewann sie immer. Als Mama starb, verblaßten die roten Flammen auf der Einfassung meiner Trommel etwas; der weiße Lack jedoch wurde weißer und so grell, daß selbst Oskar manchmal geblendet sein Auge schließen mußte.

Nicht auf dem Friedhof Saspe, wie sie es sich manchmal gewünscht hatte, sondern auf dem kleinen ruhigen Friedhof Brenntau wurde meine arme Mama beerdigt. Dort lag auch ihr im Jahr siebzehn an der Grippe gestorbener Stiefvater, der Pulvermüller Gregor Koljaiczek. Die Trauergemeinde war, wie es sich beim Begräbnis einer beliebten Kolonialwarenhändlerin versteht, groß, zeigte nicht nur die Gesichter der Stammkundschaft, sondern auch Handelsvertreter verschiedener Firmen, selbst Leute von der Konkurrenz wie den Kolonialwarenhändler Weinreich und Frau Probst aus dem Lebensmittelgeschäft in der Hertastraße. Die Kapelle des Friedhofes Brenntau konnte die Menge nicht ganz fassen. Es roch nach Blumen und schwarzen, eingemotteten Kleidern. Im offenen Sarg zeigte meine arme Mama ein gelbes, mitgenommenes Gesicht. Ich konnte während der umständlichen Zeremonien das Gefühl nicht loswerden: gleich wird es ihr den Kopf hochreißen, sie wird sich noch einmal übergeben müssen, sie hat noch etwas im Leib, das herauswill: nicht nur den drei Monate alten Embryo, der gleich mir nicht weiß, welchem Vater er Dank schuldet, nicht nur er will hinaus und gleich Oskar nach einer Trommel verlangen, da gibt es noch Fisch, gewiß keine Ölsardinen, ich will nicht von Flundern reden, ein Stückchen Aal meine ich, einige weiß-grünliche Fasern Aalfleisch, Aal von der Seeschlacht im Skagerrak, Aal von der Hafenmole Neufahrwasser, Karfreitagsaal, Aal aus dem Haupte des Rosses entsprungen, womöglich Aal aus ihrem Vater Joseph Koljaiczek, der unters Floß geriet und den Aalen anheimfiel, Aal von deinem Aal, denn Aal wird zu Aal. . .

Aber es kam kein Brechreiz auf. Sie behielt bei sich, nahm mit sich, hatte vor, den Aal unter die Erde zu bringen, damit endlich Ruhe Als Männer den Sargdeckel hoben und das gleichviel entschlossene wie angewiderte Gesicht meiner armen Mama zudecken wollten, fiel Anna Koljaiczek den Männern in die Arme, warf sich dann, die Blumen vor dem Sarg zertretend, über ihre Tochter und weinte, riß an der weißen, kostbaren Leichenausstattung und schrie laut auf kaschubisch.

Viele sagten später, sie habe meinen mutmaßlichen Vater Matzerath verflucht und den Mörder ihrer Tochter genannt. Auch soll von meinem Sturz von der Kellertreppe die Rede gewesen sein. Sie übernahm die Fabel von Mama und erlaubte Matzerath nicht, seine angebliche Schuld an meinem angeblichen Unglück zu vergessen. Sie hat ihn immer wieder angeklagt, obgleich Matzerath sie, aller Politik zum Trotz, fast widerwillig verehrte und während der Kriegsjahre mit Zucker und Kunsthonig, mit Kaffee und Petroleum versorgte.

Der Gemüsehändler Greff und Jan Bronski, der hoch und weibisch weinte, führten meine Großmutter vorn Sarg fort. Die Männer konnten den Deckel schließen und endlich jene Gesichter machen, die Leichenträger immer dann machen, wenn sie sich unter den Sarg stellen.

Auf dem halb ländlichen Friedhof Brenntau mit seinen zwei Feldern beiderseits der Ulmenallee, mit seinem Kapellchen, das aussah wie eine Klebearbeit für Krippenspiele, mit seinem Ziehbrunnen, mit quicklebendiger Vogelwelt, auf der sauber geharkten Friedhofsallee, gleich hinter Matzerath die Prozession anführend, gefiel mir zum erstenmal die Form des Sarges. Ich habe später noch oft Gelegenheit gehabt, meinem Blick über schwarzes, bräunliches, für letzte Zwecke verwendetes Holz gleiten zu lassen. Der Sarg meiner armen Mama war schwarz. Er verjüngte sich auf wunderbar harmonische Weise zum Fußende hin. Gibt es auf dieser Welt eine Form, die den Proportionen des Menschen auf ähnlich gelungene Art entspricht?

Hätten die Betten doch diesen Schwund zum Fußende hin! Möchten sich doch all unsere gewohnten und gelegentlichen Liegen so eindeutig zum Fußende hin verjüngen. Denn, mögen wir uns noch so spreizen, endlich ist es doch nur diese schmale Basis, die unseren Füßen zukommt, die sich vom breiten Aufwand, den Kopf, Schultern und Rumpf beanspruchen, zum Fußende hin verjüngt.

Matzerath ging direkt hinter dem Sarg. Er trug den Zylinder in der Hand und gab sich beim langsamen Schreiten Mühe, trotz des großen Schmerzes die Knie zu strecken. Immer wenn ich seinen Nacken sah, tat er mir leid: sein ausladender Hinterkopf und die beiden Angströhren, die ihm aus dem Kragen gegen den Haaransatz wuchsen.

Warum nahm mich Mutter Truczinski bei der Hand und nicht Gretchen Scheffler oder Hedwig Bronski? Sie wohnte in der zweiten Etage unseres Mietshauses, hatte wohl keinen Vornamen, hieß überall Mutter Truczinski.Vor dem Sarg Hochwürden Wiehnke mit Meßdiener und Weihrauch. Mein Blick glitt von Matzeraths Nacken zu den kreuz und quer gefurchten Nacken der Leichenträger. Einen wilden Wunsch galt es zu bekämpfen: auf den Sarg wollte Oskar hinauf. Obendraufsitzen wollte er und trommeln. Nicht aufs Blech, auf den Sargdeckel wollte Oskar mit seinen Stöcken. Während sie ihn schwankend trugen, wollte er ihn reiten. Während die hinter ihm Hochwürden nachbeteten, wollte Oskar ihnen vortrommeln. Während sie ihn über dem Loch auf Brettern und Seilen absetzten, wollte Oskar auf dem Holz Haltung bewahren. Während Predigt, Meßglöckchen, Weihrauch und Weihwasser wollte er sein Latein aufs Holz klopfen und ausharren, während sie ihn mit dem Kasten an den Seilen herabließen. Mit Mama und dem Embryo wollte Oskar in die Grube. Unten bleiben, während die Hinterbliebenen ihre Hand voller Erde hinabwarfen, nicht hochkommen wollte Oskar, auf dem verjüngten Fußende wollte er sitzen, trommeln, wenn möglich, unter der Erde trommeln, bis ihm die Knüppel aus den Händen, das Holz unter den Knüppel, bis ihm seine Mama, bis er ihr, bis jeder dem anderen zuliebe faulte, das Fleisch an die Erde und ihre Bewohner abgab; auch mit den Knöchelchen hätte Oskar noch gerne den zarten Knorpeln des Embryos vorgetrommelt, wenn es nur möglich und erlaubt gewesen wäre.

Niemand saß auf dem Sarg. Ledig schwankte er unter den Ulmen und Trauerweiden des Brenntauer Friedhofes. Die bunten Hühner des Küsters zwischen den Gräbern, nach Würmern pickend, nicht säend und dennoch erntend. Dann zwischen Birken. Ich hinter Matzerath an Mutter Truczinskis Hand, gleich hinter mir meine Großmutter — Greff und Jan führten sie —, Vinzent Bronski an Hedwigs Arm, Klein-Marga und Stephan Hand in Hand vor den Schefflers. Der Uhrmacher Laubschad, der alte Herr Heilandt, Meyn, der Trompeter, doch ohne sein Blech und auch einigermaßen nüchtern.

Erst als alles vorbei war und die Leute mit dem Beileid anfingen, bemerkte ich Sigismund Markus.

Schwarz und verlegen schloß er sich all denen an, die Matzerath, mir, meiner Großmutter und den Bronskis die Hand geben, etwas murmeln wollten. Zuerst begriff ich nicht, was Alexander Scheffler vom Markus verlangte. Die kannten sich kaum, wenn sie sich überhaupt kannten. Schließlich sprach auch der Musiker Meyn auf den Spielzeughändler ein. Sie standen hinter einer halbhohen Hecke aus jenem grünen Zeug, das abfärbt und bitter schmeckt, wenn man es zwischen den Fingern reibt. Frau Kater mit ihrer hinter dem Taschentuch feixenden, etwas zu schnell gewachsenen Tochter Susi brachten gerade beim Matzerath ihr Beileid an, ließen es sich nicht nehmen, mir den Kopf zu streicheln. Hinter der Hecke wurde es laut, blieb aber unverständlich. Der Trompeter Meyn tippte dem Markus mit dem Zeigefinger gegen den schwarzen Anzug, schob ihn so vor sich her, nahm den Sigismund links am Arm, während Scheffler sich rechts einhängte. Und beide gaben acht, daß der Markus, der rückwärts ging, nicht über Gräbereinfassungen stolperte, schoben ihn auf die Hauptallee und zeigten dem Sigismund, wo das Friedhofstor war. Der schien sich für die Auskunft zu bedanken und ging Richtung Ausgang, setzte sich auch den Zylinder auf und blickte sich nicht mehr um, obgleich Meyn und der Bäckermeister ihm nachblickten.

Weder Matzerath noch Mutter Truczinski bemerkten, daß ich mich ihnen und dem Beileid entzog. So tuend, als müsse er mal, verdrückte Oskar sich rückwärts am Totengräber und seinem Gehilfen vorbei, lief dann, nahm keine Rücksicht aufs Efeu und erreichte die Ulmen wie auch den Sigismund Markus noch vor dem Ausgang.

»Das Oskarchen!« wunderte sich der Markus, »nu sag, was machen se middem Markus? Was hadder getan, dasse so tun?«

Ich wußte nicht, was Markus getan hatte, nahm ihn bei seiner schweißnassen Hand, führte ihn durchs schmiedeeisern offenstehende Friedhofstor und wir beide, der Hüter meiner Trommeln und ich, der Trommler, womöglich sein Trommler, wir trafen auf Schugger Leo, der gleich uns ans Paradies glaubte.

Markus kannte den Leo, denn Leo war eine stadtbekannte Person. Ich hatte von Schugger Leo gehört, wußte, daß sich dem Leo", da er noch auf dem Priesterseminar war, eines sonnigen Tages die Welt, die Sakramente, die Konfessionen, Himmel und Hölle, Leben und Tod so vollkommen verrückt hatten, daß Leos Weltbild fortan zwar verrückt, aber dennoch vollendet glänzte.

Schugger Leos Beruf war, nach allen Begräbnissen — und er wußte um jede Abdankung — in schwarzblankem, schlotterndem Zeug, mit weißen Handschuhen die Trauergemeinde zu erwarten.

Markus und auch ich begriffen, daß er nun hier, vorm Schmiedeeisen des Brenntauer Friedhofes von Berufs wegen stand und mit beileidbeflissenem Handschuh, verdrehten wasserhellen Augen und immer sabberndem Mund dem Trauergefolge entgegensabberte.

Mitte Mai: ein heiterer, sonniger Tag. Hecken und Bäume mit Vögeln besetzt. Gackernde Hühner, die durch ihre und mit ihren Eiern Unsterblichkeit versinnbildlichten. Gesumm in der Luft.

Frischaufgetragenes Grün ohne Staub. Schugger Leo trug seinen welken Zylinder in der linken behandschuhten Hand, kam leicht, tänzerisch, weil wirklich begnadet, mit fünf vorgestreckten, schimmelnden Handschuhfingern Markus und mir entgegen, stand dann schief und wie im Wind, obgleich kein Lüftchen ging, uns gegenüber, legte den Kopf schräg und lallte, Fäden ziehend, als Markus ihm zuerst zögernd, dann fest seine nackte Hand in den zugreifenden Stoff legte: »Welch ein schöner Tag. Nun ist sie schon dort, wo alles so billig ist. Habt ihr den Herrn gesehen? Habemus ad Dominum. Er ging vorbei und hatte es eilig. Amen.«

Wir sagten Amen und Markus bestätigte Leo den schönen Tag, gab auch vor, den Herrn gesehen zu haben.Hinter uns hörten wir vom Friedhof die näher heransummende Trauergesellschaft. Markus ließ seine Hand aus Leos Handschuh fallen, fand noch Zeit für ein Trinkgeld, gab mir einen Markusblick und ging eilig, schon gehetzt auf das Taxi zu, das vor der Brenntauer Post auf ihn wartete.

Noch sah ich der Staubwolke nach, die den schwindenden Markus verhüllte, da hatte mich Mutter Truczinski schon wieder bei der Hand. Sie kamen in Gruppen und Grüppchen. Schugger Leo sagte allen sein Beileid, machte die Trauergemeinde auf den schönen Tag aufmerksam, fragte jeden, ob er den Herrn gesehen, und erhielt, wie üblich, kleinere, größere oder keine Trinkgelder. Matzerath und Jan Bronski bezahlten die Träger, den Totengräber, den Küster und Hochwürden Wiehnke, der sich von Schugger Leo verlegen seufzend die Hand küssen ließ und mit geküßter Hand der sich langsam zerstreuenden Trauergemeinde segnende Gesten nachschickte.

Wir aber, meine Großmutter, ihr Bruder Vinzent, die Bronskis mit Kindern, Greff ohne Frau und Gretchen Scheffler nahmen Platz in zwei einfach bespannten Kastenwagen. Man fuhr uns an Goldkrug vorbei durch den Wald, über die nahe polnische Grenze nach Bissau-Abbau zum Leichenschmaus.

In einer Kuhle lag Vinzent Bronskis Hof. Pappeln standen davor und sollten die Blitze ablenken. Sie hoben das Scheunentor aus den Angeln, legten es auf Holzböcke, breiteten Tischtücher drüber. Es kamen noch Leute aus der Nachbarschaft. Das Essen brauchte seine Zeit. Wir tafelten in der Scheuneneinfahrt. Gretchen Scheffler hielt mich auf dem Schoß. Fett war das Essen, dann süß, wieder fett, Kartoffelschnaps, Bier, eine Gans und ein Ferkel, Kuchen mit Wurst, Kürbis in Essig und Zucker, Rote Grütze mit saurer Sahne, gegen Abend etwas Wind durch die offene Scheune, Mäuse raschelten, auch die Bronskikinder, die mit den Gören der Nachbarschaft den Hof eroberten.

Mit den Petroleumlampen kamen die Skatkarten auf den Tisch. Der Kartoffelschnaps blieb. Auch gab es Eierlikör, selbstgemacht. Der machte lustig. Und Greff, der nicht trank, sang Lieder. Auch die Kaschuben sangen, und Matzerath gab als erster die Karten aus. Jan war der zweite Mann und der Vorarbeiter von der Ziegelei der dritte. Jetzt erst fiel mir auf, daß meine arme Mama fehlte. Bis in die Nacht hinein wurde gespielt, doch keinem der Männer gelang es, einen Herz Hand zu gewinnen. Als Jan Bronski einen Herz Hand ohne Viern ganz unbegreiflicherweise verlor, hörte ich ihn halblaut zu Matzerath sagen: »Agnes hätte das Spiel sicher gewonnen.«

Da glitt ich von Gretchen Schefflers Schoß, fand draußen meine Großmutter und ihren Bruder Vinzent. Sie saßen auf einer Wagendeichsel. Vinzent sprach halblaut die Sterne auf polnisch an.

Meine Großmutter konnte nicht mehr weinen, ließ mich aber unter ihre Röcke.

Wer nimmt mich heut' unter die Röcke? Wer stellt mir das Tageslicht und das Lampenlicht ab? Wer gibt mir den Geruch jener gelblich zerfließenden, leicht ranzigen Butter, die meine Großmutter mir zur Kost, unter den Röcken stapelte, beherbergte, ablagerte und mir einst zuteilte, damit sie mir anschlug, damit ich Geschmack fand.

Ich schlief ein unter den vier Röcken, war den Anfängen meiner armen Mama ganz nahe und hatte es ähnlich still, wenn auch nicht so atemlos wie sie in ihrem zum Fußende hin verjüngten Kasten.

HERBERT TRUCZINSKIS RÜCKEN

Nichts kann eine Mutter ersetzen, sagt man. Schon bald nach Mamas Begräbnis sollte ich meine arme Mama vermissen lernen. Die Donnerstagbesuche beim Sigismund Markus fielen aus, niemand brachte mich mehr zur weißen Berufskleidung der Schwester Inge, besonders die Sonnabende machten mir Mamas Tod schmerzhaft deutlich: Mama ging nicht mehr zur Beichte.

Es blieben mir also die Altstadt fern, die Praxis des Dr. Hollatz, die Herz-Jesu-Kirche. Die Lust an Kundgebungen hatte ich verloren. Wie sollte ich Passanten vor Schaufenstern verlocken können, wenn selbst der Beruf des Versuchers Oskar schal und reizlos geworden war? Es gab keine Mama mehr, die mich ins Stadttheater zum Weihnachtsmärchen, in den Zirkus Krone oder Busch mitgenommen hätte.

Pünktlich allein, doch zugleich mürrisch, ging ich meinen Studien nach, ödete mich durch die gradlinigen Vorstadtstraßen zum Kleinhammerweg, besuchte das Gretchen Scheffler, das mir von KdF-Reisen ins Land der Mitternachtssonne erzählte, während ich unentwegt Goethe mit Rasputin verglich, bei diesen Vergleichen nie ein Ende fand und mich dem strahlend düsteren Kreislauf zumeist durch historische Studien entzog. Ein Kampf um Rom, Kaisers Geschichte der Stadt Danzig und Köhlers Flottenkalender, meine alten Standardwerke gaben mir ein weltumfassendes Halbwissen'. So bin ich heute noch in der Lage, Ihnen genaue Angaben über Panzerstärke, Bestückung, Stapellauf, Fertigstellung, Mannschaftssoll aller Schiffe zu machen, die sich an der Seeschlacht im Skagerrak beteiligten, dort sanken oder beschädigt wurden.

Vierzehn war ich bald, liebte die Einsamkeit und ging viel spazieren. Meine Trommel ging mit, doch zeigte ich mich sparsam auf dem Blech, weil durch Mamas Abgang eine rechtzeitige Belieferung mit Blechtrommeln fraglich war und auch blieb.

War es im Herbst siebenunddreißig oder im Frühjahr achtunddreißig? Auf jeden Fall trippelte ich die Hindenburgallee hoch, in Richtung Stadt, befand mich etwa auf Höhe des Cafés Vier Jahreszeiten, die Blätter fielen ab, oder es platzten die Knospen, auf jeden Fall tat sich etwas in der Natur; da traf ich meinen Freund und Mai-ster Bebra, der in direkter Linie vom Prinzen Eugen, also von Ludwig dem Vierzehnten abstammte.

Drei Jahre lang hatten wir uns nicht gesehen und erkannten uns dennoch auf zwanzig Schritte. Er war nicht alleine, an seinem Arm hielt sich zierlich, südländisch, vielleicht zwei Zentimeter kleiner als Bebra, drei Fingerfertig größer als ich, eine Schönheit, die er mir bei der Vorstellung als Roswitha Raguna, die berühmteste Somnambule Italiens, bekannt machte.

Bebra bat mich zu einer Tasse Mokka ins Cafe Vierjahreszeiten. Wir setzten uns ins Aquarium und die Kaffeetanten zischelten: »Guck ma die Liliputaner, Lisbeth, hasse die gesehn? Ob die im Krone auftreten? Da müssen wä hingehen womeglich.«

Bebra lächelte mich an und zeigte tausend feine, kaum sichtbare . Fältchen.

Der Kellner, der uns den Mokka brachte, war sehr groß. Als Frau Roswitha bei ihm ein Törtchen bestellte, blickte sie an dem Befrackten wie an einem Turm hoch.

Bebra beobachtete mich: »Es scheint ihm nicht gut zu gehen, unserem Glastöter. Wo fehlt es, mein Freund? Will das Glas nicht mehr oder mangelt's an Stimme?«

Jung und ungestüm wie ich war, wollte Oskar sofort ein Pröb-chen seiner noch immer unverwelkten Kunst geben. Suchend blickte ich mich um, fixierte schon die große Glasfläche vor den Zierfischen und Unterwasserpflanzen des Aquariums, da sprach Bebra, bevor ich sang: »Nicht doch, mein Freund!

Wir glauben Ihnen auch so. Keine Zerstörungen bitte, Überschwemmungen, kein Fischsterben!«

Beschämt entschuldigte ich mich vor allen Dingen bei Signora Roswitha, die einen Miniaturfächer hervorgezogen hatte und aufgeregt Wind machte.

»Meine Mama ist gestorben«, versuchte ich mich zu erklären. »Das hätte sie nicht tun dürfen. Ich nehme ihr das übel. Da reden die Leute immer: Eine Mutter merkt alles, fühlt alles, eine Mutter verzeiht alles. Muttertagssprüche sind das! Einen Gnom hat sie in mir gesehen. Abgetan hätte sie den Gnom, wenn sie nur gekonnt hätte. Konnte mich aber nicht abtun, weil Kinder, selbst Gnome, in den Papieren vermerkt sind und nicht einfach abgetan werden können. Auch weil ich ihr Gnom war, weil sie, wenn sie mich abgetan hätte, sich selbst abgetan und verhindert hätte. Entweder ich oder der Gnom, hat sie sich gefragt, hat dann mit sich Schluß gemacht, hat nur noch Fisch gegessen und nicht mal frischen Fisch, hat ihre Liebhaber verabschiedet und jetzt, da sie auf Brenntau liegt, sagen alle, die Liebhaber und die Kunden im Geschäft: Der Gnom hat sie ins Grab getrommelt. Wegen Oskarchen wollte sie nicht mehr weiterleben, er hat sie umgebracht!«

Ich übertrieb reichlich, wollte womöglich Signora Roswitha beeindrucken. Es gaben schließlich die meisten Leute Matzerath und besonders Jan Bronski die Schuld an Mamas Tod. Bebra durchschaute mich.

»Sie übertreiben, mein Bester. Aus purer Eifersucht grollen Sie Ihrer toten Mama. Weil sie nicht Ihretwegen, vielmehr der anstrengenden Liebhaber wegen ins Grab ging, fühlen Sie sich zurückgesetzt. Böse und eitel sind Sie, wie es sich nun einmal für ein Genie gehört!«

Dann, nach einem Seufzer und seitlichen Blick auf die Signora Roswitha: »Es ist nicht leicht, in unserer Größe auszuharren. Human bleiben ohne äußeres Wachstum, welch eine Aufgabe, welch ein Beruf!«

Roswitha Raguna, die neapolitanische Somnambule mit der gleichviel glatten wie zerknitterten Haut, sie, die ich auf achtzehn Lenze schätzte, nach dem nächsten Atemzug als achtzig-, womöglich neunzigjährige Greisin bewunderte, Signora Roswitha streichelte den eleganten, englisch zugeschnittenen Maßanzug des Herrn Bebra, schickte dann mir ihre kirschschwarzen Mittelmeeraugen, hatte eine dunkle Früchte versprechende Stimme, die mich bewegte und erstarren ließ: »Carissimo, Oskarnello! Wie versteh ich ihn, den Schmerz! Andiamo, kommen Sie mit uns: Milano, Parigi, Toledo, Guatemala!«

Ein Schwindel wollte mich überfallen. Die blutjunge uralte Hand der Raguna ergriff ich. Es schlug das Mittelmeer an meine Küste, Olivenbäume flüsterten mir ins Ohr: »Roswitha wird wie Ihre Mama sein, verstehen wird Roswitha. Sie, die große Somnambule, die alle durchschaut, erkennt, nur sich selbst nicht, mammamia, nur sich selbst nicht, Dio!«

Merkwürdigerweise entzog mir die Raguna plötzlich und schreckhaft die Hand, kaum daß sie angefangen hatte, mich zu durchschauen und mit somnambulem Blick zu durchleuchten. Hatte mein vierzehnjähriges, hungriges Herz sie entsetzt? War ihr aufgegangen, daß Roswitha, ob Mädchen oder Greisin, für mich Roswitha bedeutete? Neapolitanisch flüsterte sie, zitterte, bekreuzigte sich so oft, als hörten die Schrecken, die sie mir ablas, nicht mehr auf, verschwand dann wortlos hinter ihrem Fächer.

Verwirrt verlangte ich Aufklärung, bat den Herrn Bebra um ein Wort. Doch selbst Bebra hatte trotz direkter Abstammung vom Prinzen Eugen die Fassung verloren, stammelte, und endlich verstand ich:

»Ihr Genie, junger Freund, das Göttliche, aber auch das ganz gewiß Teuflische Ihres Genies haben meine gute Roswitha etwas verwirrt, und auch ich muß gestehen, daß eine Ihnen eigene, jäh ausbrechende Maßlosigkeit mir fremd, wenn auch nicht ganz unverständlich ist. Doch einerlei«, Bebra raffte sich auf, »wie Ihr Charakter auch beschaffen sein mag, kommen Sie mit uns, treten Sie auf in Bebras Mirakelschau. Bei einiger Selbstzucht und Beschränkung sollte es Ihnen möglich sein, selbst bei den heutzutage herrschenden politischen Verhältnissen ein Publikum zu finden.«Ich begriff sofort.

Bebra, der mir geraten hatte, immer auf Tribünen, niemals vor Tribünen zu stehen, war selbst unters Fußvolk geraten, auch wenn er weiterhin im Zirkus auftrat. So war er auch gar nicht enttäuscht, als ich sein Angebot höflich bedauernd ablehnte. Und Signora Roswitha atmete hörbar hinter dem Fächer auf und zeigte mir wieder ihre Mittelmeeraugen.

Wir plauderten noch ein Stündchen, ich ließ mir vom Kellner ein leeres Wasserglas bringen, sang den Ausschnitt eines Herzens in das Glas, sang schnörklig gravierend rundlaufend eine Inschrift darunter:

»Oskar für Roswitha«, schenkte ihr das Glas, bereitete ihr Freude, und Bebra zahlte, gab reichlich Trinkgeld, ehe wir gingen.

Bis zur Sporthalle begleiteten mich die beiden. Ich wies mit dem Trommelstock auf die nackte Tribüne am anderen Ende der Maiwiese und — jetzt erinnere ich mich, es war im Frühjahr achtunddreißig — erzählte meinem Meister Bebra von meiner Laufbahn als Trommler unter Tribünen.

Bebra lächelte verlegen, die Raguna zeigte ein strenges Gesicht. Und als die Signora einige Schritte abseits stand, flüsterte mir Bebra Abschied nehmend ins Ohr: »Ich habe versagt, lieber Freund, wie könnte ich weiterhin Ihr Lehrer sein. Oh, diese schmutzige Politik!«

Dann küßte er mich wie vor Jahren, als ich ihm zwischen den Wohnwagen des Zirkus begegnet war, auf die Stirn, die Dame Roswitha reichte mir eine Hand wie Porzellan, und ich beugte mich manierlich, für einen Vierzehnjährigen fast zu routiniert, über die Finger der Somnambulen.

»Wir sehen uns wieder, mein Sohn!« winkte Herr Bebra, »wie auch die Zeiten sein mögen, Leute wie wir gehen sich nicht verloren.«

»Verzeihen Sie Ihren Vätern!« ermahnte mich die Signora, »gewöhnen Sie sich an Ihre eigene Existenz, damit das Herz Ruhe bekommt und Satan Mißvergnügen!«

Es war mir, als hätte mich die Signora noch einmal, doch abermals vergeblich getauft. Weiche Satan — aber Satan wich nicht. Ich sah den beiden traurig und mit leerem Herzen nach, winkte, als sie in ein Taxi stiegen, dort gänzlich verschwanden; denn der Ford war für Erwachsene gebaut, sah leer aus und auf der Suche nach Kundschaft, als er mit meinen Freunden davonbrauste.

Zwar versuchte ich, Matzerath zu einem Besuch des Zirkus Krone zu bewegen, aber Matzerath war nicht zu bewegen, ganz gab er sich der Trauer um meine arme Mama hin, die er eigentlich nie ganz besessen hatte. Aber wer hatte Mama ganz besessen? Selbst Jan Bronski nicht, allenfalls ich, denn Oskar litt am meisten unter ihrer Abwesenheit, die seinen Alltag störte, sogar in Frage stellte. Mama hatte mich reingelegt. Von meinen Vätern war nichts zu erwarten. Meister Bebra hatte im Propagandaminister Goebbels seinen Meister gefunden. Gretchen Scheffler ging ganz im Winterhilfswerk auf. Keiner soll hungern, keiner soll frieren, hieß es. Ich hielt mich an meine Trommel und vereinsamte gänzlich auf dünngetrommeltem, ehemals weißem Blech. Am Abend saßen Matzerath und ich uns gegenüber. Er blätterte in seinen Kochbüchern, ich klagte auf meinem Instrument. Manchmal weinte Matzerath und barg seinen Kopf in den Kochbüchern. Jan Bronski kam immer seltener ins Haus. Die Politik in Betracht ziehend, waren beide Männer der Meinung, man müsse vorsichtig sein, man wisse nicht, wie der Hase laufe. So wurden Skatrunden mit wechselnden dritten Männern immer seltener und wenn, dann nur zu später Stunde, alle politischen Gespräche vermeidend, in unserem Wohnzimmer unter der Hängelampe veranstaltet. Meine Großmutter Anna schien den Weg aus Bissau zu uns in den Labesweg nicht mehr zu finden. Sie grollte Matzerath, vielleicht auch mir, hatte ich sie doch sagen hören: »Maine Agnes, die starb, wail se das Jetrommel nich ma hält vertragen megen.«

Wenn schon schuldig am Tod meiner armen Mama, klammerte ich mich dennoch um so fester an die geschmähte Trommel; denn die starb nicht, wie eine Mutter stirbt, die konnte man neu kaufen, vom alten Heilandt oder vom Uhrmacher Laubschad reparieren lassen, die verstand mich, gab immer die richtige Antwort, die hielt sich an mich, wie ich mich an sie hielt.

Wenn mir die Wohnung damals zu eng wurde, die Straßen zu kurz oder zu lang für meine vierzehn Jahre, wenn tagsüber sich keine Gelegenheit bot, den Versucher vor Schaufenstern zu spielen und am Abend die Versuchung nicht vordringlich genug sein wollte, um in dunklen Hauseingängen einen glaubwürdigen Versucher abgeben zu können, stampfte ich taktgebend die vier Treppen hoch, zählte hundertsechzehn Stufen, verhielt in jeder Etage, nahm die Gerüche wahr, die durch die jeweils fünf Wohnungstüren aller Stockwerke drangen, weil es den Gerüchen, gleich mir, in den Zweizimmerwohnungen zu eng wurde.

Anfangs hatte ich noch dann und wann Glück mit dem Trompeter Meyn. Betrunken und auf dem Trockenboden zwischen den Bettlaken liegend, konnte er unerhört musikalisch in seine Trompete hauchen und meiner Trommel Vergnügen bereiten. Im Mai achtunddreißig gab er den Machandel auf, verriet allen Leuten: »Jetzt fängt ein neues Leben an!« Er wurde Mitglied im Musikkorps der Reiter-SA. Gestiefelt und mit geledertem Gesäß, stocknüchtern sah ich ihn fortan auf der Treppe fünf Stufen auf einmal nehmen. Seine vier Katzen, deren eine Bismarck hieß, hielt er sich noch, weil, wie man annehmen konnte, dann und wann dennoch der Machandel siegte und ihn musikalisch machte.

Selten klopfte ich beim Uhrmacher Laubschad an, einem stillen Mann zwischen hundert lärmenden Uhren. Solch übertriebenen Verschleiß der Zeit konnte ich mir allenfalls einmal im Monat leisten.Der alte Heilandt hatte noch immer seinen Kabuff auf dem Hof des Miethauses. Immer noch klopfte er krumme Nägel gerade. Auch gab es Kaninchen und Kaninchen von Kaninchen wie in alten Zeiten.

Aber die Gören auf dem Hof waren andere. Die trugen jetzt Uniformen und schwarze Schlipse, kochten keine Ziegelmehlsuppen mehr. Was da heranwuchs, mich überragte, kannte ich kaum beim Namen. Das war eine andere Generation, und meine Generation hatte die Schule hinter sich, steckte in der Lehre: Nuchi Eyke wurde Friseur, Axel Mischke wollte Schweißer bei Schichau werden, Susi Kater lernte Verkäuferin im Kaufhaus Sternfeld, hatte schon einen festen Freund. Wie sich in drei, vier Jahren alles ändern kann. Da gab es zwar immer noch die alte Teppichklopfstange, auch stand in der Hausordnung: Dienstag und Freitag Teppichklopfen, aber das knallte nur noch spärlich und fast verlegen an den zwei Wochentagen: seit Hitlers Machtübernahme gab es mehr und mehr Staubsauger in den Haushaltungen; die Teppichklopfstangen vereinsamten und dienten nur noch den Sperlingen.

So blieben mir alleine das Treppenhaus und der Dachboden. Unter den Dachpfannen ging ich meiner bewährten Lektüre nach, im Treppenhaus klopfte ich, wenn ich Sehnsucht nach Menschen hatte, an der ersten Tür links in der zweiten Etage. Mutter Truczinski machte immer auf. Seitdem sie mich auf dem Brenntauer Friedhof an der Hand gehalten und zum Grabe meiner armen Mama geführt hatte, machte sie immer auf, wenn Oskar mit seinen Trommelstöcken die Türfüllung besuchte.

»Nu trommel nech so laut, Oskarchen. Da Häbert schläft noch beßchen, wail er hat wieder né scharfe Nacht jehabt und se mißten ihm bringen mit Auto.« In die Wohnung zog sie mich dann, goß mir Malzkaffee und Milch ein, gab mir auch ein Stück braunen Kandiszucker am Faden zum Eintauchen und Lecken. Ich trank, lutschte am Kandis und ließ die Trommel ruhen.

Mutter Truczinski hatte einen kleinen runden Kopf, den dünne aschgraue Haare so durchsichtig bespannten, daß die rosa Kopfhaut durchschimmerte. Die spärlichen Fäden strebten alle zum ausladendsten Punkt ihres Hinterkopfes, bildeten dort einen Dutt, der trotz seiner geringen Größe — er war kleiner als eine Billardkugel — von allen Seiten, sie mochte sich drehen und wenden, zu sehen war. Stricknadeln hielten den Dutt zusammen. Ihre runden, beim Lachen wie draufgesetzt wirkenden Wangen rieb Mutter Truczinski jeden Morgen mit dem Papier der Zichoriepackungen ein, das rot war und abfärbte. Sie hatte den Blick einer Maus. Ihre vier Kinder hießen: Herbert, Guste, Fritz, Maria.

Maria war in meinem Alter, hatte die Volksschule gerade hinter sich, wohnte und machte die Haushaltslehre bei einer Beamtenfamilie in Schidlitz. Fritz, der in der Waggonfabrik arbeitete, sah man selten. Abwechselnd zwei bis drei Mädchen hatte er, die ihm das Bett machten, mit denen er in Ohra auf der »Reitbahn« tanzen ging. Auf dem Hof des Miethauses hielt er sich Kaninchen, Blaue Wiener, die aber Mutter Truczinski versorgen mußte, weil Fritz bei sei' nen Freundinnen alle Hände voll zu tun hatte. Guste, eine ruhige Person, um die dreißig herum, war Serviererin im Hotel Eden am Hauptbahnhof. Immer noch unverheiratet wohnte sie wie alles Personal des erstklassigen Hotels im oberen Stockwerk des Eden-Hochhauses. Herbert endlich, der Älteste, der als einziger bei seiner Mutter wohnte — wenn man von gelegentlichen Übernachtungen des Monteurs Fritz absehen will —, arbeitete als Kellner in der Hafenvorstadt Neufahrwasser. Von ihm soll hier die Rede sein. Denn Herbert Truczinski wurde nach dem Tod meiner armen Mama, eine kurze glückliche Zeit lang, das Ziel meiner Anstrengungen; noch heute nenne ich ihn meinen Freund.

Herbert kellnerte bei Starbusch. So hieß der Wirt, dem die Kneipe »Zum Schweden« gehörte.

Gegenüber der protestantischen Seemannskirche lag die, und die Gäste der Kneipe waren — wie die Inschrift »Zum Schweden« leicht erraten läßt — zumeist Skandinavier. Doch kamen auch Russen, Polen aus dem Freihafen, Stauer vom Holm und Matrosen der gerade zum Besuch eingelaufenen reichsdeutschen Kriegsschiffe. Es war nicht ungefährlich, in dieser wahrhaft europäischen Kneipe zu kellnern. Nur die auf der »Reitbahn Ohra« gesammelten Erfahrungen — Herbert hatte in jenem drittrangigen Tanzlokal gekellnert, bevor er nach Fahrwasser ging — befähigten ihn, über dem im »Schweden« brodelnden Sprachgewirr sein mit englischen und polnischen Brocken versetztes Vorstadtplatt dominieren zu lassen. Dennoch brachte ihn gegen seinen Willen, dafür gratis, ein-bis zweimal im Monat ein Sanitätsauto nach Hause.

Herbert mußte dann auf dem Bauch liegen, schwer atmen, denn er wog an die zwei Zentner, und einige Tage sein Bett belasten. Mutter Truczinski schimpfte an solchen Tagen in einem Stück, während sie gleich unermüdlich für sein Wohl sorgte, dabei mit einer aus dem Dutt gezogenen Stricknadel jedesmal, nachdem sie ihm den Verband erneuert hatte, gegen ein verglastes Bildnis seinem Bett gegenüber tippte, das einen ernst und starr blickenden, fotografierten und retouschierten, schnauzbärtigen Mann darstellte, der einem Teil jener Schnauzbärte glich, die auf den ersten Seiten meines Fotoalbums wohnen.

Jener Herr, auf den die Stricknadel der Mutter Truczinski wies, war jedoch kein Mitglied meiner Familie, sondern Herberts, Gustes, Fritzens und Marias Vater.

»Du endest noch mal wie dein Vater jeendet is«, stichelte sie dem schwer atmenden, aufstöhnenden Herbert ins Ohr. Doch nie sagte sie deutlich, wie und wo jener Mann im schwarzen Lackrahmen sein Ende gefunden oder womöglich gesucht hatte.»Wä warres denn diesmal?« wollte die grauhaarige Maus über verschränkten Armen wissen.

»Schweden und Norske, wie immer«, wälzte sich Herbert, und das Bett krachte.

»Wie immer, wie immer! Tu bloß nich so, als wenn es immer nur die wären. Letztes Mal waren es welche von dem Schulschiff, wie heißtes schon, nu sag doch, na, vonne >Schlageter<, was hab ich gesagt, und du redst mir von Schwedens und Norske!«

Herberts Ohr — ich sah sein Gesicht nicht — wurde rot bis hinter die Ränder: »Diese Heinis, immer die Fresse aufreißen und dicken Mann markieren!«

»Laß sie doch, die Jungs. Was jeht das dich an. Inne Stadt, wenn man se sieht, wenn se Ausgang haben, sehen se immer ordentlich aus. Hast sie wohl wieder von deine Ideen mit Lenin erzählt, oder hast dir im spanischen Birjerkriech reingemischt?«

Herbert gab keine Antwort mehr, und Mutter Truczinski schlorrte in die Küche zu ihrem Malzkaffee.

Sobald Herberts Rücken ausgeheilt war, durfte ich ihn ansehen. Er saß dann auf dem Küchenstuhl, ließ die Hosenträger über die blaubetuchten Schenkel fallen, streifte sich langsam, als ließen ihn schwierige Gedanken zögern, das Wollhemd ab.

Der Rücken war rund, beweglich. Muskeln wanderten unermüdlich. Eine rosige Landschaft, mit Sommersprossen besät. Unterhalb der Schulterblätter wucherte fuchsiges Haar beiderseits der im Fett eingebetteten Wirbelsäule. Abwärts kräuselte es, bis es in jenen Unterhosen verschwand, die Herbert auch im Sommer trug. Aufwärts, vom Rand der Unterhosen bis zu den Halsmuskeln bedeckten den Rücken wulstige, den Haarwuchs unterbrechende, Sommersprossen tilgende, Falten ziehende, bei Wetterumschlag juckende, vielfarbige, vom Blauschwarz bis zum grünlichen Weiß abgestufte Narben.

Diese Narben durfte ich anfassen.

Was habe ich, der ich zu Bett liege, aus dem Fenster blicke, die Wirtschaftsgebäude der Heil-und Pflegeanstalt und den darunterliegenden Oberrather Wald seit Monaten betrachte und dennoch gründlich übersehe, was habe ich bis zu diesem Tage anfassen dürfen, das gleich hart, gleich empfindlich und gleich verwirrend war wie die Narben auf Herbert Truczinskis Rücken? Es sind dieses die Teile einiger Mädchen und Frauen, mein eigenes Glied, das gipserne Gießkännchen des Jesusknaben und jener Ringfinger, den mir vor knapp zwei Jahren der Hund aus dem Roggenfeld brachte, den ich vor einem Jahr noch hüten durfte, in einem Einmachglas zwar und unantastbar, dennoch so deutlich und vollzählig, daß ich jetzt noch jedes Glied des Fingers spüren und abzählen kann, wenn ich nur zu meinen Trommelstöcken greife. Immer wenn ich mich an die Narben auf Herbert Truczinskis Rücken erinnern wollte, saß ich trommelnd, also trommelnd dem Gedächtnis nachhelfend, vor dem Weckglas mit dem Finger. Immer wenn ich, was selten genug vorkam, dem Körper einer Frau nachging, erfand ich mir, von den narbenähnlichen Teilen einer Frau nicht ausreichend überzeugt, Herbert Truczinskis Narben.

Aber genau so gut könnte ich sagen: Die ersten Berührungen jener Wülste auf dem weiten Rücken des Freundes verhießen mir schon damals Bekanntschaft und zeitweiligen Besitz jener Verhärtungen, die zur Liebe bereite Frauen kurzfristig an sich haben. Gleichfalls versprachen mir die Zeichen auf Herberts Rücken zu jenem frühen Zeitpunkt schon den Ringfinger, und bevor mir Herberts Narben Versprechungen machten, waren es die Trommelstöcke, die mir vom dritten Geburtstag an die Narben, Fortpflanzungsorgane und endlich den Ringfinger versprachen. Doch muß ich noch weiter zurückgreifen: schon als Embryo, als Oskar noch gar nicht Oskar hieß, verhieß mir das Spiel mit meiner Nabelschnur nacheinander die Trommelstöcke, Herberts Narben, die gelegentlich aufbrechenden Krater jüngerer und älterer Frauen, schließlich den Ringfinger und immer wieder, vom Gießkännchen des Jesusknaben an, mein eigenes Geschlecht, das ich unentwegt, wie das launenhafte Denkmal meiner Ohnmacht und begrenzten Möglichkeiten, bei mir trage.

Heute bin ich wieder bei den Trommelstöcken angelangt. An Narben, Weichteile, an meine eigene, nur noch dann und wann starktuende Ausrüstung erinnere ich mich allenfalls über den Umweg, den meine Trommel vorschreibt. Dreißig muß ich werden, um meinen dritten Geburtstag abermals feiern zu können. Sie werden es erraten haben: Oskars Ziel ist die Rückkehr zur Nabelschnur; alleine deshalb der ganze Aufwand und das Verweilen bei Herbert Truczinskis Narben.

Bevor ich weiterhin des Freundes Rücken beschreibe und deute, schicke ich voraus, daß sich, bis auf eine Bißwunde am linken Schienbein, die ihm eine Prostituierte aus Ohra hinterlassen hatte, auf der Vorderseite seines mächtigen, kaum zu schützenden, also zielbreiten Körpers keine Narben befanden.

Nur von hinten konnten sie gegen ihn an. Nur von hinten war er zu erreichen, nur seinen Rücken zeichneten die finnischen und polnischen Messer, die Poggenkniefe der Stauer von der Speicherinsel, die Segelmesser der Kadetten von den Schulschiffen.

Wenn Herbert zu Mittag gegessen hatte — dreimal in der Woche gab es Kartoffelflinsen, die niemand so dünn, fettarm und dennoch knusprig wie Mutter Truczinski backen konnte — wenn Herbert also den Teller zur Seite schob, reichte ich ihm die »Neuesten Nachrichten«. Er ließ die Hosenträger herunter, pellte sich das Hemd ab und ließ mich, während er las, seinen Rücken befragen. Auch Mutter Truczinski saß während dieser Fragestunden meistens am Tisch, ribbelte die Wolle alter Strümpfe auf, machte zustimmende oder abfällige Bemerkungen und versäumte nicht, von Zeit zu Zeit auf den — wie man annehmen kann — schrecklichen Tod jenes Mannes hinzuweisen,der fotografiert und retouschiert hinter Glas, Herberts Bett gegern über, an der Wand hing.

Die Befragung begann, indem ich mit dem Finger auf eine der Narben tippte. Manchmal tippte ich auch mit einem meiner Trommelstöcke.

»Drück nochmal, Jung. Ich weiß nich, welche. Die scheint heut' zu schlafen.« Dann drückte ich nochmals, nachdrücklicher.

»Ach die! Das war'n Ukrainer. Der hatte es mit einem aus Gdingen. Zuerst saßen sie wie de Brieder an einem Tisch. Und denn sagte der aus Gdingen zu dem anderen: Ruski. Das vätrug der Ukrainer nich, der alles megliche nur kein Ruski nich sein wollt'. Mit Holz warrer de Weichsel runterjekommen und vorher noch paar andere Flüsse, und nu hatter ne Menge Geld im Stiebel und hält' auch schon den halben Stiebel voll beim Starbusch rundenweise anjelegt, als der aus Gdingen Ruski sagt, und ich die beiden gleich darauf trennen muß, ganz sachte, wie das so meine Art ist. Und Häbert hat noch beide Hände voll zu tun, da sagt der Ukrainer Wasserpollack zu mir, und der Pollack, der tagsüber auffem Bagger Modder hochhievte, der hing mir'n Wort an, das sich wie Nazi anhörte. Nu, Oskarchen, du kennst ja den Häbert Truczinski: der vom Bagger, son blasser Heizertyp, lag schnell und verknautscht vor de Garderobe. Und grad wollt ich dem Ukrainer erklären, was der Unterschied zwischen nem Wasserpollack und nem Danziger Bowke ist, da pikt der mir von hinten — und das is de Narbe.«

Wenn Herbert »und das is de Narbe« sagte, blätterte er immer gleichzeitig, sein Wort bekräftigend, die Zeitung um und trank einen Schluck Malzkaffee, bevor ich auf die nächste Narbe drücken durfte, ein oder zweimal.

»Ach die! Das is man aber nur ne ganz bescheidene. Das war, als vor zwai Jahren etwa die Torpedobootflottille aus Pillau hier festmachte, dicke tat, >Blaue Jungs< spielte und de Marjellchen meschugge wurden. Wie der Schwiemel zur Marine jekommen ist, blaibt mir heute noch schleierhaft.

Aus Dresden kam der, stell dir das vor, Oskarchen, aus Dresden! Aber du hast ja kaine blasse Ahnung, was das heißt, wenn nen Mariner aus Dresden kommt.«

Um Herberts Sinne, die sich allzu beharrlich in der schönen Elbestadt Dresden ergingen, von dort fortzulocken, um sie wieder in Neufahrwasser zu beheimaten, stippte ich noch einmal die, wie er meinte, ganz bescheidene Narbe.

»Na ja, sagte doch schon. Warren Signalgast auffem Torpedoboot. Wollte mächtige Töne riskieren und nen ruhigen Schotten, dem sein Kahn im Trockendock lag, auf de Schippe nehmen. Von wegen Chamberlain, Regenschirm und so. Ich riet ihm ganz ruhig, wie das so meine Art ist, son Jerede sein zu lassen, zumal der Schotte kain Wort verstand und immer nur mit Schnaps auf de Tischplatte malte.

Und wie ich sag, laß das Jungchen, du bist hier nich bei Euch, sondern beim Völkerbund, da sagt der Torpedofritze >Beutedeutscher< zu mir, das auf sächsisch, verstehste — und hatte gleich ein paar kleben, was ihn auch ruhig machte. Ne halbe Stunde später erst, ich bückt mir grade nach nem Gulden, der unterm Tisch jekullert war, und könnt nicht sehn, weil duster war unterm Tisch, da holt der Sachse sein Pikpik und macht ganz schnell pik!«

Lachend blätterte Herbert in den »Neuesten Nachrichten«, sagte noch: »Und das is de Narbe«, schob dann die Zeitung der brummelnden Mutter Truczinski hin und machte Anstalten, aufzustehen. Schnell, bevor Herbert aufs Klo gehen konnte — ich sah seinem Gesicht an, wo er hinwollte — schon drückte er sich an der Tischkante hoch, da tippte ich auf eine schwarzviolette, genähte Narbe, die so breit war, wie eine Skatkarte lang ist.

»Häbert muß auffem Klo, Jungchen. Nachher sag ich dir.« Aber ich tippte nochmals, strampelte, machte auf dreijährig; das half immer.

»Na scheen. Damit Ruh is. Aber ganz kurz nur.« Herbert setzte sich wieder. »Das war Weihnachten anno dreißig. Im Hafen war nischt los. Die Stauer lungerten an de Straßenecken und spuckten auf Länge. Nach de Mitternachtsmesse — wir hatten den Punsch grade färtig — kamen scheen sauber jekämmt und in Blau und Lack die Schweden und die Finnen aus de Seemannskirche jegenieber. Ich ahn schon nichts Gutes, steh inne Tür von uns und seh mir die auffallend frommen Jesichter an, denk, was spielen die so midde Ankerknöppe, da geht es auch schon los: lang sind de Messer und kurz is de Nacht! Na, Finnen und Schweden hatten schon immer was voreinander iebrig. Was aber Häbert Truczinski mit die zu tun hatte, weiß der Deibel. Dem beißt der Äff', denn wenn was los is, darf Häbert nich fehlen. Nix wie raus aus die Tür, und der Starbusch ruft noch: >Sieh dir vor, Häbert !< Aber der hat ne Mission, der will dem Pfarrer, son klain Jungsken, grad frisch von Malmö jekommen, äußern Seminar, und hat noch kein Weihnachten nich mitjemacht mit Finnen und Schweden inne selbe Kirche, dem will er also retten, unter die Arme greifen, damit er auch fein jesund nach Hause kommt, da hab ich, kaum daß ich dem Gottesmann am Tuch zu fassen kriege, das saubere Ding hinten schon drinnen und denk noch >Prost Neujahr<, dabei hatten wir Heiligabend. Und wie ich wieder zu mir komm, da lieg ich schon bei uns auf de Theke und mein scheenes Blut läuft in de Biergläser gratis, und der Starbusch kommt mit seinem Pflasterkasten vons Rote Kreuz und will mir den sojenannten Notverband anlegen.«

»Was mischte dir da auch rein«, ärgerte sich Mutter Truczinski und zog sich eine Stricknadel aus dem Dutt. »Dabei gehste sonst nie nich inne Kirche. Im Gegenteil!«

Herbert winkte ab, ging, das Hemd mitschleifend, die Hosenträger hängen lassend, aufs Klo. Ärgerlich ging er, sagte auch ärgerlich: »Und das is de Narbe«, trat diesen Gang an, als wollte er sich von der Kirche und den mit ihr verbundenen Messerstechereien ein für allemaldistanzieren, als sei das Klo der Ort, auf dem man Freidenker ist, wird oder bleibt.

Wenige Wochen später fand ich Herbert wortlos und zu keiner Fragestunde bereit. Vergrämt kam er mir vor und hatte dennoch nicht den gewohnten Rückenverband. Vielmehr fand ich ihn ganz normal auf dem Rücken liegend im Wohnzimmer auf dem Sofa. Er lag nicht als Verletzter in seinem Bett und schien dennoch schwer verletzt zu sein. Seufzen hörte ich Herbert, Gott, Marx und Engels anrufen und verfluchen. Ab und zu schüttelte er die Faust in der Zimmerluft, ließ die dann auf seine Brust fallen, half mit der anderen Faust nach, und er behämmerte sich wie ein Katholik, der mea culpa ruft, mea maxima culpa.

Herbert hatte einen lettischen Kapitän erschlagen. Zwar sprach das Gericht ihn frei — er hatte, wie das in seinem Beruf oft genug vorkommt, aus Notwehr gehandelt. Der Leite jedoch blieb trotz des Freispruches ein toter Leite und belastete den Kellner zentnerschwer, obgleich es von dem Kapitän hieß: er war ein zierliches, obendrein magenkrankes Männlein.

Herbert ging nicht mehr zur Arbeit. Er hatte gekündigt. Oft kam der Wirt Starbusch, setzte sich zu Herbert neben das Sofa oder zu Mutler Truczinski an den Küchentisch, holte für Herbert eine Flasche Stobbes Machandel nullnull aus seiner Aktentasche, für Mutter Truczinski ein halbes Pfund ungebrannten Bohnenkaffee, der aus dem Freihafen stammte. Entweder versuchte er, Herbert zu bereden, oder er beredete Mutter Truczinski, ihren Sohn zu bereden. Aber Herbert blieb hart oder weich — wie man es nennen will —, er wollte nicht mehr kellnern, in Neufahrwasser, der Seemannskirche gegenüber, schon ganz und gar nicht. Überhaupt nicht mehr kellnern wollte er; denn wer kellnert, wird gestochen, und wer gestochen wird, schlägt eines Tages einen kleinen lettischen Kapitän tot, nur weil er sich den Kapitän vom Leibe halten will, nur weil er einem lettischen Messer nicht erlauben will, neben all den finnischen, schwedischen, polnischen, freistädtischen und reichsdeutschen Narben noch eine lettische Narbe auf dem kreuz und quer gepflügten Rücken eines Herbert Truczinski zu hinterlassen.

»Eher geh ich zum Zoll, als daß ich mir noch mal mecht auf Kellnern in Fahrwasser einlassen«, sagte Herbert. Aber er ging nicht zum Zoll.