DIE AMEISENSTRASSE
Stellen Sie sich bitte ein azurblau gefliestes Schwimmbassin vor, im Bassin schwimmen sonnengebräunte, sportlich empfindende Menschen. Am Rande des Bassins sitzen vor den Badekabinen ähnlich gebräunte, ähnlich empfindende Männer und Frauen. Womöglich Musik aus einem Lautsprecher, den man auf leise stellte. Gesunde Langeweile, leichte und unverbindliche, die Badeanzüge straffende Erotik. Die Fliesen sind glatt, dennoch gleitet niemand aus. Nur wenige Verbotsschilder; doch auch die sind überflüssig, weil die Badenden nur für zwei Stunden kommen und alles Verbotene außerhalb der Anstalt tun. Dann und wann springt jemand vom Dreimetersprungbrett, kann aber dennoch nicht die Augen der Schwimmenden gewinnen, die Augen der liegenden Badegäste aus den illustrierten Zeitungen locken. — Plötzlich ein Lüftchen! Nein, kein Lüftchen. Vielmehr ist es ein junger Mann, der langsam, zielstrebig, von Sprosse zu Sprosse nachgreifend, die Leiter zum Zehnmetersprungturm hinaufsteigt. Schon sinken die Zeitschriften mit den Reportagen aus Europa und Übersee, Augen steigen mit ihm, liegende Körper werden länger, eine junge Frau beschattet die Stirn, jemand vergißt, woran er dachte, ein Wort bleibt unausgesprochen, eine Liebelei, gerade begonnen, endet frühzeitig, mitten im Satz — denn nun steht er gutgebaut und potent auf dem Brett, hüpft, lehnt sich gegen das sanftgebogene Stahlrohrgeländer, schaut wie gelangweilt herab, löst sich mit elegantem Beckenschwung vom Geländer, wagt sich aufs überragende, bei jedem Schritt federnde Sprungbrett, schaut hinab, erlaubt seinem Blick, sich zu einem azurenen, bestürzend kleinen Bassin zu verjüngen, in dem rot, gelb, grün, weiß, rot, gelb, grün, weiß, rot, gelb die Badekappen der Schwimmerinnen immer wieder neu durcheinander geraten. Dort müssen die Bekannten sitzen, Doris und Erika Schüler, auch Jutta Daniels mit ihrem Freund, der gar nicht zu ihr paßt. Sie winken, auch Jutta winkt. Um sein Gleichgewicht besorgt, winkt er zurück. Die rufen. Was wollen die denn? Er soll machen, rufen die, springen, ruft Jutta. Aber er hatte doch gar nicht vor, wollte doch nur einmal gucken, wie es oben ist, und dann wieder langsam, Sprosse um Sprosse greifend, absteigen. Und nun rufen sie, daß es alle hören können, rufen laut: Spring! Nu, spring schon! Spring!
Das ist, werden Sie zugeben müssen, so nah man sich auf einem Sprungturm dem Himmel befinden mag, eine verteufelte Lage. Ähnlich, wenn auch nicht während der Badesaison, erging es im Januar fünfundvierzig den Mitgliedern der Stäuberbande und mir. Wir hatten uns hoch hinauf gewagt, drängelten nun auf dem Sprungbrett, und unten, ein feierliches Hufeisen ums wasserlose Bassin bildend, saßen die Richter, Beisitzer, Zeugen und Gerichtsdiener.
Da trat Störtebeker auf das federnde Brett ohne Geländer.»Spring!« rief der Richterchor.
Aber Störtebeker sprang nicht.
Da erhob sich unten auf den Zeugenbänken eine schmale Mädchengestalt, die ein Berchtesgadener Jäckchen und einen grauen Faltenrock trug. Ein weißes, aber nicht verschwommenes Gesicht — von dem ich noch heute behaupte, daß es ein Dreieck bildete — hob sie wie eine blinkende Zielmarkierung; und Luzie Rennwand rief nicht, sondern flüsterte: »Spring, Störtebeker, spring!«
Da sprang Störtebeker, und Luzie setzte sich wieder aufs Holz der Zeugenbank, zog die Ärmel ihres gestrickten Berchtesgadener Jäckchens lang und über ihre Fäuste.
Moorkähne hinkte aufs Sprungbrett. Die Richter forderten ihn zum Sprung auf. Aber Moorkähne wollte nicht, lächelte verlegen seine Fingernägel an, wartete, bis Luzie die Ärmel freigab, die Fäuste aus der Wolle fallen ließ und ihm das schwarzgerahmte Dreieck mit den Strichaugen zeigte. Da sprang er zielbesessen auf das Dreieck zu und erreichte es dennoch nicht.
Kohlenklau und Putte, die sich während des Aufstieges schon nicht grün gewesen waren, gerieten auf dem Sprungbrett aneinander. Putte wurde gestäubt, und selbst beim Sprung ließ Kohlenklau nicht von Putte ab.
Dreschhase, der lange seidige Wimpern hatte, schloß seine grundlos traurigen Rehaugen vor dem Sprung.
Bevor sie sprangen, mußten die Luftwaffenhelfer ihre Uniformen ausziehen.
Auch durften die Brüder Rennwand nicht als Meßdiener vom Sprungbrett in den Himmel hinabspringen; das hätte Luzie, ihr Schwesterchen, das in fadenscheiniger Kriegswolle auf der Zeugenbank saß und den Sprungsport förderte, niemals geduldet.
Im Gegensatz zur Historie sprangen zuerst Belisar und Narses, dann Totila und Teja.
Blaubart sprang, Löwenherz sprang, das Fußvolk der Stäuberbande: Nase, Buschmann, Ölhafen, Pfeifer, Kühnesenf, Jatagan und Faßbinder sprangen.
Als Stuchel sprang, ein verwirrend schielender Untersekundaner, der eigentlich nur halb und zufällig zur Stäuberbande gehörte, blieb einzig Jesus auf dem Sprungbrett zurück und wurde von den Richtern im Chor als Oskar Matzerath zum Sprung aufgefordert, welcher Aufforderung Jesus nicht nachkam.
Und als sich in der Zeugenbank die gestrenge Luzie mit dem dünnen Mozartzopf zwischen den Schulterblättern erhob, die Strickjackenarme ausbreitete und, ohne den verkniffenen Mund zu bewegen, flüsterte: »Spring, süßer Jesus, spring!« da begriff ich die verführerische Natur eines Zehnmetersprungbrettes, da rollten sich kleine graue Kätzchen in meinen Kniekehlen, da paarten sich Igel unter meinen Fußsohlen, da wurden Schwalben in meinen Achselhöhlen flügge, da lag mir die Welt zu Füßen und nicht nur Europa. Da tanzten Amerikaner und Japaner einen Fackeltanz auf der Insel Luzon. Da verloren Schlitzäugige und Rundäugige Knöpfe an ihren Monturen. Da gab es aber in Stockholm einen Schneider, der nähte zum selben Zeitpunkt Knöpfe an einen dezent gestreiften Abendanzug. Da fütterte Mountbatten die Elefanten Birmas mit Geschossen aller Kaliber. Da lehrte gleichzeitig eine Witwe in Lima ihren Papagei das Wörtchen »Caramba« nachsprechen. Da schwammen mitten im Pazifik zwei mächtige, wie gotische Kathedralen verzierte Flugzeugträger aufeinander zu, ließen ihre Flugzeuge starten und versenkten sich gegenseitig. Die Flugzeuge aber konnten nicht mehr landen, hingen hilflos und rein allegorisch gleich Engeln in der Luft und verbrauchten brummend ihren Brennstoff. Das jedoch störte einen Straßenbahnschaffner in Haparanda, der gerade Feierabend gemacht hatte, überhaupt nicht. Eier schlug er sich in die Pfanne, zwei für sich, zwei für seine Verlobte, auf deren Ankunft er lächelnd und alles vorausbedenkend wartete. Natürlich hätte man auch voraussehen können, daß sich die Armeen Konjews und Schukows abermals in Bewegung setzen würden; während es in Irland regnete, durchbrachen sie die Weichselfront, nahmen Warschau zu spät und Königsberg zu früh und konnten dennoch nicht verhindern, daß einer Frau in Panama, die fünf Kinder hatte und einen einzigen Mann, die Milch auf dem Gasherd anbrannte. So blieb es auch nicht aus, daß der Faden des Zeitgeschehens, der vorne noch hungrig war, Schlingen schlug und Geschichte machte, hinten schon zur Historie gestrickt wurde. Auch fiel mir auf, daß Tätigkeiten wie:
Daumendrehen, Stirnrunzeln, Köpfchensenken, Händeschütteln, Kindermachen, Falschgeldprägen, Lichtausknipsen, Zähneputzen, Totschießen und Trockenlegen überall, wenn auch nicht gleichmäßig geschickt, geübt wurden. Mich verwirrten diese vielen zielstrebigen Aktionen. Deshalb wandte meine Aufmerksamkeit sich wieder dem Prozeß zu, der mir zu Ehren am Fuße des Sprungturmes veranstaltet wurde. »Spring, süßer Jesus, spring«, flüsterte die frühreife Zeugin Luzie Rennwand. Sie saß auf Satans Schoß, was ihre Jungfräulichkeit noch betonte. Er bereitete ihr Lust, indem er ihr ein Wurstbrot reichte. Sie biß zu und blieb dennoch keusch. »Spring, süßer Jesus!« kaute sie und bot mir ihr unverletztes Dreieck.
Ich sprang nicht und werde nie von Sprungtürmen springen. Das war nicht Oskars letzter Prozeß. Man hat mich mehrmals und noch in letzter Zeit zum Sprung verführen wollen. Wie beim Stäuberprozeß gab es auch beim Ringfingerprozeß — den ich besser den dritten Prozeß Jesu nenne — Zuschauer genug am Rande des azurgefliesten Bassins ohne Wasser. Auf Zeugenbänken saßen sie, wollten durch und nach meinem Prozeß weiterleben.
Ich aber machte kehrt, erstickte die flüggen Schwalben in meinen Achselhöhlen, erdrückte die unter meinen Sohlen Hochzeit feiernden Igel, hungerte die grauen Kätzchen in meinen Kniekehlen aus— und ging steif, die Hochgefühle des Sprunges verschmähend, auf das Geländer zu, schwang mich in die Leiter, stieg ab, ließ mir von jeder Leitersprosse bestätigen, daß man Sprungtürme nicht nur besteigen, sondern auch sprunglos wieder verlassen kann.
Unten erwarteten mich Maria und Matzerath. Hochwürden Wiehnke segnete mich ungefragt. Gretchen Scheffler hatte mir ein Wintermäntelchen mitgebracht, auch Kuchen. Das Kurtchen war gewachsen und wollte mich weder als Vater noch als Halbbruder erkennen. Meine Großmutter Koljaiczek hielt ihren Bruder Vinzent am Arm. Der kannte die Welt und redete wirr.
Als wir das Gerichtsgebäude verließen, kam ein Beamter in Zivil auf Matzerath zu, übergab dem ein Schreiben und sagte: »Sie sollten sich das wirklich noch einmal überlegen, Herr Matzerath. Das Kind muß von der Straße fort. Sie sehen ja, von welchen Elementen solch ein hilfloses Geschöpf mißbraucht wird.«
Maria weinte und hängte mir meine Trommel um, die Hochwürden Wiehnke während des Prozesses an sich genommen hatte. Wir gingen zur Straßenbahnhaltestelle am Hauptbahnhof. Das letzte Stück trug mich Matzerath. Über seine Schulter hinweg blickte ich zurück, suchte ein dreieckiges Gesicht in der Menge, wollte wissen, ob sie auch auf den Sprungturm mußte, ob sie Störtebeker und Moorkähne nachsprang, oder ob sie gleich mir die zweite Möglichkeit einer Leiter, den Abstieg wahrgenommen hatte.
Bis zum heutigen Tage habe ich es mir nicht abgewöhnen können, auf den Straßen und Plätzen nach einem mageren, weder hübschen noch häßlichen, dennoch unentwegt Männer mordenden Backfisch Umschau zu halten. Selbst im Bett meiner Heil-und Pflegeanstalt erschrecke ich, wenn Bruno mir unbekannten Besuch meldet. Mein Entsetzen heißt dann: jetzt kommt Luzie Rennwand und fordert dich als Kinderschreck und Schwarze Köchin letztmals zum Sprung auf.
Zehn Tage lang überlegte sich Matzerath, ob er den Brief unterschreiben und ans Gesundheitsministerium abschicken sollte. Als er ihn am elften Tag unterschrieben abschickte, lag die Stadt schon unter Artilleriebeschuß, und es war fraglich, ob die Post noch Gelegenheit fände, den Brief weiterzusenden. Panzerspitzen der Armee des Marschalls Rokossowski drangen bis Elbing vor.
Die zweite Armee, von Weiß, bezog Stellung auf den Höhen um Danzig. Es begann das Leben im Keller.
Wie wir alle wissen, befand sich unser Keller unter dem Laden. Man konnte ihn vom Kellereingang im Hausflur, gegenüber der Toilette, achtzehn Stufen hinabsteigend, hinter Heilandts und Katers Keller, vor Schlagers Keller erreichen. Der alte Heilandt war noch da. Frau Kater jedoch, auch der Uhrmacher Laubschad, Eykes und Schlagers waren mit einigen Bündeln davon. Von ihnen, auch von Gretchen und Alexander Scheffler hieß es später, sie seien in letzter Minute an Bord eines ehemaligen KdF-Schiffes gegangen und ab, Richtung Stettin oder Lübeck oder auch auf eine Mine und in die Luft geflogen; auf jeden Fall war über die Hälfte der Wohnungen und Keller leer.
Unser Keller hatte den Vorteil eines zweiten Einganges, der, wie wir gleichfalls alle wissen, aus einer Falltür 'im Laden hinter dem Ladentisch bestand. So konnte auch niemand sehen, was Matzerath in den Keller brachte, was er aus dem Keller holte. Es hätte uns auch niemand die Vorräte gegönnt, die Matzerath während der Kriegsjahre zu stapeln verstanden hatte. Der trockenwarme Raum war voller Lebensmittel wie: Hülsenfrüchte, Teigwaren, Zucker, Kunsthonig, Weizenmehl und Margarine. Kisten Knäckebrot lasteten auf Kisten Palmin. Konservendosen mit Leipziger Allerlei stapelten sich neben Dosen mit Mirabellen, Jungen Erbsen, Pflaumen auf Regalen, die der praktische Matzerath selbst angefertigt und auf Dübeln an den Wänden befestigt hatte. Einige, etwa Mitte des Krieges auf Greffs Veranlassung hin zwischen Kellerdecke und Betonboden gekeilte Balken sollten dem Lebensmittellager die Sicherheit eines vorschriftsmäßigen Luftschutzraumes geben. Mehrmals wollte Matzerath die Balken wieder wegschlagen, da Danzig außer Störangriffen kein größeres Bombardement erlebte. Doch als der Luftschutzwart Greff nicht mehr mahnte, bat ihn Maria um den Verbleib der stützenden Balken. Für Kurtchen forderte sie Sicherheit und manchmal auch für mich.
Während der ersten Luftangriffe Ende Januar trugen der alte Heilandt und Matzerath noch mit vereinten Kräften den Stuhl mit Mutter Truczinski in unseren Keller. Dann ließ man sie, vielleicht auf ihren Wunsch, womöglich auch die Anstrengungen des Tragens scheuend, in der Wohnung, vor dem Fenster. Nach dem großen Angriff gegen die Innenstadt fanden Maria und Matzerath die alte Frau mit herabhängendem Unterkiefer und so verdrehtem Blick vor, als wäre ihr eine kleine klebrige Fliege ins Auge geflogen.
So wurde die Tür zum Schlafzimmer aus den Angeln gehoben. Der alte Heilandt holte aus seinem Schuppen Werkzeug und einige Kistenbretter. Derby-Zigaretten rauchend, die ihm Matzerath gegeben hatte, begann er Maß zu nehmen. Oskar half ihm bei der Arbeit. Die anderen verschwanden im Keller, weil der Artilleriebeschuß von der Höhe wieder begann.
Er wollte es schnell machen und eine schlichte, unverjüngte Kiste zusammenzimmern. Oskar war jedoch mehr für die traditionelle Sargform, ließ nicht locker, hielt ihm die Bretter so bestimmt unter die Säge, daß er sich schließlich doch noch zu jener Verjüngung zum Fußende hin entschloß, die jede menschliche Leiche für sich beanspruchen darf.
Am Ende sah der Sarg fein aus. Die Greffsche wusch Mutter Truczinski, nahm ein frischgewaschenes Nachthemd aus demSchrank, beschnitt ihre Fingernägel, ordnete ihren Dutt, gab dem mit drei Stricknadeln den nötigen Halt, kurz, sie sorgte dafür, daß Mutter Truczinski auch im Tode einer grauen Maus glich, die zu Lebzeiten gerne Malzkaffee getrunken und Kartoffelpuffer gegessen hatte.
Da sich die Maus aber während des Bombenangriffes in ihrem Stuhl verkrampft hatte und nur mit angezogenen Knien im Sarg liegen wollte, mußte ihr der alte Heilandt, als Maria mit dem Kurtchen auf dem Arm für Minuten das Zimmer verließ, beide Beine brechen, damit der Sarg vernagelt werden konnte.
Leider hatten wir nur gelbe und keine schwarze Farbe. So wurde Mutter Truczinski in ungestrichenen, aber zum Fußende hin verjüngten Brettern aus der Wohnung und die Treppen hinunter getragen.
Oskar trug seine Trommel hinterdrein und betrachtete lesend den Sargdeckel: Vitello-Margarine — Vitello-Margarine — Vitello-Margarine — stand dort dreimal in gleichmäßigen Abschnitten untereinander und bestätigte nachträglich Mutter Truczinskis Geschmacksrichtung. Sie hatte zu Lebzeiten die gute Vitello-Margarine aus reinen Pflanzenfetten der besten Butter vorgezogen; weil Margarine gesund ist, frisch hält, nährt und fröhlich macht.
Der alte Heilandt zog den Tafelwagen der Gemüsehandlung Greff mit dem Sarg durch die Luisenstraße, Marienstraße, durch den Anton-Möller-Weg — da brannten zwei Häuser — in Richtung Frauenklinik. Das Kurtchen war bei der Witwe Greff in unserem Keller geblieben. Maria und Matzerath schoben, Oskar saß drauf, wäre gerne auf den Sarg geklettert, durfte aber nicht. Die Straßen waren mit Flüchtlingen aus Ostpreußen und dem Werder verstopft. Durch die Eisenbahnunterführung vor der Sporthalle war kaum durchzukommen. Matzerath schlug vor, im Schulgarten des Conradinums ein Loch zu graben. Maria war dagegen. Der alte Heilandt, der Mutter Truczinskis Alter hatte, winkte ab. Auch ich war gegen den Schulgarten. Auf die Städtischen Friedhöfe mußten wir allerdings verzichten, da von der Sporthalle an die Hindenburgallee nur für Militärfahrzeuge offen war. So konnten wir die Maus nicht neben ihrem Sohn Herbert beerdigen, wählten ihr aber ein Plätzchen hinter der Maiwiese im Steffenspark, der den Städtischen Friedhöfen gegenüberlag.
Der Boden war gefroren. Während Matzerath und der alte Heilandt abwechselnd mit der Spitzhacke wirkten und Maria Efeu neben Steinbänken auszugraben versuchte, machte Oskar sich selbständig und war bald zwischen den Baumstämmen der Hindenburgallee. Welch ein Verkehr! Die von der Höhe und aus dem Werder zurückgezogenen Panzer schleppten sich gegenseitig ab. An den Bäumen — wenn ich mich recht erinnere, waren es Linden — hingen Volkssturmleute und Soldaten.
Pappschildchen vor ihren Uniformröcken waren einigermaßen leserlich und besagten, daß an den Bäumen oder Linden Verräter hingen. Mehreren Erhängten sah ich ins angestrengte Gesicht, stellte Vergleiche im allgemeinen und im besonderen mit dem erhängten Gemüsehändler Greff an. Auch sah ich Bündel junger Burschen in zu großen Uniformen hängen, glaubte mehrmals Störtebeker zu erkennen — erhängte Burschen sehen aber alle gleich aus — und sagte mir dennoch: jetzt haben sie den Störtebeker gehängt — ob sie auch Luzie Rennwand aufgeknüpft haben?
Dieser Gedanke beflügelte Oskar. Die Bäume links und rechts suchte er nach einem dünnen hängenden Mädchen ab, wagte sich durch die Panzer hindurch auf die andere Seite der Allee, fand aber auch dort nur Landser, alte Volkssturmmänner und Burschen, die Störtebeker glichen. Enttäuscht klapperte ich mich die Allee bis zum halbzerstörten Cafe Vier Jahreszeiten hinauf, fand nur widerstrebend zurück und hatte, als ich beim Grab der Mutter Truczinski stand und mit Maria Efeu und Laub über den Hügel streute, immer noch die feste und detaillierte Vorstellung einer hängenden Luzie.
Den Tafelwagen der Witwe Greff brachten wir nicht mehr in den Gemüseladen. Matzerath und der alte Heilandt nahmen ihn auseinander, stellten die Einzelteile vor den Ladentisch, und der Kolonialwarenhändler sagte zu dem alten Mann, dem er drei Päckchen Derby-Zigaretten einsteckte:
»Vielleicht brauchen wir den Wagen nochmal. Hier ist er einigermaßen sicher.«
Der alte Heilandt sagte nichts, griff sich aber mehrere Pakete Nudeln und zwei Tüten Zucker aus den fast leeren Regalen. Dann schlurfte er mit seinen Filzpantoffeln, die er während des Begräbnisses, auch auf dem Hin-und Rückweg angehabt hatte, aus dem Laden und überließ es Matzerath, den kümmerlichen Warenrest aus den Regalen in den Keller zu räumen.
Wir kamen jetzt kaum noch raus aus dem Loch. Es hieß, die Russen seien schon in Zigankenberg, Pietzgendorf und vor Schidlitz. Jedenfalls mußten sie auf den Höhen sitzen, denn sie schössen schnurstracks in die Stadt. Rechtstadt, Altstadt, Pfefferstadt, Vorstadt, Jungstadt, Neustadt und Niederstadt, an denen zusammen man über siebenhundert Jahre lang gebaut hatte, brannten in drei Tagen ab. Das war aber nicht der erste Brand der Stadt Danzig. Pommerellen, Brandenburger, Ordensritter, Polen, Schweden und nochmals Schweden, Franzosen, Preußen und Russen, auch Sachsen hatten zuvor schon, Geschichte machend, alle paar Jahrzehnte die Stadt verbrennenswert gefunden — und nun waren es Russen, Polen, Deutsche und Engländer gemeinsam, die die Ziegel gotischer Backsteinbaukunst zum hundertstenmal brannten, ohne dadurch Zwieback zu gewinnen. Es brannten die Häkergasse, Langgasse, Breitgasse, Große und Kleine Wollwebergasse, es brannten die Tobiasgasse, Hundegasse, der Altstädtische Graben, Vorstädtische Graben, die Wälle brannten und die Lange Brücke. Das Krantor war aus Holz und brannte besonders schön. In der Kleinen Hosennähergasse ließ sich das Feuer für mehrere auffallend grelle Hosen Maß nehmen. Die Marienkirche brannte von innen nach außen und zeigte Festbeleuchtung durch Spitzbogenfenster. Die restlichen, noch nicht evakuierten Glocken von Sankt Katharinen, Sankt Johann, Sankt Brigitten, Barbara, Elisabeth, Peter und Paul, Trinitatis und Heiliger Leichnam schmolzen in Turmgestühlen und tropften sang-und klanglos. In der Großen Mühle wurde roter Weizen gemahlen. In der Fleischergasse roch es nach verbranntem Sonntagsbraten. Im Stadttheater wurden Brandstifters Träume, ein doppelsinniger Einakter, uraufgeführt. Im Rechtstädtischen Rathaus beschloß man, die Gehälter der Feuerwehrleute nach dem Brand rückwirkend heraufzusetzen. Die Heilige-Geist-Gasse brannte im Namen des Heiligen Geistes. Freudig brannte das Franziskanerkloster im Namen des Heiligen Franziskus, der ja das Feuer liebte und ansang. Die Frauengasse entbrannte für Vater und Sohn gleichzeitig. Daß der Holzmarkt, Kohlenmarkt, Heumarkt abbrannten, versteht sich von selbst. In der Brotbänkengasse kamen die Brötchen nicht mehr aus dem Ofen. In der Milchkannengasse kochte die Milch über. Nur das Gebäude der Westpreußischen Feuerversicherung wollte aus rein symbolischen Gründen nicht abbrennen.
Oskar hat sich nie viel aus Bränden gemacht. So wäre ich auch im Keller geblieben, als Matzerath die Treppen hochsprang, um sich vom Dachboden aus das brennende Danzig anzusehen, wenn ich nicht leichtsinnigerweise auf eben jenem Dachboden meine wenigen, leicht brennbaren Habseligkeiten gelagert gehabt hätte. Es galt, meine letzte Trommel aus dem Fronttheatervorrat und meinen Goethe wie Rasputin zu retten. Auch verwahrte ich zwischen den Buchseiten einen hauchdünnen, zart bemalten Fächer, den meine Roswitha, die Raguna, zu Lebzeiten graziös zu bewegen verstanden hatte.
Maria blieb im Keller. Kurtchen jedoch wollte mit mir und Matzerath aufs Dach und das Feuer sehen.
Einerseits ärgerte ich mich über die unkontrollierte Begeisterungsfähigkeit meines Sohnes, andererseits sagte Oskar sich: Er wird es von seinem Urgroßvater, von meinem Großvater, dem Brandstifter Koljaiczek haben. Maria behielt das Kurtchen unten, ich durfte mit Matzerath hinauf, nahm meine Siebensachen an mich, warf einen Blick durch das Trockenbodenfenster und erstaunte über die sprühend lebendige Kraft, zu der sich die altehrwürdige Stadt hatte aufraffen können.
Als Granaten in der Nähe einschlugen, verließen wir den Trockenboden. Später wollte Matzerath noch einmal hinauf, aber Maria verbot es ihm. Er fügte sich, weinte, als er der Witwe Greff, die unten geblieben war, den Brand lang und breit schildern mußte. Noch einmal fand er in die Wohnung, stellte das Radio an: aber es kam nichts mehr. Nicht einmal das Feuer des brennenden Funkhauses hörte man knistern, geschweige denn eine Sondermeldung.
Fast zaghaft wie ein Kind, das nicht weiß, ob es weiterhin an den Weihnachtsmann glauben soll, stand Matzerath mitten im Keller, zog an seinen Hosenträgern, äußerte erstmals Zweifel am Endsieg und nahm sich auf Anraten der Witwe Greff das Parteiabzeichen vom Rockaufschlag, wußte aber nicht, wohin damit; denn der Keller hatte Betonfußboden, die Greffsche wollte ihm das Abzeichen nicht abnehmen, Maria meinte, er solle es in den Winterkartoffeln verbuddeln, aber die Kartoffeln waren dem Matzerath nicht sicher genug, und nach oben zu gehen, wagte er nicht, denn die mußten bald kommen, wenn sie nicht schon da waren, unterwegs waren, kämpften ja schon bei Brenntau und Oliva, als er noch auf dem Dachboden gewesen war, und er bedauerte mehrmals, den Bonbon nicht oben im Luftschutzsand gelassen zu haben, denn wenn die ihn hier unten, mit dem Bonbon in der Hand fanden — da ließ er ihn fallen, auf den Beton, wollte drauftreten und den wilden Mann spielen, doch Kurtchen und ich, wir waren gleichzeitig drüber her, und ich hatte ihn zuerst, hielt ihn auch weiterhin, als das Kurtchen zuschlug, wie es immer zuschlug, wenn es etwas haben wollte, aber ich gab meinem Sohn nicht das Parteiabzeichen, wollte ihn nicht gefährden; denn mit den Russen soll man keine Scherze treiben. Das wußte Oskar noch von seiner Rasputinlektüre her, und ich überlegte mir, während das Kurtchen auf mich einschlug, Maria uns trennen wollte, ob wohl Weißrussen oder Großrussen, ob Kosaken oder Georgier, ob Kalmücken oder gar Krimtataren, ob Ruthenen oder Ukrainer, ob womöglich Kirgisen das Matzerathsche Parteiabzeichen beim Kurtchen fänden, wenn Oskar unter den Schlägen seines Sohnes nachgäbe.
Als Maria uns mit Hilfe der Witwe Greff trennte, hielt ich den Bonbon siegreich in der linken Faust.
Matzerath war froh, daß sein Orden weg war. Maria hatte mit dem heulenden Kurtchen zu tun. Mich stach die offene Nadel in den Handteller. Nach wie vor konnte ich dem Ding keinen Geschmack abgewinnen. Doch als ich dem Matzerath seinen Bonbon gerade hinten, am Rock, wieder ankleben wollte — was ging mich schließlich seine Partei an — da waren sie gleichzeitig über uns im Laden und, was die kreischenden Frauen anging, höchstwahrscheinlich auch in den Nachbarkellern.
Als sie die Falltür hoben, stach mich die Nadel des Abzeichens immer noch. Was blieb mir zu tun übrig, als mich vor Marias zitternde Knie zu hocken und Ameisen auf dem Betonfußboden zu beobachten, deren Heerstraße von den Winterkartoffeln diagonal durch den Keller zu einem Zuckersack führte. Ganz normale, leichtgemischte Russen, schätzte ich, da an die sechs Mann auf der Kellertreppe drängten und über Maschinenpistolen Augen machten. Bei all dem Geschrei wirkte beruhigend, daß sich die Ameisen durch den Auftritt der russischen Armee nicht beeinflussen ließen.
Die hatten nur Kartoffeln und Zucker im Sinn, während jene mit den Maschinenpistolen vorerst andere Eroberungen anstrebten. Daß die Erwachsenen die Hände hochhoben, fand ich normal. Das kannte man aus den Wochenschauen; auch war es nach der Verteidigung der polnischen Post ähnlich ergebungsvoll zugegangen. Warum aber das Kurtchendie Erwachsenen nachäffte, blieb mir unerklärlich. Der hätte sich ein Beispiel an mir, seinem Vater — oder wenn nicht am Vater, dann an den Ameisen nehmen sollen. Da sich sogleich drei der viereckigen Uniformen für die Witwe Greff erwärmten, kam etwas Bewegung in die starre Gesellschaft. Die Greffsche, die solch zügigen Andrang nach so langer Witwenschaft und vorhergehender Fastenzeit kaum erwartet hatte, schrie anfangs noch vor Überraschung, fand sich dann aber schnell in jene, ihr fast in Vergessenheit geratene Lage.
Schon bei Rasputin hatte ich gelesen, daß die Russen die Kinder lieben. In unserem Keller sollte ich es erleben. Maria zitterte ohne Grund und konnte gar nicht begreifen, warum die vier, die nichts mit der Greffschen gemein hatten, das Kurtchen auf ihrem Schoß sitzen ließen, nicht selbst und abwechselnd dort Platz nahmen, vielmehr das Kurtchen streichelten, dadada zu ihm sagten und ihm, auch Maria die Wangen tätschelten.
Mich und meine Trommel nahm jemand vom Beton weg auf den Arm und hinderte mich somit, weiterhin und vergleichsweise die Ameisen zu beobachten und an ihrem Fleiß das Zeitgeschehen zu messen. Mein Blech hing mir vor dem Bauch, und der stämmige, großporige Kerl wirbelte mit dicken Fingern, für einen Erwachsenen nicht einmal ungeschickt, einige Takte, zu denen man hätte tanzen können. Oskar hätte sich gerne revanchiert, hätte gerne einige Kunststückchen aufs Blech gelegt, konnte aber nicht, weil ihn noch immer das Matzerathsche Parteiabzeichen in die linke Handfläche stach.
Fast wurde es friedlich und familiär in unserem Keller. Die Greffsche lag immer stiller werdend unter drei Kerlen abwechselnd, und als einer von denen genug hatte, wurde Oskar von meinem recht begabten Trommler an einen schwitzenden, in den Augen leicht geschlitzten, nehmen wir an, Kalmücken abgegeben. Während er mich links schon hielt, knöpfte er sich rechts die Hose zu und nahm keinen Anstoß daran, daß sein Vorgänger, mein Trommler, das Gegenteil tat. Dem Matzerath jedoch bot sich kaum Abwechslung. Immer noch stand er vor dem Regal mit den Weißblechdosen voller Leipziger Allerlei, hielt die Hände hoch, zeigte alle Handlinien; doch niemand wollte ihm aus der Hand lesen. Hingegen erwies sich die Auffassungsgabe der Frauen als erstaunlich: Maria lernte die ersten Worte Russisch, zitterte nicht mehr mit den Knien, lachte sogar und hätte auf ihrer Mundharmonika spielen können, wäre die Maultrommel greifbar gewesen.
Oskar jedoch, der sich nicht so schnell umstellen konnte, verlegte sich, Ersatz für seine Ameisen suchend, auf das Beobachten mehrerer platter, graubräunlicher Tiere, die sich auf dem Kragenrand meines Kalmücken ergingen. Gerne hätte ich solch eine Laus gefangen und untersucht, weil auch in meiner Lektüre, weniger bei Goethe, um so häufiger bei Rasputin von Läusen die Rede war. Weil ich aber mit einer einzigen Hand den Läusen schlecht beikommen konnte, trachtete ich, das Parteiabzeichen loszuwerden. Und um meine Handlungsweise zu erklären, sagt Oskar: Da der Kalmücke schon mehrere Orden an der Brust hatte, hielt ich jenen mich stechenden und am Läusefangen hindernden Bonbon dem seitwärts von mir stehenden Matzerath mit immer noch geschlossener Hand hin.
Man kann jetzt sagen, das hätte ich nicht tun sollen. Man kann aber auch sagen: Matzerath hätte nicht zuzugreifen brauchen.
Er griff zu. Ich war den Bonbon los. Matzerath erschrak nach und nach, als er das Zeichen seiner Partei zwischen den Fingern spürte. Mit nunmehr freien Händen wollte ich nicht Zeuge sein, was Matzerath mit dem Bonbon tat. Zu zerstreut, um den Läusen nachgehen zu können, wollte Oskar sich abermals auf die Ameisen konzentrieren, bekam aber doch eine rasche Handbewegung Matzeraths mit, sagt jetzt, da ihm nicht einfällt, was er damals dachte: Es wäre vernünftiger gewesen, das bunte runde Ding ruhig in der geschlossenen Hand zu halten.
Er aber wollte es loswerden und fand trotz seiner oft erprobten Phantasie als Koch und Dekorateur des Kolonialwarenladenschaufensters kein anderes Versteck als seine Mundhöhle.
Wie wichtig solch eine kurze Handbewegung sein kann! Von der Hand in den Mund, das reichte aus, die beiden Iwans, die links und rechts friedlich neben Maria gesessen hatten, zu erschrecken und von dem Luftschutzbett aufzujagen. Mit Maschinenpistolen standen sie vor Matzeraths Bauch, und jedermann konnte sehen, daß Matzerath versuchte, etwas zu verschlucken.
Hätte er doch zuvor wenigstens mit drei Fingern die Nadel des Parteiabzeichens geschlossen. Nun würgte er an dem sperrigen Bonbon, lief rot an, bekam dicke Augen, hustete, weinte, lachte und konnte bei all den gleichzeitigen Gemütsbewegungen die Hände nicht mehr oben behalten. Das jedoch duldeten die Iwans nicht. Sie schrien und wollten wieder seine Handteller sehen. Aber Matzerath hatte sich vollkommen auf seine Atmungsorgane eingestellt. Selbst husten konnte er nicht mehr richtig, geriet aber ins Tanzen und Armeschleudern, fegte einige Weißblechdosen voller Leipziger Allerlei vom Regal und bewirkte, daß mein Kalmücke, der bisher ruhig und leichtgeschlitzt zugesehen hatte, mich behutsam absetzte, hinter sich langte, etwas in die Waagerechte brachte und aus der Hüfte heraus schoß, ein ganzes Magazin leerschoß, schoß, bevor Matzerath ersticken konnte.
Was man nicht alles tut, wenn das Schicksal seinen Auftritt hat! Während mein mutmaßlicher Vater die Partei verschluckte und starb, zerdrückte ich, ohne es zu merken oder zu wollen, zwischen den Fingern eine Laus, die ich dem Kalmücken kurz zuvor abgefangen hatte. Matzerath hatte sich quer über die Ameisenstraße fallen lassen. Die Iwans verließen den Keller über die Treppe zum Laden und nahmen einige Päckchen Kunsthonig mit. Mein Kalmücke ging als letzter,griff aber keinen Kunsthonig, weil er ein neues Magazin in seine Maschinenpistole stecken mußte. Die Witwe Greff hing offen und verdreht zwischen Margarinekisten. Maria hielt das Kurtchen an sich, als wollte sie es erdrücken. Mir ging ein Satzgebilde durch den Kopf, das ich bei Goethe gelesen hatte. Die Ameisen fanden eine veränderte Situation vor, scheuten aber den Umweg nicht, bauten ihre Heerstraße um den gekrümmten Matzerath herum; denn jener aus dem geplatzten Sack rieselnde Zucker hatte während der Besetzung der Stadt Danzig durch die Armee Marschall Rokossowskis nichts von seiner Süße verloren.
SOLL ICH ODER SOLL ICH NICHT
Zuerst kamen die Rugier, dann kamen die Goten und Gepiden, sodann die Kaschuben, von denen Oskar in direkter Linie abstammt.Bald darauf schickten die Polen den Adalbert von Prag. Der kam mit dem Kreuz und wurde von Kaschuben oder Pruzzen mit der Axt erschlagen. Das geschah in einem Fischerdorf, und das Dorf hieß Gyddanyzc. Aus Gyddanyzc machte man Danczik, aus Danczik wurde Dantzig, das sich später Danzig schrieb, und heute heißt Danzig Gdansk.
Bis man jedoch zu dieser Schreibart gefunden hatte, kamen nach den Kaschuben die Herzöge von Pommerellen nach Gyddanyzc. Die hatten Namen wie: Subislaus, Sambor, Mestwin und Swantopolk.
Aus dem Dorf wurde ein Städtchen. Dann kamen die wilden Pruzzen und zerstörten die Stadt ein bißchen. Dann kamen die Brandenburger von weit her und zerstörten gleichfalls ein bißchen. Auch Boles aw von Polen wollte ein bißchen zerstören, und der Ritterorden sorgte gleichfalls dafür, daß die kaum ausgebesserten Schäden unter den Ritterschwertern wieder deutlich wurden.
Ein zerstörerisches und wiederaufbauendes Spielchen treibend wechselten sich jetzt mehrere Jahrhunderte lang die Herzöge von Pommerellen, die Hochmeister des Ritterordens, die Könige und Gegenkönige von Polen, Grafen von Brandenburg und die Bischöfe von W oc awek ab. Baumeister und Abbruchunternehmer hießen: Otto und Waldemar, Bogussa, Heinrich von Plotzke — und Dietrich von Altenberg, der die Ritterburg dorthin baute, wo man im zwanzigsten Jahrhundert, am Heveliusplatz die Polnische Post verteidigte.
Es kamen die Hussiten, machten hier und da ein Feuerchen und zogen wieder ab. Dann warf man die Ordensritter aus der Stadt, brach die Burg ab, weil man in der Stadt keine Burg haben wollte. Man wurde polnisch und fuhr nicht schlecht dabei. Der König, der das erreichte, hieß Kazimierz, wurde der Große genannt und war der Sohn des ersten W adys aw. Dann kam Ludwig und nach dem Ludwig die Hedwig. Die heiratete den Jagie o von Litauen, und es begann die Zeit der Jagiellonen. Auf W adys aw den Zweiten folgte ein dritter W adys aw, dann wieder mal ein Kazimierz, der aber keine rechte Lust hatte und dennoch dreizehn Jahre lang gutes Danziger Kaufmannsgeld im Krieg gegen den Ritterorden verpulverte. Johann Albrecht hatte dagegen mehr mit den Türken zu tun. Dem Alexander folgte Sigismund der Alte oder auch Zygmunt Stary genannt. Dem Geschichtsbuchkapitel über Sigismund August folgt das Kapitel über jenen Stefan Batory, nach dem die Polen gerne ihre Ozeandampfer benennen. Der belagerte, beschoß die Stadt längere Zeit — wie man nachlesen kann — konnte sie aber nicht einnehmen. Dann kamen die Schweden und benahmen sich auch so. Denen machte das Belagern der Stadt einen solchen Spaß, daß sie es gleich mehrmals wiederholten. Auch gefiel zu jener Zeit Holländern, Dänen, Engländern die Danziger Bucht so gut, daß es mehreren ausländischen auf der Danziger Reede kreuzenden Schiffskapitänen gelang, zu Seehelden zu werden.
Der Friede zu Oliva. — Wie hübsch und friedlich das klingt. Dort bemerkten die Großmächte zum erstenmal, daß sich das Land der Polen wunderbar fürs Aufteilen eignet. Schweden, Schweden, nochmals Schweden — Schwedenschanze, Schwedentrunk, Schwedensprung. Dann kamen die Russen und die Sachsen, weil sich in der Stadt der arme Polenkönig Stanislaw Leszczynski verbarg. Wegen des einen einzigen Königs wurden tausendachthundert Häuser zerstört, und als der arme Leszczynski nach Frankreich floh, weil dort sein Schwiegersohn Ludwig wohnte, mußten die Bürger der Stadt eine Million blechen.
Dann wurde Polen dreimal geteilt. Die Preußen kamen ungerufen und übermalten an allen Stadttoren den polnischen Königsadler mit ihrem Vogel. Es hatte der Schulmeister Johannes Falk gerade noch Zeit, das Weihnachtslied »O du fröhliche...« zu dichten, dann kamen die Franzosen. Napoleons General hieß Rapp, und an den mußten die Danziger nach einer elenden Belagerung zwanzig Millionen Franken berappen. Daß die Franzosenzeit eine schreckliche Zeit war, muß nicht unbedingt bezweifelt werden. Sie dauerte aber nur. sieben Jahre. Da kamen die Russen und Preußen und schossen die Speicherinsel in Brand. Schluß war es mit dem Freistaat, den sich Napoleon ausgedacht hatte. Abermals fanden die Preußen Gelegenheit, ihren Vogel an alle Stadttore zu pinseln, besorgten das auch fleißig-und legten erst einmal auf preußische Art das 4. Grenadier-Regiment, die 1. Artillerie-Brigade, die 1 . Pionier-Abteilung und das 1. Leibhusarenregiment in die Stadt. Nur vorübergehend hielten sich in Danzig das 30. Infanterieregiment, das 18. Infanterieregiment, das 3. Garderegiment zu Fuß, das 44. Infanterieregiment und das Füsilierregiment Numero 33 auf. Hingegen zog jenes berühmte Infanterieregiment Numero 128 erst im Jahre neunzehnhundertzwanzig ab. Um nichts auszulassen, sei noch berichtet, daß während preußischer Zeit die 1. Artillerie-Brigade zur 1.
Festungsabteilung und zur 2. Fußabteilung des ostpreußischen Artillerieregiments Numero 1 erweitert wurde. Dazu kam noch das pommersche Fußartillerieregiment Numero 2, welches später durch das westpreußische Fußartillerieregiment Numero 16 abgelöst wurde. Dem 1. Leibhusarenregiment folgte das 2. Leibhusarenregiment. Hingegen hielt sich das 8. Ulanenregiment nur kurze Zeit in den Mauern der Stadt auf. Dafür wurde außerhalb der Mauern im Vorort Langfuhr das westpreußische Train-Bataillon Numero 17 kaserniert.
Zu Burckhardts, Rauschnings und Greisers Zeiten gab es im Freistaat nur die grüne Schutzpolizei. Das wurde neununddreißig unter Forster anders. Da waren alle Backsteinkasernen wieder voller fröhlich lachender Männer in Uniform, die mit allen Waffen jonglierten. Nun könnte man aufzählen, wie alle die Einheiten hießen, die von neununddreißig bis fünfundvierzig in Danzig und Umgebung lagen oder in Danzig zur Eismeerfront eingeschifft wurden. Das jedoch unterläßt Oskar und sagt schlicht: dann kam, wie wir erfahren haben, der Marschall Rokossowski. Der erinnerte sich beim Anblick der heilen Stadt an seine großen internationalen Vorgänger, schoß erst einmal alles in Brand, damit sich jene, die nach ihm kamen, im Wiederaufbau austoben konnten.
Merkwürdigerweise kamen diesmal nach den Russen keine Preußen, Schweden, Sachsen oder Franzosen; es kamen die Polen.
Mit Sack und Pack kamen die Polen aus Wilna, Bia ystok und Lemberg und suchten sich Wohnungen.
Zu uns kam ein Herr, der sich Fajngold nannte, alleinstehend war, doch immer so tat, als umgäbe ihn eine vielköpfige Familie, welcher er Anweisungen zu geben hätte. Herr Fajngold übernahm sofort das Kolonialwarengeschäft, zeigte seiner Frau Luba, die aber weiterhin unsichtbar blieb und auch keine Antworten gab, die Dezimalwaage, den Petroleumtank, die Wurststange aus Messing, die leere Kasse und hocherfreut die Vorräte im Keller. Maria, die er sofort als Verkäuferin eingestellt und seiner imaginären Frau Luba wortreich präsentiert hatte, zeigte dem Herrn Fajngold unseren Matzerath, der schon seit drei Tagen unter einer Zeltplane im Keller lag, weil wir ihn der vielen Russen wegen, die auf den Straßen überall Fahrräder, Nähmaschinen und Frauen ausprobierten, nicht beerdigen konnten.
Als Herr Fajngold die Leiche sah, die wir auf den Rücken gedreht hatten, schlug er die Hände auf ähnliche Art ausdrucksvoll über dem Kopf zusammen, wie Oskar es vor Jahren bei seinem Spielzeughändler Sigismund Markus beobachtet hatte. Seine ganze Familie, nicht nur die Frau Luba, rief er in den Keller, und sicherlich sah er alle kommen, denn er nannte sie beim Namen, sagte Luba, Lew, Jakub, Berek, Leon, Mendel und Zonja, erklärte den Genannten, wer da liege und tot sei, und erklärte gleich darauf uns, daß alle, die er soeben gerufen habe, auch so dalagen, bevor sie in die Öfen von Treblinka kamen, dazu noch seine Schwägerin und der Schwägerin Schwestermann, der fünf Kinderchen hatte, und alle lagen, nur er, der Herr Fajngold, lag nicht, weil er Chlor streuen mußte.
Dann half er uns, den Matzerath die Treppe hoch in den Laden tragen, hatte aber schon wieder seine Familie um sich, bat seine Frau Luba, doch der Maria beim Waschen der Leiche zu helfen. Die half aber nicht, was dem Herrn Fajngold weiter nicht auffiel, weil er die Vorräte aus dem Keller in den Laden schaffte. Auch ging uns die Greffsche, die ja Mutter Truczinski gewaschen hatte, diesmal nicht zur Hand, denn die hatte die Wohnung voller Russen; man hörte sie singen.
Der alte Heilandt, der schon während der ersten Besatzungstage als Schuhmacher Arbeit fand und Russenstiefel besohlte, die während des Vormarsches durchgelaufen worden waren, wollte sich zuerst nicht als Sargschreiner betätigen. Doch als Herr Fajngold mit ihm ins Geschäft kam und für einen Elektromotor aus dem Schuppen des alten Heilandt Derbyzigaretten aus unserem Geschäft anbot, legte er die Stiefel zur Seite, nahm anderes Werkzeug und seine letzten Kistenbretter.
Wir wohnten damals, bevor wir auch dort ausgewiesen wurden und Herr Fajngold uns den Keller überließ, in Mutter Truczinskis von Nachbarn und zugereisten Polen völlig ausgeräumter Wohnung.
Der alte Heilandt nahm die Tür von der Küche zum Wohnzimmer aus den Angeln, da die Tür vom Wohnzimmer zum Schlafzimmer für Mutter Truczinskis Sarg hergehalten hatte. Unten, auf dem Hof rauchte er Derbyzigaretten und zimmerte die Kiste zusammen. Wir blieben oben, und ich nahm mir den einzigen Stuhl, den man der Wohnung gelassen hatte, stieß die zerscherbten Fenster auf und ärgerte mich über den Alten, der die Kiste ohne jede Sorgfalt und ohne die vorschriftsmäßige Verjüngung zusammenkloppte.
Oskar sah Matzerath nicht mehr, denn als man die Kiste auf den Tafelwagen der Witwe Greff hob, waren Vitellos Margarinekistendeckel schon draufgenagelt, obgleich Matzerath zu Lebzeiten Margarine nicht nur nicht gegessen, sondern auch für Kochzwecke verabscheut hatte.
Maria bat den Herrn Fajngold um seine Begleitung, da sie die russischen Soldaten auf den Straßen fürchtete. Fajngold, der auf dem Ladentisch mit untergeschlagenen Beinen hockte und Kunsthonig aus einem Pappbecher löffelte, äußerte zuerst Bedenken, fürchtete das Mißtrauen seiner Frau Luba, erhielt dann wohl von seiner Gattin die Erlaubnis zum Mitgehen, denn er rutschte vom Ladentisch, gab mir den Kunsthonig, ich gab ihn an Kurtchen weiter, der das Zeug auch restlos vertilgte, während Herr Fajngold sich von Maria in einen langen schwarzen Mantel mit grauem Kaninchenfell helfen ließ.
Bevor er den Laden abschloß und seine Frau bat, niemandem zu öffnen, stellte er sich unter einen ihm zu kleinen Zylinderhut, den vormals Matzerath bei diversen Begräbnissen und Hochzeiten getragen hatte.
Der alte Heilandt weigerte sich, den Tafelwagen bis zu den Städtischen Friedhöfen zu ziehen. Er habe noch Stiefel zu besohlen, sagte er, und müsse es kurz machen. Am Max-Halbe-Platz, dessen Trümmer immer noch qualmten, bog er links in den Brösener Weg ein, und ich ahnte, daß es in Richtung Saspe ging. Die Russen saßen vor den Häusern in der dünnen Februarsonne, sortierten Armband-und Taschenuhren, putzten mit Sand Silberlöffel, benutzten Büstenhalter als Ohrenwärmer, übten Kunstfahren auf Fahrrädern, hatten sich ein Hindernisgelände aus Ölgemälden, Standuhren, Badewannen, Radioapparaten und Garderobeständern aufgebaut, radelten dazwischen Achten, Schnecken, Spiralen, wichen Gegenständen wie Kinderwagen und Hängelampen, die aus den Fenstern geworfen wurden, geistesgegenwärtig aus und wurden für ihre Geschicklichkeit mit Beifall bedacht.
Wo wir vorbeifuhren, hörte das Spiel für Sekunden auf. Einige mit Frauenwäsche über der Uniform halfen uns schieben, wollten auch nach Maria greifen, wurden aber von Herrn Fajngold, der Russisch sprach und einen Ausweis hatte, zurechtgewiesen. Ein Soldat mit Damenhut schenkte uns einen Vogelbauer mit einem lebenden Wellensittich auf der Stange. Das Kurtchen, das neben dem Wagen hüpfte, wollte die bunten Federn sogleich greifen und ausreißen. Maria, die das Geschenk nicht zurückzuweisen wagte, hob den Käfig aus Kurtchens Reichweite zu mir auf den Tafelwagen. Oskar, dem der Wellensittich zu bunt war, stellte den Käfig mit Vogel auf Matzeraths vergrößerte Margarinekiste. Ganz hinten saß ich, ließ die Beine baumeln und blickte in das Gesicht des Herrn Fajngold, das faltig, nachdenklich bis grämlich den Eindruck erweckte, der Herr überprüfe hinter der Stirn eine komplizierte Rechnung, die ihm nicht aufgehen wollte.
Ich schlug ein bißchen auf mein Blech, machte es heiter, wollte die trüben Gedanken des Herrn Fajngold verscheuchen. Aber er bewahrte sich seine Falten, hatte seinen Blick ich weiß nicht wo, womöglich im fernen Galizien; nur meine Trommel sah er nicht. Da gab Oskar es auf, ließ nur noch die Räder des Handwagens und Marias Weinen laut werden.
Welch ein milder Winter, dachte ich, als wir die letzten Langfuhrer Häuser hinter uns hatten, nahm auch einige Notiz von dem Wellensittich, der sich angesichts jener nachmittäglich über dem Flugplatz stehenden Sonne plusterte.
Das Flugfeld war bewacht, die Straße nach Brösen gesperrt. Ein Offizier sprach mit dem Herrn Fajngold, der während der Unterredung den Zylinderhut zwischen gespreizten Fingern hielt und dünnes, rotblond wehendes Haar zeigte. Kurz und wie prüfend an Matzeraths Kiste klopfend, den Wellensittich mit dem Finger neckend, ließ der Offizier uns passieren, gab aber zwei höchstens sechzehnjährige Burschen mit zu kleinen Käppis und zu großen Maschinenpistolen als Bewachung oder Begleitung mit.
Der alte Heilandt zog, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Auch verstand er es, Zigaretten während des Ziehens, ohne den Wagen bremsen zu müssen, mit einer Hand anzuzünden. In der Luft hingen Flugzeuge. Man hörte die Motoren so deutlich, weil es Ende Februar, Anfang März war. Nur bei der Sonne hielten sich einige Wölkchen auf und verfärbten sich nach und nach. Die Bomber flogen gen Hela oder kamen von der Halbinsel Hela zurück, weil dort noch Reste der zweiten Armee kämpften.
Mich machten Wetter und Flugzeuggebrumm traurig. Es gibt nichts Langweiligeres, den Überdruß mehr Förderndes als ein wolkenloser Märzhimmel voller bald laut, bald ersterbend brummender Flugzeuge. Dazu kam, daß die beiden Jungrussen sich während des ganzen Weges vergeblich Mühe gaben, Gleichschritt zu halten.
Vielleicht hatten sich einige Bretter der schnellgezimmerten Kiste während der Fahrt, erst über Kopfsteinpflaster, dann über Asphalt mit Schlaglöchern gelockert, auch fuhren wir gegen den Wind; jedenfalls roch es nach totem Matzerath, und Oskar war froh, als wir den Friedhof Saspe erreichten.
Wir konnten nicht bis auf die Höhe des schmiedeeisernen Gitters heranfahren, da ein quergestellter, ausgebrannter T34 die Straße kurz vor dem Friedhof sperrte. Andere Panzer hatten auf dem Marsch in Richtung Neufahrwasser einen Umweg machen müssen, hatten ihre Spuren im Sand links von der Straße hinterlassen und einen Teil der Friedhofsmauer niedergewalzt. Herr Fajngold bat den alten Heilandt, hinten zu gehen. Sie trugen den Sarg, der sich leicht in der Mitte bog, den Panzerspuren nach, dann mühevoll über das Geröll der Friedhofsmauer und mit letzter Kraft ein Stück zwischen gestürzte und auf der Kippe stehende Grabsteine. Der alte Heilandt saugte süchtig an seiner Zigarette und stieß den Rauch gegen das Sargende. Ich trug den Käfig mit dem Wellensittich auf der Stange.
Maria zog zwei Schaufeln hinter sich her. Kurtchen trug eine Kreuzhacke, das heißt, er schwang sie um sich, schlug auf dem Friedhof, sich in Gefahr bringend, gegen den grauen Granit, bis Maria ihm die Hacke wegnahm, um, kräftig wie sie war, den beiden Männern beim Graben zu helfen.
Wie gut, daß der Boden hier sandig und nicht gefroren ist, stellte ich fest und suchte hinter der nördlichen Mauer Jan Bronskis Stelle. Hier oder da mochte es gewesen sein. Genaues ließ sich nicht mehr feststellen, da die wechselnden Jahreszeiten den ehemaligen verräterisch frischen Kalkanstrich grau und mürbe wie alles Mauerwerk auf Saspe gemacht hatten.
Durch die hintere Gittertür fand ich wieder zurück, schickte den Blick an den Krüppelkiefern hoch und dachte, um nichts Belangloses denken zu müssen: nun begraben sie auch den Matzerath. Auchsuchte und fand ich teilweise einen Sinn in dem Umstand, daß hier unter demselben Sandboden die beiden Skatbrüder Bronski und Matzerath, wenn auch ohne meine arme Mama liegen sollten.
Begräbnisse erinnern immer an andere Begräbnisse!
Der Sandboden wollte bewältigt werden, verlangte wohl geübtere Totengräber. Maria machte eine Pause, hielt sich schwer atmend an der Spitzhacke und begann wieder zu weinen, als sie das Kurtchen sah, das auf weite Distanz mit Steinen nach dem Wellensittich im Käfig warf. Kurtchen traf nicht, warf zu weit, Maria weinte kräftig und echt, weil sie den Matzerath verloren hatte, weil sie in dem Matzerath etwas gesehen hatte, was er, meiner Meinung nach, kaum darstellte, was ihr aber fortan dennoch deutlich und liebenswert bleiben sollte. Trost sprechend benutzte Herr Fajngold die Gelegenheit für eine Pause, denn das Graben setzte ihm zu. Der alte Heilandt schien Gold zu suchen, so gleichmäßig führte er die Schaufel, warf den Aushub hinter sich und stieß auch den Zigarettenrauch in bemessenen Abständen aus. Etwas entfernt saßen die beiden Jungrussen auf der Friedhofsmauer und schwatzten gegen den Wind. Dazu Flugzeuge und eine Sonne, die immer reifer wurde.
Sie mochten einen Meter tief gegraben haben, und Oskar stand müßig und ratlos zwischen altem Granit, zwischen Krüppelkiefern, zwischen der Witwe Matzeraths und einem Kurtchen, das nach dem Wellensittich warf.
Soll ich oder soll ich nicht? Du bist im einundzwanzigsten Lebensjahr, Oskar. Sollst du oder sollst du nicht? Ein Waisenkind bist du. Du solltest endlich. Seit deine arme Mama nicht mehr ist, bist du eine Halbwaise. Schon damals hättest du dich entscheiden sollen. Dann legten sie deinen mutmaßlichen Vater Jan Bronski dicht unter die Erdkruste. Mutmaßliche Vollwaise warst du, standest hier, auf diesem Sand, der Saspe heißt, und hieltest eine leicht oxydierte Patronenhülse. Es regnete und eine Ju 52 setzte zur Landung an. Wurde nicht schon damals, wenn nicht im Regengeräusch, dann im Gedröhn der landenden Transportmaschine dieses »Soll ich, soll ich nicht« deutlich? Du sagtest dir, das ist der Regen, und das sind Motorengeräusche; derlei Monotonie kann man jeden Text unterschieben. Du wolltest es noch deutlicher haben und nicht nur mutmaßlich.
Soll ich oder soll ich nicht? Jetzt machen sie ein Loch für Matzerath, deinen zweiten mutmaßlichen Vater. Mehr mutmaßliche Väter gibt es deines Wissens nach nicht. Warum jonglierst du dennoch mit zwei glasgrünen Flaschen: soll ich, soll ich nicht? Wen willst du noch befragen? Die Krüppelkiefern, die sich selbst fragwürdig sind?
Da fand ich ein mageres gußeisernes Kreuz mit mürben Schnörkeln und verkrusteten Buchstaben wie: Mathilde Kunkel — oder Runkel. Da fand ich — soll ich oder soll ich nicht — im Sand zwischen Disteln und Strandhafer — soll ich — drei oder vier — soll ich nicht — tellergroße, bröckelnd rostige Metallkränze, die vormals — soll ich — vielleicht Eichenlaub oder Lorbeer dargestellt hatten — soll ich etwa nicht — wog die in der Hand — soll ich etwa doch — zielte — soll ich — das überragende Kreuzende — oder nicht — hatte einen Durchmesser von — soll ich — vielleicht vier Zentimetern — nicht — einen Abstand von zwei Metern befahl ich mir — soll ich — und warf — nicht — daneben — soll ich abermals — zu schief stand das Eisenkreuz — soll ich — Mathilde Kunkel oder hieß sie Runkel — soll ich Runkel, soll ich Kunkel — das war der sechste Wurf und sieben gestand ich mir zu und sollte sechsmal nicht und warf sieben — sollte, hing ihn über — bekränzte Mathilde — sollte — Lorbeer für Fräulein Kunkel — soll ich? fragte ich die junge Frau Runkel — ja, sagte Mathilde; sie starb sehr früh, im Alter von siebenundzwanzig Jahren und achtundsechzig geboren. Ich aber stand im einundzwanzigsten Lebensjahr, als mir der Wurf beim siebenten Versuch glückte, als ich jenes —
»Soll ich, soll ich nicht?« — in ein bewiesenes, bekränztes, gezieltes, gewonnenes »Ich soll!« vereinfachte.
Und als Oskar mit dem neuen »Ich soll!« auf der Zunge und »Ich soll!« im Herzen zu den Totengräbern hinstrebte, da knarrte der Wellensittich, weil Kurtchen ihn getroffen hatte, und ließ blaugelbe Federn. Ich fragte mich, welche Fragestellung wohl meinen Sohn bewogen haben mochte, so lange mit kleinen Steinen nach einem Wellensittich zu werfen, bis ihm ein letzter Treffer Antwort gab.
Sie hatten die Kiste neben das etwa einszwanzig tiefe Grab geschoben. Der alte Heilandt hatte es eilig, mußte aber warten, weil Maria katholisch betete, weil der Herr Fajngold den Zylinder vor der Brust hielt und mit den Augen in Galizien war. Auch Kurtchen kam jetzt näher heran. Wahrscheinlich hatte er nach seinem Treffer einen Entschluß gefaßt und näherte sich aus diesen oder jenen Gründen, doch ähnlich entschlossen wie Oskar, dem Grab.
Mich quälte diese Ungewißheit. War es doch mein Sohn, der sich für oder gegen etwas entschieden hatte. Hatte er sich entschlossen, nun endlich in mir den einzig wahren Vater zu erkennen und zu lieben? Entschloß er sich etwa jetzt, da es zu spät war, zur Blechtrommel? Oder hieß sein Entschluß: Tod meinem mutmaßlichen Vater Oskar, der meinen mutmaßlichen Vater Matzerath nur deshalb mit einem Parteiabzeichen tötete, weil er die Väter satt hatte? Konnte auch er kindliche Zuneigung, wie sie zwischen Vätern und Söhnen erstrebenswert sein sollte, nicht anders als im Totschlag äußern?
Während der alte Heilandt die Kiste mit Matzerath und dem Parteiabzeichen in Matzeraths Luftröhre, mit der Munition einer russischen Maschinenpistole in Matzeraths Bauch mehr ins Grab stürzte als hinabließ, gestand Oskar sich ein, daß er Matzerath vorsätzlich getötet hatte, weil jener aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur sein mutmaßlicher, sondern sein wirklicher Vater war; auch weil er es satt hatte, sein Leben lang einen Vater mit sich herumschleppen zu müssen.So stimmte es auch nicht, daß die Nadel des Parteiabzeichens schon offen war, als ich mir den Bonbon vom Betonfußboden klaubte. Aufgemacht wurde die Nadel erst in meiner geschlossenen Hand. Sperrig und stechend gab ich den klebenden Bonbon an Matzerath ab, damit sie den Orden bei ihm finden konnten, damit er sich die Partei auf die Zunge legte, damit er daran erstickte — an der Partei, an mir, an seinem Sohn; denn das mußte ein Ende haben!
Der alte Heilandt begann zu schaufeln. Das Kurtchen half ihm ungeschickt, doch eifrig dabei. Ich habe Matzerath nie geliebt. Manchmal mochte ich ihn. Er sorgte für mich mehr als Koch denn als Vater. Er war ein guter Koch. Wenn ich heute Matzerath manchmal vermisse, sind es seine Königsberger Klopse, seine sauren Schweinenieren, sein Karpfen mit Rettich und Sahne, seine Gerichte wie: Aalsuppe mit Grün, Kassler Rippchen mit Sauerkraut und all seine unvergeßlichen Sonntagsbraten, die ich noch immer auf der Zunge und zwischen den Zähnen habe. Man hatte vergessen, ihm, der Gefühle in Suppen verwandelte, einen Kochlöffel in den Sarg zu legen. Man hatte vergessen, ihm ein Spiel Skatkarten in den Sarg zu legen. Er kochte besser, als er Skat spielte. Dennoch spielte er besser als Jan Bronski und fast so gut wie meine arme Mama. Das war sein Vermögen, das war seine Tragik.
Maria habe ich ihm nie verzeihen können, obgleich er sie gut behandelt, nie geschlagen und meistens nachgegeben hatte, wenn sie einen Streit vom Zaune brach. Auch gab er mich nicht ans Reichsgesundheitsministerium ab und unterschrieb den Brief erst, als keine Post mehr ausgetragen wurde. Bei meiner Geburt unter den Glühbirnen bestimmte er mich fürs Geschäft. Um nicht hinter dem Ladentisch stehen zu müssen, stellte sich Oskar über siebzehn Jahre lang hinter ungefähr hundert weißrot gelackte Blechtrommeln. Jetzt lag Matzerath und konnte nicht mehr stehen. Der alte Heilandt schippte ihn zu und rauchte dabei Matzeraths Derbyzigaretten. Oskar hätte jetzt das Geschäft übernehmen sollen. Aber inzwischen hatte Herr Fajngold mit seiner vielköpfigen unsichtbaren Familie das Geschäft übernommen. Der Rest fiel mir zu: Maria, Kurtchen und die Verantwortung für alle beide.
Maria weinte und betete immer noch echt und katholisch. Herr Fajngold weilte in Galizien oder löste knifflige Rechenaufgaben. Kurtchen ermüdete, schaufelte aber unentwegt. Auf der Friedhofsmauer saßen die schwatzenden Jungrussen. Gleichmäßig mürrisch kippte der alte Heilandt den Sand des Friedhofes Saspe auf die Margarinekistenbretter. Drei Buchstaben des Wortes Vitello konnte Oskar noch lesen, da nahm er sich das Blech vom Hals, sagte nicht mehr »Soll ich oder soll ich nicht?« sondern »Es muß sein!« und warf die Trommel dorthin, wo schon genügend Sand auf dem Sarg lag, damit es nicht so polterte. Ich gab auch die Stöcke dazu. Die blieben im Sand stecken. Das war meine Trommel aus der Stäuberzeit. Aus dem Fronttheatervorrat stammte sie. Bebra schenkte mir die Bleche.
Wie mochte der Meister mein Handeln beurteilen? Jesus hatte auf dem Blech getrommelt und ein kastenförmiger, großporiger Russe. Viel war nicht mehr mit ihr los. Aber als ein Wurf Sand ihre Fläche traf, gab sie Laut. Und beim zweiten Wurf gab sie noch etwas Laut. Und beim dritten Wurf gab sie keinen Laut mehr von sich, zeigte nur noch etwas weißen Lack, bis der Sand auch das gleichmachte mit anderem Sand, mit immer mehr Sand, es vermehrte sich der Sand auf meiner Trommel, häufte sich, wuchs — und auch ich begann zu wachsen, was sich durch heftiges Nasenbluten anzeigte.
Kurtchen bemerkte das Blut zuerst. »Er blutet, blutet!« schrie er und rief den Herrn Fajngold aus Galizien zurück, zog Maria aus dem Gebet, zwang selbst die beiden Jungrussen, die immer noch auf der Mauer saßen und in Richtung Brösen geschwatzt hatten, .zu kurzem schreckhaftem Aufblicken.
Der alte Heilandt ließ die Schaufel im Sand, nahm die Kreuzhacke und legte meinen Nacken auf das blauschwarze Eisen. Die Kühle wirkte sich aus. Das Nasenbluten ließ etwas nach. Der alte Heilandt schippte schon wieder und hatte nicht mehr viel Sand neben dem Grab, da verebbte das Nasenbluten ganz und gar, aber das Wachsen blieb und zeigte sich mir durch inwendiges Knirschen, Rauschen und Knacken an.
Als der alte Heilandt mit dem Grab fertig war, zog er aus einem anderen Grab ein morsches Holzkreuz ohne Inschrift und stieß das in den frischen Hügel ungefähr zwischen Matzeraths Kopf und meine begrabene Trommel. »Färtich!« sagte der Alte und nahm Oskar, der nicht laufen konnte, auf den Arm, trug ihn, zog die anderen, auch die Jungrussen mit Maschinenpistolen vom Friedhof, über die niedergewalzte Mauer, den Panzerspuren entlang zum Handwagen auf den Straßenbahnschienen, wo sich der Panzer quergestellt hatte. Über meine Schulter blickte ich rückwärts gegen den Friedhof Saspe. Maria trug den Käfig mit Wellensittich, Herr Fajngold trug das Werkzeug, Kurtchen trug nichts, die beiden Russen trugen zu kleine Käppis und zu große Maschinenpistolen, die Strandkiefern krümmten sich.
Vom Sand auf die Asphaltstraße. Auf dem Panzerwrack saß Schugger Leo. Hoch oben Flugzeuge, von Hela kommend, nach Hela fliegend. Schugger Leo gab acht, daß er seine Handschuhe nicht an dem ausgebrannten T 34 schwärzte. Die Sonne fiel mit ihren vollgesogenen Wölkchen auf den Turmberg bei Zoppot. Schugger Leo rutschte vom Panzer und hielt sich gerade.
Den alten Heilandt stimmte Schugger Leos Anblick heiter: »Na hätt' man sowas schon jesehen! Dä Wält jeht under, nur dem Schugger Leo kriegen se nich klainjekloppt.« Gutmütig klopfte er mit der freien Hand den schwarzen Bratenrock und klärte den Herrn Fajngold auf: »Das is unser Schugger Leo. Da will uns jetzt bemitleidigen und das Handchen dricken.«So war es dann auch. Leo ließ seine Handschuhe flattern, sagte allen Anwesenden sabbernd, wie es seine Art war, sein Beileid und fragte:
»Habt ihr den Herrn gesehn, habt ihr den Herrn gesehn?« Niemand hatte den gesehn. Maria schenkte Leo, ich weiß nicht warum, den Käfig mit dem Wellensittich.
Als Schugger Leo zu Oskar kam, den der alte Heilandt auf den Handwagen gelegt hatte, fiel ihm das Gesicht auseinander, Winde blähten seine Kleidung. Ein Tanz fuhr ihm in die Beine. »Der Herr, der Herr!« schrie er und schüttelte den Wellensittich im Käfig. »Nu seht den Herrn, wie er wächst, nu seht, wie er wächst!«
Da warf es ihn mitsamt dem Käfig in die Luft, und er lief, flog, tanzte, taumelte, stürzte, verflüchtigte sich mit dem kreischenden Vogel, selber ein Vogel, endlich flügge, flatterte querfeldein Richtung Rieselfelder. Und schreien hörte man ihn durch die Stimmen der beiden Maschinenpistolen hindurch:
»Er wächst, er wächst!« und schrie immer noch, als die beiden Jungrussen nachladen mußten: »Er wächst!« Und selbst als abermals die Maschinenpistolen, als Oskar schon eine stufenlose Treppe hinunter in wachsende, alles aufnehmende Ohnmacht fiel, hörte ich noch den Vogel, die Stimme, den Raben — Leo verkündete: »Er wächst, er wächst, er wächst...«