FORTUNA NORD
Grabsteine konnten sich damals nur Leute leisten, die Wertvolles auf der Erdoberfläche zurückließen.
Es mußte nicht einmal ein Diamant oder eine ellenlange Perlenkette sein. Für fünf Zentner Kartoffeln gab es schon einen ausgewachsenen Meterstein aus Grenzheimer Muschelkalk. Stoff für zwei Anzüge mit Weste brachte uns das Denkmal für ein Doppelgrab aus Belgischem Granit auf drei Sockeln ein.
Die Witwe des Schneiders, die den Stoff hatte, bot uns gegen eine Grabeinfassung aus Dolomit die Verarbeitung des Stoffes an, da sie noch einen Gesellen beschäftigte.
So kam es, daß Korneff und ich nach Feierabend mit der Zehn in Richtung Stockum fuhren, die Witwe Lennert aufsuchten und uns Maß nehmen ließen. Oskar trug damals, lächerlich genug, eine von Maria umgearbeitete Panzerjägeruniform, deren Jacke, obgleich die Knöpfe versetzt waren, meiner besonderen Ausmaße wegen nicht zu schließen war.
Der Geselle, den die Witwe Lennert Anton nannte, baute mir aus dunkelblauem, feingestreiftem Tuch einen Anzug nach Maß: einreihig, aschgrau gefüttert, die Schultern gut, aber nicht falsche Werte schaffend unterarbeitet, der Buckel nicht etwa kaschiert, eher dezent betont, die Hosen mit Umschlag, doch nicht zu weit; es war ja noch immer Meister Bebra mein gutangezogenes Vorbild. Deshalb auch keine Schlaufen für einen Gürtel, sondern Knöpfe für Hosenträger, die Weste hinten blank, vorne matt, altrosa gefuttert. Das Ganze brauchte fünf Anproben.
Noch während der Schneidergeselle über Korneffs zweireihigem und meinem einreihigen Anzug saß, suchte ein Schuhfritze für seine dreiundvierzig durch Bombenschaden zu Tode gekommene Frau einen Meterstein. Der Mann wollte uns erst Bezugscheine bieten, aber wir wollten Ware sehen. Für den Schlesischen Marmor mitKunststeineinfassung und Versetzen bekam Korneff ein Paar dunkelbraune Halbschuhe und ein Paar Pantoffeln mit Ledersohle. Für mich fielen ein'Paar schwarze, wenn auch altmodische, so doch wunderbar weiche Schnürstiefel ab. Größe fünfunddreißig: die gaben meinen schwachen Füßen einen festen und eleganten Halt.
Um Hemden kümmerte sich Maria, der ich ein Bündel Reichsmark auf die Kunsthonigwaage legte:
»Ach würdest du mir zwei weiße Oberhemden, eines mit feinem Streifen, eine hellgraue Krawatte und eine maronenfarbene kaufen? Der Rest ist fürs Kurtchen oder für dich, liebe Maria, die du nie an dich denkst, immer an andere.«
Einmal in Geberlaune, schenkte ich Guste einen Schirm mit echter Hornkrücke und ein Spiel kaum gebrauchte Altenburger Skatkarten, da sie sich gerne die Bildchen legte und ungern ein Spiel bei den Nachbarn auslieh, wenn sie nach Kösters Heimkehr Fragen stellen wollte.
Maria beeilte sich, meinen Auftrag zu erledigen, erstand für den üppigen Rest des Geldes einen Regenmantel für sich, für Kurtchen einen Schultornister aus imitiertem Leder, der, so häßlich er war, vorläufig seinen Zweck erfüllen mußte. Zu meinen Hemden und Krawatten legte sie drei Paar graue Socken, die ich zu bestellen vergessen hatte.
Als Korneff und Oskar die Anzüge abholten, standen wir uns vor dem Spiegel der Schneiderwerkstatt verlegen und dennoch voneinander beeindruckt gegenüber. Korneff wagte kaum, seinen Hals mit von Furunkelnarben zerfurchtem Nacken zu drehen. Aus abfallenden Schultergelenken ließ er die Arme vornüber hängen und versuchte seine Knickbeine zu strecken. Mir gab das neue Gewand, besonders wenn ich die Arme vor dem Brustkorb verschränkte, dadurch meine oberen horizontalen Ausmaße vergrößerte, das rechte schmächtige Bein als Standbein benutzte, das linke lässig winkelte, etwas dämonisch Intellektuelles. Lächelnd Korneff und sein Erstaunen genießend, näherte ich mich dem Spiegel, stand jener von meinem verkehrten Konterfei beherrschten Fläche so nahe, daß ich sie hätte küssen können, hauchte mich aber nur an und sagte so nebenbei: »Hallo, Oskar! Es fehlt dir noch eine Krawattennadel.«
Als ich eine Woche später, an einem Sonntagnachmittag, die Städtischen Krankenanstalten betrat, meine Pflegerinnen besuchte, mich neu, eitel und tiptop von allen meinen besten Seiten zeigte, war ich schon Besitzer einer silbernen Krawattennadel mit Perle.
Die guten Mädchen verloren die Sprache, als sie mich im Stationszimmer sitzen sahen. Das war im Spätsommer siebenundvierzig. Ich kreuzte auf bewährte Art die Anzugarme über dem Brustkorb, spielte mit meinen Lederhandschuhen. Über ein Jahr lang war ich jetzt Steinmetzpraktikant und Meister im Hohlkehlenziehen. Ein Hosenbein legte ich übers andere, trug dennoch den Bügelfalten Sorge. Die gute Guste pflegte das Maßwerk, als wäre es für den heimkehrenden, dann alles ändernden Köster geschneidert worden. Schwester Helmtrud wollte den Stoff fühlen und fühlte ihn auch. Für Kurtchen kaufte ich im Frühjahr siebenundvierzig, als wir seinen siebenten Geburtstag mit selbstgemixtem Eierlikör und Sandkuchen — Rezept: man nehme! — feierten, einen mausgrauen Lodenmantel. Ich bot den Krankenschwestern, zu denen sich auch Schwester Gertrud gesellte, Konfekt an, das eine Diabasplatte außer zwanzig Pfund braunem Zucker eingebracht hatte. Kurtchen ging meines Erachtens nach viel zu gerne zur Schule. Die Lehrerin, unverbraucht und, bei Gott, keine Spollenhauer, lobte ihn, sagte, er sei helle, doch etwas ernst. Wie fröhlich Krankenschwestern sein können, wenn man ihnen Konfekt anbietet! Als ich einen Augenblick mit Schwester Gertrud alleine im Stationszimmer war, erkundigte ich mich nach ihren freien Sonntagen.
»Na heut' zum Beispiel, da hab ich von fünf an frei. Aber is ja doch nix los in der Stadt«, resignierte Schwester Gertrud.
Ich war der Meinung, es käme auf einen Versuch an. Sie wollte es erst gar nicht versuchen, sich viel lieber mal richtig ausschlafen. Da wurde ich direkter, brachte meine Einladung vor, schloß, weil sie sich immer noch nicht entscheiden konnte, geheimnisvoll mit den Worten: »Ein wenig Unternehmungsgeist, Schwester Gertrud! Man ist nur einmal jung. An Kuchenmarken soll es bestimmt nicht fehlen.« Den Text begleitend, klopfte ich leicht stilisiert gegen das Tuch vor meiner Brusttasche, bot ihr noch ein Stückchen Konfekt an und bekam merkwürdigerweise einen gelinden Schreck, als das derb westfälische Mädchen, das ganz und gar nicht mein Typ war, zum Salbenschränkchen hingewendet hören ließ: »Na denn gut, wenn Sie meinen. Sagen wir um sechs, aber nicht hier, sagen wir, am Corneliusplatz.«
Niemals hätte ich Schwester Gertrud ein Treffen in der Eingangshalle oder vor dem Hauptportal der Krankenanstalten zugemutet. So erwartete ich sie um sechs unter der damals noch kriegsbeschädigten, keine Zeit ansagenden Normaluhr am Corneliusplatz. Sie kam pünktlich, wie ich auf meiner Wochen zuvor erstandenen, nicht allzu kostbaren Taschenuhr nachlesen konnte. Fast hätte ich sie nicht erkannt; denn hätte ich sie rechtzeitig, sagen wir, an der fünfzig Schritt entfernten, quer gegenüberliegenden Straßenbahnhaltestelle aussteigen sehen, bevor sie mich bemerken konnte, hätte ich mich verdrückt, enttäuscht davongemacht; denn Schwester Gertrud kam nicht als Schwester Gertrud, nicht in Weiß kam sie mit der Rotkreuzbrosche, sondern als x-beliebiges, Zivilkleidung dürftigster Machart tragendes Fräulein Gertrud Wilms aus Hamm oder Dortmund oder sonstwoher zwischen Dortmund und Hamm.
Sie bemerkte meinen Mißmut nicht, erzählte, daß sie fast zu spät gekommen wäre, weil die Oberschwester ihr aus reiner Schikane noch kurz vor fünf etwas aufgetragen habe.»Nun, Fräulein Gertrud, darf ich einige Vorschläge machen? Vielleicht beginnen wir ganz zwanglos in einer Konditorei und hinterher, was Sie mögen: eventuell Kino, fürs Theater werden leider keine Karten mehr zu bekommen sein, oder wie wäre es mit einem Tänzchen?«
»Au ja, gehn wir tanzen!« begeisterte sie sich und merkte zu spät, dann jedoch ihren Schreck kaum verbergend, daß ich als ihr Tanzpartner eine zwar gutangezogene, dennoch unmögliche Figur machen würde.
Mit leichter Schadenfreude — warum war sie auch nicht in jener von mir so geschätzten Krankenschwesterntracht gekommen -festigte ich den einmal von ihr gutgeheißenen Plan, und sie, der es an Vorstellungskraft fehlte, gab den Schreck bald auf, aß mit mir, ich ein Stückchen, sie drei Stückchen Torte, in der Zement verbacken sein mußte, stieg, nachdem ich mit Kuchenmarken und Bargeld gezahlt hatte, mit mir bei Koch am Wehrhahn in die Straßenbahn Richtung Gerresheim ein, denn unterhalb Grafenberg mußte nach Korneffs Angaben ein Tanzlokal sein.
Das letzte Stück bergauf gingen wir, weil die Straßenbahn vor der Steigung hielt, langsam zu Fuß. Ein Septemberabend, wie er im Buche steht. Gertruds bezugscheinfreie Holzsandalen klapperten gleich der Mühle am Bach. Das machte mich fröhlich. Die Leute, die bergab kamen, drehten sich nach uns um. Dem Fräulein Gertrud war das peinlich. Ich war's gewohnt, nahm keine Rücksicht: schließlich waren es meine Kuchenmarken gewesen, die ihr zu drei Stückchen Zementtorte in der Konditorei Kürten verhelfen hatten.
Das Tanzlokal hieß Wedig und führte den Untertitel: Löwenburg. Schon an der Kasse gab es Gekicher, und, als wir eintraten, verdrehte Köpfe. Schwester Gertrud wollte in ihrer Zivilkleidung unsicher werden, wäre fast über einen Klappstuhl gestolpert, hätten der Kellner und ich sie nicht gehalten. Jener wies uns einen Tisch nahe der Tanzfläche, und ich bestellte zweimal Kaltgetränk, fügte leise, nur dem Kellner vernehmlich hinzu: »Aber mit Schuß bitte.«
Die Löwenburg bestand zur Hauptsache aus einem Saal, der frühe: einer Reitschule gedient haben mochte. Mit Papierschlangen und Girlanden vom letzten Karneval hatte man die oberen Regionen, die reichlich beschädigte Decke verhängt. Halbdunkle, dazu gefärbte Lie-ter kreisten, warfen Reflexe auf die straff zurückgekämmten Haare junger, teilweise eleganter Schwarzhändler und auf die Taftblusen der Mädchen, die sich alle untereinander zu kennen schienen.
Als das Kaltgetränk mit Schuß serviert wurde, erstand ich beim Kellner zehn Amis, bot Schwester Gertrud eine an, eine dem Kellner, der sie sich hinters Ohr steckte, und nahm, nachdem ich meiner Dame Feuer gegeben hatte, Oskars Bernsteinspitze hervor, um eine Camel bis knapp zur Hälfte zu rauchen. Die Tische neben uns beruhigten sich. Schwester Gertrud wagte aufzublicken. Und als ich die stattliche Camelkippe im Aschenbecher ausdrückte und liegenließ, nahm Schwester Gertrud den Stummel mit sachlichem Griff an sich und steckte ihn in ein Seitenfach ihres Wachstuchhandtäschchens.
»Für meinen Verlobten in Dortmund«, sagte sie, »der raucht wie verrückt.«
Ich war froh, nicht ihr Verlobter sein zu müssen, auch daß die Musik einsetzte.
Die Fünfmannband spielte: »Don't fence me in.« Diagonal über die Tanzfläche eilende Kreppsohlenmänner stießen nicht zusammen, angelten sich Mädchen, die beim Aufstehen ihre Handtäschchen Freundinnen in Verwahrung gaben.
Es zeigten sich einige recht flüssig, wie eingeschult tanzende Paare. Viel Chewing Gum wurde bewegt, einige Burschen stellten für mehrere Takte das Tanzen ein, hielten die ungeduldig auf der Stelle dribbelnden Mädchen am Oberarm — englische Brocken ersetzten dem rheinischen Wortschatz die Hefe. Bevor die Paare sich wieder im Tanz fanden, wurden kleine Gegenstände weitergereicht: echte Schwarzhändler kennen keinen Feierabend.
Diesen Tanz ließen wir aus, auch den nächsten Fox. Oskar schaute den Männern gelegentlich auf die Beine und forderte Schwester Gertrud, die nicht wußte, wie ihr geschah, zu einem Tänzchen auf, als die Band »Rosamunde« anstimmte.
Mich an Jan Bronskis Tanzkünste erinnernd, wagte ich, der ich fast zwei Köpfe kleiner war als Schwester Gertrud und die groteske Note unserer Verbindung erkannte, auch bestärken wollte, einen Schieber: hielt sie, die sich gottergeben führen ließ, die Handfläche nach außen gekehrt am Gesäß, spürte dreißig Prozent Wolle, schob, mit der Wange ihrer Bluse nahe, die ganze kräftige Schwester Gertrud rückwärts und zwischen ihrem Schritt spurend, Platz fordernd, weil links unsere starren Arme ausschwenkend, von Ecke zu Ecke über die Tanzfläche. Es ging besser, als ich zu hoffen gewagt hatte.
Erlaubte mir Variationen, hielt mich, oben die Bluse wahrend, unten bald links, bald rechts ihrer Halt bietenden Hüfte, umtanzte sie, ohne dabei jene klassische Haltung des Schiebers aufzugeben, die den Eindruck zu erwecken hat: die Dame stürzt sogleich rückwärts, der Herr, der sie stürzen will, stürzt vorwärts über sie hinweg; und dennoch stürzen sie nicht, weil sie ausgezeichnete Schiebertänzer sind.
Bald hatten wir Zuschauer. Ich hörte Ausrufe wie: »Han ich dich nich jesacht, dat issen Jimmy! Guck dich den Jimmy an. Hallo Jimmy! Come on, Jimmy! Let's go, Jimmy!«
Leider konnte ich das Gesicht der Schwester Gertrud nicht sehen und mußte mich mit der Hoffnung begnügen, sie nehme den Beifall stolz und gelassen zugleich als eine Ovation der Jugend auf, finde sich in den Applaus, wie sie sich als Krankenschwester in die oft unbeholfenen Schmeicheleien der Patienten zu finden wußte.Als wir uns setzten, wurde immer noch geklatscht. Die Fünfmannband gab, wobei sich der Schlagzeuger besonders hervortat, einen Tusch und noch einen Tusch und einen dritten Tusch. »Jimmy«, wurde gerufen und »Haste die beiden gesehen?« Da erhob sich Schwester Gertrud, stammelte etwas von Toilettegehen, nahm das Handtäschchen mit der Kippe für den Dortmunder Verlobten, drängte sich hochrot, überall anstoßend 'zwischen Stühle und Tische in Richtung Toilette, neben der Kasse, Sie kam nicht wieder. Der Tatsache, daß sie vorm Weggehen mit langem Schluck ihr Kaltgetränkglas geleert hatte, durfte ich entnehmen, daß Glasaustrinken Abschied bedeutet: Schwester Gertrud ließ mich sitzen.
Und Oskar? Eine Amizigarette in der Bernsteinspitze, beim Ober, der diskret das bis zur Neige geleerte Glas der Krankenschwester wegräumte, ein Schuß ohne Kaltgetränk bestellt. Koste es, was es wolle: Oskar lächelte. Zwar schmerzhaft, aber er lächelte und schlug, oben die Arme kreuzend, unten die Hosenbeine übereinander, wippte mit zierlichem schwarzem Schnürstiefel, Größe fünfunddreißig, und genoß die Überlegenheit des Verlassenen.
Die jungen Leute, Stammgäste der Löwenburg, waren nett, zwinkerten mir von der Tanzfläche, vorbeiswingend zu. »Hallo« riefen die Burschen und »Take it easy« die Mädchen. Ich dankte mit meiner Zigarettenspitze den Vertretern wahrer Humanität und schmunzelte nachsichtig, als der Schlagzeuger üppig wirbelte und mich an gute alte Tribünenzeiten erinnerte, indem er eine Solonummer auf die Flachtrommel, auf Pauke, Becken, Triangel legte und alsdann Damenwahl ankündigte.
Heiß gab sich die Band, spielte »Jimmy the Tiger«. Damit war wohl ich gemeint, obgleich niemand in der Löwenburg von meiner Trommlerlaufbahn unter Tribünengerüsten wissen konnte. Jedenfalls flüsterte mir das junge quecksilbrige Ding mit dem hennaroten Wuschelkopf, das mich zum Herrn ihrer Wahl auserkor, tabakheiser und kaugummibreit »Jimmy the Tiger« ins Ohr. Und während wii schnell, Dschungel und Dschungelgefahren heraufbeschwörend, Jimmy tanzten, ging auf Tigerpfoten der Tiger um, was etwa zehn Minuten dauerte. Abermals gab es Tusch, Beifall und nochmals Tusch, weil ich einen gutangezogenen Buckel hatte, dazu flink auf den Beinen war und als Jimmy the Tiger keine schlechte Figur machte. Ich bat die mir gewogene Dame an meinen Tisch, und Helma — so hieß sie -bat, ihre Freundin Hannelore mitbringen zu dürfen. Hannelore war schweigsam, seßhaft und trank viel. Helma hatte es mehr mit den Amizigaretten, und ich mußte beim Ober nachbestellen.
Ein gelungener Abend. Ich tanzte »Hebaberiba«, »In the mood«, »Shoeshine boy«, plauderte zwischendurch, versorgte zwei leicht zufriedenzustellende Mädchen, die mir erzählten, daß sie beide beim Fernsprechamt am Graf-Adolf-Platz arbeiteten, daß aber noch mehr Mädchen vom Fernsprechamt jeden Sonnabend und Sonntag zu Wedig in die Löwenburg kämen. Sie seien jedenfalls jedes Wochenende da, wenn sie nicht gerade Dienst hätten, und auch ich versprach, des öfteren wiederzukommen, weil Helma und Hannelore so nett seien, weil man sich mit Mädchen vom Fernsprechamt — hier machte ich ein Wortspiel, das beide sofort verstanden — auch nahe beieinander sitzend gut verstehe.
In die Krankenanstalten ging ich längere Zeit nicht mehr. Und als ich wieder dann und wann einen Besuch machte, war Schwester Gertrud auf die Frauenstation versetzt worden. Ich sah sie nie mehr oder nur einmal flüchtig, von weitem grüßend. In der Löwenburg wurde ich gerngesehener Stammgast. Die Mädchen nahmen mich tüchtig, doch nicht maßlos aus. Durch sie lernte ich einige Angehörige der britischen Besatzungsarmee kennen, schnappte hundert Wörtchen Englisch auf, schloß auch Freundschaft, sogar Duzbruderschaft mit einigen Mitgliedern der Löwenburgband, bezwang mich aber, was die Trommelei betraf, setzte mich also nie hinter das Schlagzeug, sondern begnügte mich mit dem kleinen Glück der Schriftklopferei in Korneffs Steinmetzbude.
Während des strengen Winters siebenundvierzigachtundvierzig hielt ich Kontakt mit den Mädchen des Fernsprechamtes, erhielt auch einige nicht allzu kostspielige Wärme bei der schweigsam seßhaften Hannelore, wobei wir jedoch knapp Distanz wahrten und uns auf das unverbindliche Handwerk verließen.
Im Winter pflegt sich der Steinmetz. Das Werkzeug muß nachgeschmiedet werden, einigen alten Brocken wird die Schriftfläche abgestockt, wo Kanten fehlen, schleift man Fasen, zieht Hohlkehlen.
Korneff und ich füllten das während der Herbstsaison gelichtete Grabsteinlager wieder auf, stampften einige Kunststeine aus Muschelkalkversatz. Auch versuchte ich mich in leichteren Bildhauerarbeiten mit der Punktiermaschine, schlug Reliefs, die Engelköpfe, Christi dornengekröntes Haupt und die Taube des Heiligen Geistes darstellten. Wenn Schnee fiel, schippte ich Schnee, und wenn kein Schnee fiel, taute ich die Wasserleitung zur Schleifmaschine auf.
Ende Februar achtundvierzig — der Karneval hatte mich abmagern lassen, ich schaute womöglich etwas vergeistigt aus, denn in der Löwenburg nannten mich einige Mädchen »Doktor« — kamen kurz nach Aschermittwoch die ersten Bauern vom linken Rheinufer und besichtigten unser Grabsteinlager.
Korneff war abwesend. Er machte seine alljährliche Rheumakur, arbeitete in Duisburg vor einem Hochofen, und als er nach vierzehn Tagen ausgedörrt und ohne Furunkel zurückkam, hatte ich schon drei Steine, darunter einen für ein dreistelliges Grab, günstig verkaufen können. Korneff schlug noch zwei Kirchheimer Muschelkalkwände los, und Mitte März begannen wir mit dem Versetzen. Ein Schlesischer Marmor ging nach Grevenbroich; die zwei Kirchheimer Metersteine stehen auf einem Dorffriedhof beiNeuß; den roten Mainsandstein mit von mir geschlagenem Engelsköpfchen kann man heute noch auf dem Stommler Friedhof bewundern. Die Diabaswand mit dem Dornenkronenchrist für das dreistellige Grab luden wir Ende März auf und fuhren langsam, weil der Dreiradwagen überladen war, in Richtung Kappes-Hamm, Rheinbrücke Neuß. Von Neuß über Grevenbroich nach Rommerskirchen, bogen dann rechts auf die Straße nach Bergheim Erft ab, ließen Rheydt, Niederaußem hinter uns, brachten den Brocken samt Sockel ohne Achsenbruch auf den Friedhof von Oberaußem, der leicht zum Dorf geneigt auf einem Hügel liegt.
Welch eine Aussicht! Zu unseren Füßen das Braunkohlenrevier des Erftlandes. Die acht gegen den Himmel dampfenden Kamine des Werkes Fortuna. Das neue, zischende, immer explodieren wollende Kraftwerk Fortuna Nord. Die Mittelgebirge der Schlackenhalden mit Drahtseilbahnen und Kipploren darüber. Alle drei Minuten ein Elektrozug mit Koks oder leer. Vom Kraftwerk kommend, zum Kraftwerk hin, spielzeugklein, dann Spielzeug für Riesen, die linke Ecke des Friedhofes überspringend die Starkstromleitung in Dreierkolonne, summend und hochgespannt nach Köln laufend. Andere Kolonnen dem Horizont zu, nach Belgien und Holland eilend: Welt, Knotenpunkt — wir stellten die Wand aus Diabas für die Familie Flies auf — Elektrizität entsteht, wenn man ... Der Totengräber mit Gehilfe, der hier den Schugger Leo ersetzte, die kamen mit Werkzeug, im Spannungsfeld standen wir, mit einer Umbettung begann der Totengräber drei Reihen unter uns — hier wurden Reparationsleistungen vollbracht — der Wind führte uns die typischen Gerüche einer zu früh angesetzten Umbettung zu — nein, kein Ekel, es war ja März. Märzäcker zwischen den Kokshalden. Der Totengräber trug eine gezwirnte Brille und zankte halblaut mit seinem Schugger Leo, bis die Sirene von Fortuna eine Minute lang ausatmete, atemlos wir, von der umzubettenden Frau gar nicht zu sprechen, nur Hochspannung hielt durch, und die Sirene kippte, fiel über Bord und ersoff — während von dörflichen schiefergrauen Schieferdächern Rauch mittäglich kräuselte und die Kirchenglocken gleich hinterdrein: Bete und arbeite — Industrie und Religion Hand in Hand.
Schichtwechsel auf Fortuna, wir Butterbrote mit Speck, aber Umbetten duldet keine Pause, auch rastlos Starkstrom zu Siegermächten hineilend, Holland erleuchtend, während hier immer wieder Stromsperre — doch die Frau kam ans Licht!
Während Korneff die Löcher fürs Fundament einsfünfzig tief aushob, kam sie hoch in die Frische und lag noch nicht lange unten, seit letztem Herbst erst im Dunkeln und war doch schon fortgeschritten, wie ja überall Verbesserungen vorgenommen wurden, und auch die Demontage an Rhein und Ruhr Fortschritte machte, hatte sich jene Frau während des Winters — den ich in der Löwenburg vertändelt hatte — ernsthaft unter der gefrorenen Erdkruste des Braunkohlenreviers mit sich selbst auseinandergesetzt und mußte nun, während wir Beton stampften und den Sockel legten, stückweise zur Umbettung überredet werden. Aber dafür war ja die Zinkkiste da, daß nichts, auch das Kleinste nicht verlorenging — wie ja auch Kinder bei der Brikettausgabe in Fortuna hinter den überladenen Lastwagen herliefen und fallende Briketts sammelten, weil Kardinal Frings von der Kanzel herunter gesagt hatte: Wahrlich ich sage euch: Kohlenklauen ist keine Sünde.
Ihr aber brauchte niemand mehr einzuheizen. Ich glaube nicht, daß sie in der sprichwörtlich frischen Märzluft fror, zumal ja noch Haut mehr als genug, wenn auch durchlässig und mit Laufmaschen, dafür Stoffreste und Haare, die immer noch Dauerwellen — daher kommt das Wort — auch waren die Sargbeschläge der Umbettung wert, selbst kleine Hölzlein wollten mit auf den anderen Friedhof, wo keine Bauern und Bergleute aus Fortuna, nein, in die große Stadt, wo immer was los war und neunzehn Kinos gleichzeitig, dahin wollte die Frau heimkehren, denn sie war eine Evakuierte, wie der Totengräber zu erzählen wußte, und nicht hiesig: »Dat Griet kam us Kölle, un kömmt nu nach Müllern, up de annere Sieht vom Rhing«, sagte er und hätte noch mehr gesagt, wenn nicht noch einmal die Sirene eine Minute lang Sirene, und ich näherte mich, die Sirene nutzend, der Umbettung, unterwanderte auf Umwegen die Sirene, wollte Zeuge der Umbettung sein, und nahm was mit, das sich hinterher neben der Zinkkiste als mein Spaten herausstellte, den ich, nicht etwa um zu helfen, sondern nur so, weil ich den Spaten bei mir hatte, auch gleich in Aktion setzte, etwas aufs Spatenblatt nahm, das danebengefallen war: und der Spaten, das war ein ehemaliger Spaten des Reichsarbeitsdienstes. Und was ich auf den RAD-Spaten nahm, das waren die ehemaligen oder waren noch immer die Mittelfinger und — glaube noch heute — der Ringfinger der evakuierten Frau, die beide nicht abgefallen, vielmehr vom Heber, der ja kein Gefühl hatte, abgehackt worden waren. Die aber schienen mir schön und geschickt gewesen zu sein, wie auch der Kopf der Frau, der schon in der Zinkkiste war, eine gewisse Ebenmäßigkeit durch den Nachkriegswinter siebenundvierzigachtundvierzig, der ja bekanntlich schlimm war, hinübergerettet hatte, so daß abermals von Schönheit, wenn auch verfallener die Rede sein konnte. Zudem waren mir der Kopf und die Finger der Frau näher und menschlicher als die Schönheit des Kraftwerkes Fortuna Nord. Mag sein, daß ich das Pathos der Industrielandschaft genoß, wie ich zuvor etwa Gustaf Gründgens im Theater genossen hatte, blieb aber doch solch auswendigen Schönheiten gegenüber mißtrauisch, wenn das auch kunstvoll war, und die Evakuierte nur allzu natürlich wirkte. Zugegeben, daß der Starkstrom mir ähnlich wie Goethe ein Weltgefühl vermittelte, aber die Finger der Frau berührten mein Herz, auch wenn ich mir die Evakuierte als Mann vorstellte, weil das besser in meinen Kram fürs Entschlüssefassen paßte und für den Vergleich, der mich zum Yorick machte und die Frau - halb noch unten, halb in der Zinkkiste — zum Manne Hamlet, wenn man Hamlet als Mann bezeichnen will. Ich aber, Yorick, fünfter Aufzug, der Narr, »Ich kannte ihn, Horatio«, erste Szene, ich, der auf allen Bühnen dieser Welt — »Ach armer Yorick!« — seinen Schädel dem Hamlet ausleiht, damit irgendein Gründgens oder Sir Laurence Olivier sich als Hamlet Gedanken darüber macht: »Wo sind nur deine Schwanke? deine Sprünge?« — ich hielt des Gründgens Hamletfinger auf meinem Arbeitsdienstspatenblatt, stand auf dem festen Boden des niederrheinischen Braunkohlenreviers, zwischen den Gräbern der Bergleute, Bauern und deren Familienangehörigen, sah auf die Schieferdächer des Dorfes Oberaußem herab, machte den dörflichen Friedhof zum Mittelpunkt der Welt, das Kraftwerk Fortuna Nord zu meinem imponierenden halbgöttlichen Gegenüber, die Äcker waren Dänemarks Äcker, die Erft war mein Belt, was hier faulte, das faulte mir im Reich der Dänen -
ich, Yorick, überspannt, geladen, knisternd, über mir singend, nicht daß ich Engel sage, und dennoch sangen die Starkstromengel in Dreierkolonnen zum Horizont hin, wo Köln und sein Hauptbahnhof neben dem gotischen Fabeltier lagen, und versorgten die katholische Beratungsstelle mit Strom, himmlisch über die Rübenäcker, die Erde jedoch gab Brikett her und Hamlets, nicht Yoricks Leiche.
Die anderen aber, die nichts mit dem Theater zu tun hatten, die mußten unten bleiben — »Die es dahin gebracht. -Der Rest ist Schweigen« — und wurden mit Grabsteinen beschwert, wie wir die Familie Flies mit der dreistelligen Diabaswand schwerwiegend belasteten. Für mich aber, Oskar Matzerath, Bronski, Yorick begann ein neues Zeitalter, und ich betrachtete, des neuen Zeitalters kaum bewußt, noch schnell, bevor es vorbei war, des Prinzen Hamlet vergammelte Finger auf meinem Spatenblatt -
»Er ist zu fett und kurz von Atem« — ließ, dritter Aufzug, den Gründgens in erster Szene nach Sein oder Nichtsein fragen, verwarf diese törichte Fragestellung, hielt vielmehr Konkretes nebeneinander: so meinen Sohn und meines Sohnes Feuersteine, meine mutmaßlichen irdischen und himmlischen Väter, die vier Röcke meiner Großmutter, die auf Fotos unsterbliche Schönheit meiner armen Mama, den narbigen Irrgarten auf Herbert Truczinskis Rücken, die blutaufsaugenden Briefkörbe der Polnischen Post, Amerika — ach, was ist Amerika gegen die Straßenbahnlinie neun, die nach Brösen fuhr — ließ den zeitweilig immer noch deutlichen Vanilleduft Marias gegen das als Irrsinn gebotene Dreiecksgesicht einer Luzie Rennwand wehen, bat jenen den Tod noch desinfizierenden Herrn Fajngold, das unauffindliche Parteiabzeichen in Matzeraths Luftröhre zu suchen, und sagte zu Korneff oder mehr zu den Hochspannungsmasten hin, sagte — da ich langsam zum Entschluß kam und dennoch das Bedürfnis verspürte, vor dem Entschluß eine dem Theater gemäße, Hamlet in Frage stellende, mich, Yorick, als wahren Bürger feiernde Frage zu stellen — zu.
Korneff sagte ich, als der mich rief, weil der Sockel mit der Diabaswand verfugt werden mußte, leise und von dem Wunsch bewegt, endlich ein Bürger werden zu dürfen, sprach — leicht Gründgens imitierend, obgleich der kaum einen Yorick spielen könnte — sagte übers Spatenblatt weg: »Heiraten oder Nichtheiraten, das ist hier die Frage.«
Seit jener Wende auf dem Friedhof, Fortuna Nord gegenüber, gab ich die Tanzgaststätte Wedigs Löwenburg auf, unterbrach alle Verbindungen mit den Mädchen des Fernsprechamtes, deren großes Plus ja gerade darin bestanden hatte, schnell und befriedigend Verbindungen herzustellen.
Im Mai kaufte ich für Maria und mich Kinokarten. Nach der Vorstellung gingen wir in ein Restaurant, aßen verhältnismäßig gut, und ich plauderte mit Maria, die sich allerlei Sorgen machte, weil Kurtchens Feuersteinquelle versiegte, weil das Geschäft mit dem Kunsthonig nachließ, weil — wie sie es nannte — ich mit meinen schwachen Kräften seit Monaten für die ganze Familie aufkäme. Ich beruhigte Maria, sagte, Oskar tue das gerne, nichts sei ihm lieber, als eine große Verantwortung tragen zu müssen, machte auch Komplimente über ihr Aussehen und wagte schließlich den Heiratsantrag.
Sie erbat sich Bedenkzeit. Meine Yorickfrage wurde wochenlang überhaupt nicht oder nur ausweichend, endlich jedoch durch die Währungsreform beantwortet.
Maria nannte mir einen Haufen Gründe, streichelte mir dabei den Ärmel, nannte mich »lieber Oskar«, sagte auch, ich sei zu gut für diese Welt, bat um Verständnis und um meine weiterhin ungetrübte Freundschaft, wünschte mir alles erdenklich Gute für meine Zukunft als Steinmetz und überhaupt, weigerte sich aber, nochmals und dringlich befragt, eine Ehe mit mir einzugehen.
So wurde aus Yorick kein Bürger, sondern ein Hamlet, ein Narr.
MADONNA 49
Die Währungsreform kam zu früh, machte aus mir einen Narren, zwang mich, Oskars Währung gleichfalls zu reformieren; ich sah mich fortan gezwungen, aus meinem Buckel wenn auch kein Kapital, so doch meinen Lebensunterhalt zu schlagen.
Dabei hätte ich einen guten Bürger abgegeben. Die Zeit nach der Währungsreform, die — wie wir heute sehen — alle Voraussetzungen fürs momentan in Blüte stehende Biedermeier hatte, hätte auch Oskars biedermeierliche Züge fördern können. Als Ehemann, Biedermann hätte ich mich am Wiederaufbau beteiligt, hätte jetzt einen mittelgroßen Steinmetzbetrieb, gäbe dreißig Gesellen, Handlangern und Lehrlingen Lohn und Brot, wäre jener Mann, der alleneuerbauten Bürohochhäuser, Versicherungspaläste mit den beliebten Muschelkalk-und Travertinfassaden ansehnlich macht: Geschäftsmann, Biedermann, Ehemann — aber Maria gab mir einen Korb.
Da besann Oskar sich seines Buckels und fiel der Kunst anheim! Bevor Korneff, dessen vom Grabstein abhängende Existenz gleichfalls durch die Währungsreform in Frage gestellt wurde, kündigte, kündigte ich, stand auf der Straße, wenn ich nicht in Guste Kösters Wohnküche Daumen drehte, trug langsam meinen eleganten Maßanzug ab, verschlampte ein wenig, hatte zwar keinen Streit mit Maria, fürchtete aber Streit und verließ deshalb zumeist am frühen Vormittag schon die Wohnung in Bilk, besuchte zuerst die Schwäne am Graf-Adolf-Platz, dann die im Hofgarten und saß klein, versonnen, nicht etwa verbittert in den Parkanlagen, dem Arbeitsamt und der Kunstakademie, die in Düsseldorf Nachbarn sind, schräg gegenüber.
Man sitzt und sitzt auf solch einer Parkbank, bis man selbst hölzern und mitteilungsbedürftig wird.
Alte, vom Wetter abhängige Männer, hochbetagte Frauen, die langsam wieder zu schwatzhaften Mädchen werden, die jeweilige Jahreszeit, schwarze Schwäne, Kinder, die sich schreiend verfolgen, und Liebespaare, die man beobachten möchte, bis sie sich, wie man voraussehen konnte, trennen müssen. Manche lassen Papier fallen. Das flattert ein bißchen, wälzt sich und wird von einem Mann mit Mütze, den die Stadt bezahlt, auf spitzem Stock gespießt.
Oskar verstand es, zu sitzen und mit den Knien seine Hosenbeine gleichmäßig auszubeutein. Gewiß fielen mir die beiden mageren Jünglinge mit dem bebrillten Mädchen auf, bevor mich die Dicke, die einen Ledermantel mit ehemaligem Wehrmachtskoppel trug, ansprach. Die Idee, mich anzusprechen, kam wohl den Jünglingen, die sich schwarz und anarchistisch trugen. So gefährlich sie aussahen, genierten sie sich dennoch, mich, einen Buckligen, dem man eine versteckte Größe ansah, direkt und ohne Umschweif anzusprechen. Sie überredeten die Dicke im Leder. Die kam, stand auf Säulen breitbeinig, stotterte, bis ich sie aufforderte, Platz zu nehmen. Sie saß, hatte, weil es vom Rhein her dunstig, fast neblig war, beschlagene Brillengläser, sprach und sprach, bis ich sie aufforderte, erst einmal ihre Brille zu putzen, dann ihr Anliegen so zu formulieren, daß auch ich es verstünde. Da winkte sie die düsteren Jünglinge herbei, und die nannten sich sofort, ohne meine Aufforderung, Künstler, malende, zeichnende, bildende Künstler, die sich auf der Suche nach einem Modell befänden. Schließlich gaben sie mir nicht ohne Leidenschaft zu verstehen, daß sie in mir ein Modell zu sehen glaubten, rückten auch gleich, weil ich mit Daumen und Zeigefinger schnelle Bewegungen machte, mit den Verdienstmöglichkeiten eines Akademie-Modelles heraus: pro Stunde zahle die Kunstakademie eine Mark achtzig — für Akt — aber das komme wohl nicht in Frage, sagte die Dicke — sogar zwei Deutsche Mark.
Warum sagte Oskar ja? Lockte mich die Kunst? Lockte mich der Verdienst? Kunst und Verdienst lockten mich, erlaubten Oskar, ja zu sagen. So stand ich auf, ließ die Parkbank und die Möglichkeiten einer Parkbankexistenz für immer hinter mir, folgte dem stramm marschierenden Brillenmädchen und den beiden Jünglingen, die vornübergebeugt gingen, als trügen sie ihr Genie auf dem Rücken, an dem Arbeitsamt vorbei, in die Eiskellerbergstraße, ins teilweise zerstörte Gebäude der Kunstakademie.
Auch Professor Kuchen — schwarzer Bart, Kohleaugen, schwarzer kühner Schlapphut, schwarze Ränder unter den Fingernägeln - er erinnerte mich an das schwarze Büfett meiner Jugendjahre — sah in mir dasselbe vortreffliche Modell, das auch seine Schüler in mir, dem Mann auf der Parkbank, gesehen hatten.
Längere Zeit umschritt er mich, ließ seine Kohleaugen kreisen, schnaubte, daß schwarzer Staub seinen Nasenlöchern entfuhr, und sprach, mit schwarzen Fingernägeln einen unsichtbaren Feind erwürgend:
»Kunst ist Anklage, Ausdruck, Leidenschaft! Kunst, das ist schwarze Zeichenkohle, die sich auf weißem Papier zermürbt!«
Dieser zermürbenden Kunst gab ich das Modell ab. Professor Kuchen führte mich in das Atelier seiner Schüler, hob mich eigenhändig auf eine Drehscheibe, drehte die, nicht um mich schwindlig zu machen, sondern um Oskars Proportionen von allen Seiten zu verdeutlichen. Sechzehn Staffeleien rückten näher an Oskars Profil heran. Noch ein kurzer Vortrag des kohlenstaubschnaubenden Professors: Ausdruck verlangte er, hatte es überhaupt mit dem Wörtchen Ausdruck, sagte: verzweifelt nachtschwarzer Ausdruck, behauptete von mir, ich, Oskar, drücke das zerstörte Bild des Menschen anklagend, herausfordernd, zeitlos und dennoch den Wahnsinn unseres Jahrhunderts ausdrückend aus, donnerte noch über die Staffeleien hinweg: »Zeichnet ihn nicht, den Krüppel, schlachtet ihn, kreuzigt ihn, nagelt ihn mit Kohle aufs Papier!«
Das war wohl das Zeichen zum Anfang, denn sechzehnmal knirschte hinter den Staffeleien Kohle, schrie mürb werdend auf, zerrieb sich an meinem Ausdruck — gemeint war mein Buckel — machte den schwarz, schwärzte den an, verzeichnete ihn; denn alle Schüler des Professors Kuchen waren mit solch dicker Schwärze meinem Ausdruck hinterher, daß sie unweigerlich ins Übertreiben gerieten, die Ausmaße meines Buckels überschätzten; zu immer größeren Bögen mußten sie greifen und bekamen dennoch meinen Buckel nicht aufs Papier.
Da gab Professor Kuchen den sechzehn Zeichenkohlezermürbern den guten Rat, nicht mit dem Umriß meines allzu ausdruckstarken Buckels — der angeblich jedes Format sprengte — anzufangen, sondern im oberen Fünftel des Bogens, möglichst weit links zuerst meinen Kopf anzuschwärzen.Mein schönes Haar glänzt dunkelbraun. Die machten aus mir einen strähnigen Zigeuner. Keinem der sechzehn Kunstjünger fiel auf, daß Oskar blaue Augen hat. Als ich mir während einer Pause — denn jedes Modell darf nach einer Dreiviertelstunde Modellstehen ein Viertelstündchen pausieren — die oberen linken Fünftel der sechzehn Bögen anschaute, überraschte mich zwar vor jeder Staffelei das sozial Anklagende meines verhärmten Antlitzes, doch vermißte ich, leicht betroffen, die Leuchtkraft meiner Blauaugen: dort, wo es klar und gewinnend hätte strahlen sollen, rollten, verengten sich, zerbröckelten, stachen mich schwärzeste Kohlespuren.
Die künstlerische Freiheit in Betracht ziehend, sagte ich mir: Den Rasputin in dir haben die jungen Musensöhne und kunstverstrickten Mädchen zwar erkannt; ob sie wohl jemals jenen in dir schlummernden Goethe entdecken, erwecken und leicht, weniger mit Ausdruck, eher mit einem maßvollen Silberstift zu Papier bringen? Weder den sechzehn Schülern, so begabt sie sein mochten, noch dem Professor Kuchen, so unverwechselbar sein Kohlestrich genannt wurde, gelang es, ein gültiges Bildnis Oskars der Nachwelt zu bescheren. Allein, ich verdiente gut, wurde respektvoll behandelt, stand tagtäglich sechs Stunden auf der Drehscheibe, wurde bald mit dem Gesicht zum immer verstopften Waschbecken, dann mit der Nase gegen die grauen, himmelblauen, leicht bewölkten Atelierfenster, machmal auch gegen eine spanische Wand gedreht und spendete Ausdruck, der mir stündlich eine Mark und achtzig Pfennige einbrachte.
Nach einigen Wochen gelang es den Schülern, etliche nette Bildchen zu machen. Das heißt, sie hatten sich im Ausdruckanschwärzen etwas gemäßigt, übertrieben die Ausmaße meines Buckels nicht mehr ins Uferlose, brachten mich gelegentlich vom Scheitel bis zur Sohle, von den Jackenknöpfen über meinem Brustkorb bis zu jener Stelle meines Anzugstoffes aufs Papier, welche am weitesten ausladend meinen Buckel begrenzte. Auf vielen Zeichenbögen fand sich sogar Platz für einen Hintergrund. Die jungen Leute zeigten sich trotz der Währungsreform immer noch vom Krieg beeindruckt, bauten hinter mir Ruinen mit anklagend schwarzen Fensterlöchern auf, stellten mich als hoffnungslosen, unterernährten Flüchtling zwischen geborstene Baumstümpfe, inhaftierten mich sogar, wickelten mit fleißig schwarzer Kohle hinter mir einen übertrieben stachligen Stacheldrahtzaun ab, ließen mich von Wachtürmen beobachten, die gleichfalls im Hintergrund drohten; ein leeres Blechschüsselchen mußte ich halten, Kerkerfenster gaben hinter und über mir ihren graphischen Reiz her — man steckte Oskar in Sträflingskleidung — was alles des künstlerischen Ausdruckes wegen geschah.
Da mir das jedoch als schwarzhaariger Zigeuner-Oskar angeschwärzt wurde, da man mich nicht blauäugig, sondern mit Kohleaugen all dieses Elend schauen ließ, hielt ich, der ich wußte, daß man Stacheldraht nicht zeichnen kann, als Modell still, war aber dennoch froh, als mich die Bildhauer, die bekanntlich ohne zeitbezügliche Hintergründe auskommen müssen, zum Modell, zum Aktmodell machten.
Diesmal sprach mich kein Schüler, sondern der Meister persönlich an. Professor Maruhn war mit meinem Kohleprofessor, dem Meister Kuchen, befreundet. Als ich eines Tages im Privatatelier Kuchens, einem düsteren Raum voller gerahmter Zeichenkohlespuren, stillhielt, damit mich der Rauschebart mit seinem unverwechselbaren Strich aufs Papier bannte, besuchte ihn Professor Maruhn, ein stämmiger untersetzter Fünfziger, der, hätte nicht eine staubige Baskenmütze von seinem Künstlertum gezeugt, im weißen Modellierkittel einem Chirurgen nicht unähnlich gewesen wäre.
Maruhn, wie ich sofort merkte, ein Liebhaber klassischer Formen, blickte mich meiner Proportionen wegen feindselig an. Seinen Freund verhöhnte er: er, Kuchen, habe wohl nicht genug an seinen Zigeunermodellen, die er bislang angeschwärzt habe, denen er jenen in Künstlerkreisen gebräuchlichen Übernamen Zigeunerkuchen verdanken könne? Ob er sich nun auch an Mißgeburten versuchen wolle, ob er sich mit der Absicht trage, nach jener erfolgreichen und gut verkäuflichen Zigeunerperiode nun eine Zwergenperiode noch verkäuflicher, noch erfolgreicher anzuschwärzen?
Professor Kuchen verwandelte den Spott seines Freundes in wütende, nachtschwarze Kohlespuren: das war das schwärzeste Bild, daß er jemals von Oskar machte, eigentlich war es nur schwarz, bis auf ein wenig Helligkeit auf meinen Backenknochen, auf Nase, Stirn und auf meinen Händen, die Kuchen immer zu groß und mit Gichtknoten versehen ausdruckstark im Mittelgrund seiner Kohleorgien spreizte. Jedoch habe ich auf dieser Zeichnung, die später auf Ausstellungen zu Ansehen kam, blaue, das heißt, lichte, nicht düster strahlende Augen. Oskar führt das auf den Einfluß des Bildhauers Maruhn zurück, der ja kein expressiver Kohlewüterich, sondern Klassiker war, dem meine Augen in Goethescher Klarheit leuchteten. So wird es dann auch Oskars Blick gewesen sein, der den Bildhauer Maruhn, der eigentlich nur das Ebenmaß liebte, verführen konnte, in mir ein Bildhauermodell, sein Bildhauermodell, zu sehen.
Das Atelier Maruhns war staubig hell, fast leer und zeigte keine einzige fertige Arbeit. Überall standen jedoch Modelliergerüste für geplante Arbeiten, die so perfekt durchdacht waren, daß Draht, Eisen und die nackten gebogenen Bleirohre auch ohne den Modellierton zukünftige, formvollendete Harmonie ankündigten.
Ich stand dem Bildhauer fünf Stunden täglich als Aktmodell und bekam zwei Mark pro Stunde. Mit Kreide markierte er auf der Drehscheibe einen Punkt, zeigte an, wo fortan mein rechtes Bein als Standbein zu wurzeln hatte. Eine Senkrechte vom inneren Knöchel des Standbeines hochgezogen hatte genau meine Halsgrube zwischen den Schlüsselbeinen zu treffen. Das linke Bein war das Spielbein.Doch diese Bezeichnung täuscht. Wenn ich es auch leicht gewinkelt und lässig zur Seite zu stellen hatte, durfte ich es dennoch 'nicht verrücken oder spielerisch bewegen. Auch das Spielbein wurde mit einem Kreideumriß auf der Drehscheibe verwurzelt.
Während der Wochen, da ich dem Bildhauer Maruhn Modell stand, konnte er für meine Arme keine entsprechende und ähnlich den Beinen unverrückbare Pose finden. Da mußte ich den linken Arm hängen lassen, den rechten über den Kopf winkeln, da mußte ich beide Arme vor der Brust kreuzen, unterm Buckel verschränken, in die Seiten stemmen; es gab tausend Möglichkeiten, und der Bildhauer probierte alle an mir und dem Eisengerüst mit den biegsamen Bleirohrgliedern aus.
Als er sich schließlich nach einem Monat fleißiger Posensuche entschloß, mich entweder mit verschränkten Händen, die ich am Hinterkopf zu halten hatte, oder ganz ohne Arme, als Torso in Ton umzusetzen, hatte er sich beim Gerüstbau und Gerüstumbau derart erschöpft, daß er zwar nach dem Ton in der Tonkiste griff, auch einen Anlauf nahm, dann jedoch den dumpfen ungeformten Stoff wieder in die Kiste klatschen ließ, sich vors Gerüst hockte, mich und mein Gerüst anstarrte, mit den Fingern verzweifelt zitterte: das Gerüst war zu perfekt!
Seufzend resignierend, Kopfschmerzen vortäuschend, doch ohne Oskar zu grollen, gab er es auf, stellte das bucklige Gerüst samt Spiel-und Standbein, mit den erhobenen Bleirohrarmen, mit den Drahtfingern, die sich im eisernen Nacken verschränkten, in die Ecke zu all den anderen frühvollendeten Gerüsten; leise, nicht spöttisch, eher der eigenen Nutzlosigkeit bewußt, schwankten in meinem geräumigen Buckelgerüst die Holzknebel — auch Schmetterlinge genannt — die hätten die Tonlast tragen sollen.
Darauf tranken wir Tee und verplauderten noch ein rundes Stündchen, das mir der Bildhauer als Modellstunde bezahlte. Er sprach von früheren Zeiten, da er noch als junger Michelangelo den Ton zentnerweise und hemmungslos in Gerüste hing und Plastiken vollendete, die zumeist während des Krieges zerstört wurden. Ich erzählte ihm von Oskars Tätigkeit als Steinmetz und Schrifthauer. Wir fachsimpelten ein bißchen, bis er mich zu seinen Schülern brachte, damit die in mir das Bildhauermodell sahen und nach Oskar Gerüste bauten.
Von den zehn Schülern des Professors Maruhn waren, wenn lange Haare ein Geschlechtszeichen sind, sechs als Mädchen zu bezeichnen. Vier waren häßlich und begabt. Zwei waren hübsch, schwatzhaft und wirkliche Mädchen. Ich habe mich nie als Aktmodell geniert. Ja, Oskar genoß sogar das Erstaunen der beiden hübschen und schwatzhaften Bildhauermädchen, als die mich zum erstenmal auf der Drehscheibe musterten und leicht irritiert feststellten, daß Oskar, trotz Buckel, trotz sparsam bemessener Körpergröße ein Geschlechtsteil mit sich führte, welches sich notfalls mit jedem anderen, sogenannten normalen männlichen Attribut hätte messen können.
Mit den Schülern des Meisters Maruhn verhielt es sich etwas anders als mit dem Meister. Die hatten schon nach zwei Tagen die Gerüste stehen, taten genial und klatschten, von genialer Eile besessen, den Ton zwischen die hastig und unsachgemäß befestigten Bleirohre, hatten aber wohl zu wenig hölzerne Schmetterlinge in meinen Gerüstbuckel gehängt: denn kaum hing die Last des feuchtatmenden Modelliertones, Oskar ein wild zerklüftetes Aussehen gebend, in den Gerüsten, da neigte sich schon zehnmal der frischangelegte Oskar, da fiel mir der Kopf zwischen die Füße, da klatschte der Ton von den Bleirohren, da rutschte mir der Buckel in die Kniekehlen, da lernte ich den Meister Maruhn schätzen, der ein so vortrefflicher Gerüstbauer war, daß er das Kaschieren des Gerüstes mit dem billigen Stoff gar nicht nötig hatte.
Es gab sogar Tränen bei den häßlichen, aber begabten Bildhauermädchen, wenn der Ton-Oskar sich vom Gerüst-Oskar trennte. Die hübschen, aber schwatzhaften Bildhauermädchen lachten, wenn mir, fast sinnbildlich, das Fleisch zeitraffend von den Knochen fiel. Als es den Bildhauerlehrlingen dennoch gelang, nach mehreren Wochen einige brave Skulpturen zuerst in Ton, dann in Gips und Glanz für die Semesterschlußausstellung anzufertigen, hatte ich Gelegenheit, immer wieder neue Vergleiche zwischen den häßlichen und begabten, den hübschen, aber schwatzhaften Mädchen anzustellen. Während die garstigen, aber nicht kunstlosen Jungfrauen recht sorgfältig meinen Kopf, die Glieder, den Buckel nachbildeten, mein Geschlechtsteil jedoch aus merkwürdiger Scheu heraus entweder vernachlässigten oder albern stilisierten, verschwendeten die lieblichen, großäugigen, zwar schönfingrigen, dennoch ungeschickten Jungfrauen wenig Aufmerksamkeit an die gegliederten Maße meines Körpers, aber allen Fleiß an die haargenaue Nachbildung meiner ansehnlichen Genitalien. Um die vier bildhauernden jungen Männer in diesem Zusammenhang nicht zu vergessen, sei berichtet: die abstrahierten mich, klopften mich mit flachen gerillten Brettchen viereckig und ließen das, was die häßlichen Jungfrauen vernachlässigten, die lieblichen Jungfrauen wie fleischige Natur blühen ließen, mit trockenem Männerverstand als viereckig längliches Klötzchen über zwei gleich großen Würfeln wie das zeugungswütige Organ eines Baukastenkönigs in den Raum ragen.
Sei es meiner blauen Augen wegen, sei es der Heizsonnen wegen, die die Bildhauer um mich, den nackten Oskar, aufstellten: junge Maler, die die anmutigen Bildhauermädchen besuchten, entdeckten entweder im Augenblau oder in meiner angestrahlten, krebsrot glühenden Haut den malerischen Reiz, entführten mich aus den zu ebener Erde liegenden Bildhauer-und Grafikerateliers in die oberen Stockwerke und mischten fortan nach mir ihre Farben auf den Paletten.Anfangs waren die Maler noch allzusehr von meinem blauen Blick beeindruckt. So blau schien ich sie anzusehen, daß Malers Pinsel mich ganz und gar blau wollte. Oskars gesundes Fleisch, sein gewelltes Braunhaar, sein frischer, durchbluteter Mund welkten, schimmelten in makabren Blautönen; allenfalls, daß sich hier und da, die Verwesung noch beschleunigend, todkrankes Grün, speiübles Gelb zwischen meine blauen Fleischlappen schoben.
Oskar kam erst zu anderen Farben, als er während des Karnevals, der eine Woche lang in den Kellerräumen der Akademie gefeiert wurde, Ulla entdeckte und als Muse den Malern zuführte.
War es der Rosenmontag? Es war am Rosenmontag, da ich mich entschloß, mitzufeiern, kostümiert hinzugehen und einen kostümierten Oskar in die Menge zu mischen.
Maria sagte, als sie mich vor dem Spiegel sah: »Nu blaib zu Haus, Oskar. Die zertrampeln dir nur.«
Dann half sie mir doch beim Kostümieren, schnitt Stoffreste zu, die ihre Schwester Guste sogleich mit geschwätziger Nadel zu einem Narrenkleid zusammenfügte. Zuerst schwebte mir etwas im Stil Velazquez' vor. Auch hätte ich mich gerne als Feldherr Narses, womöglich als Prinz Eugen gesehen.
Als ich schließlich vor dem großen Spiegelglas stand, dem Kriegsereignisse zu einem diagonalen, das Spiegelbild leicht versetzenden Sprung verhelfen hatten, als das ganze bunte, gepluderte, geschlitzte, mit Schellen behängte Zeug deutlich wurde, meinen Sohn Kurt zu Gelächter und Hustenanfall reizte, sagte ich mir leise, nicht gerade glücklich: Nun bist du Yorick der Narr, Oskar. Doch wo gibt es einen König, den du narren könntest!?
Schon in der Straßenbahn, die mich zum Ratinger Tor, in die Nähe der Akademie bringen sollte, fiel mir auf, daß ich das Volk, alles was da als Cowboy und Spanierin das Büro und den Ladentisch verdrängen wollte, nicht zum Lachen brachte, sondern erschreckte. Man nahm Abstand, und so kam ich trotz des vollbesetzten Straßenbahnwagens in den Genuß eines Sitzplatzes. Vor der Akademie schwangen Polizisten ihre waschechten und gar nicht kostümierten Gummiknüppel. Der »Musentümpel« — so hieß das Fest der Kunstjünger — war überfüllt, die Menge versuchte dennoch das Gebäude zu erstürmen und setzte sich mit der Polizei teilweise blutig, auf jeden Fall farbig auseinander.
Als Oskar sein kleines Glöckchen, das ihm am linken Ärmel hing, sprechen ließ, teilte sich die Menge, ein Polizist, der von Berufs wegen meine Größe erkannte, salutierte von oben herab, fragte nach meinen Wünschen und geleitete mich, seinen Knüppel schwingend, in die festlichen Kellerräume — dort kochte das Fleisch, war aber noch nicht gar.
Nun darf niemand glauben, daß ein Künstlerfest ein Fest ist, auf dem Künstler ein Fest feiern. Die Mehrzahl der Akademiestudenten stand mit ernsten, angestrengten, wenn auch bemalten Gesichtern hinter originellen, aber etwas wackeligen Schanktischen und suchte, Bier, Sekt, Wiener Würstchen und schlecht eingeschenkte Schnäpse verkaufend, einen Nebenverdienst. Das eigentliche Künstlerfest wurde von Bürgern bestritten, die einmal im Jahre mit Geld um sich werfen, wie Künstler leben und feiern wollten.
Nachdem ich etwa ein Stündchen lang auf Treppen, in Ecken unter Tischen Pärchen erschreckt hatte, die im Begriff waren, der Unbequemlichkeit einen Reiz abzugewinnen, befreundete ich mich mit zwei Chinesinnen, die aber griechisches Blut in den Adern haben mußten, denn die praktizierten eine Liebe, die vor Jahrhunderten auf der Insel Lesbos besungen wurde. Wenn die beiden auch recht fix und vielfingerig einander zusetzten, ließen sie mich doch an den entscheidenden Stellen in Ruhe, boten mir eine teilweise recht amüsante Schau, tranken mit mir zu warmen Sekt und erprobten, mit meiner Erlaubnis, den Widerstand meines am äußersten Punkt recht stößigen Buckels, hatten wohl Glück dabei — was meine These einmal mehr bestätigt: ein Buckel bringt den Frauen Glück.
Dennoch machte mich dieser Umgang mit Frauen, je länger er dauerte, immer trauriger. Gedanken bewegten mich, Politik stimmte mich sorgenvoll, mit Sekt malte ich die Blockade der Stadt Berlin auf die Tischplatte, pinselte an der Luftbrücke, verzweifelte angesichts der beiden Chinesinnen, die nicht zusammenkommen konnten, an der Wiedervereinigung Deutschlands und tat, was ich sonst nie tat: Oskar suchte als Yorick den Sinn des Lebens.
Als meinen Damen nichts Sehenswertes mehr einfiel — sie verfielen dem Weinen, was ihren geschminkten Chinesengesichtern verräterische Spuren zeichnete — erhob ich mich geschlitzt, gepludert, mit Schellen lärmend, wollte zu zwei Dritteln nach Hause, suchte mit einem Drittel noch ein kleines karnevalistisches Erlebnis und sah — nein, er sprach mich an — den Obergefreiten Lankes.
Erinnern Sie sich noch? Wir begegneten ihm am Atlantikwall während des Sommers vierundvierzig.
Er bewachte dort den Beton und rauchte die Zigaretten meines Meisters Bebra.
Die Treppe, auf der man dichtgedrängt saß und knutschte, wollte ich hinauf, gab mir gerade selbst Feuer, da tippte es mich an, und ein Obergefreiter des letzten Weltkrieges sprach: »Äh, Kumpel, haste nich'n Zigarett för mich?«
Kein Wunder, daß ich ihn mit Hilfe dieser Rede, auch weil sein Kostüm feldgrau war, sofort erkannte.
Dennoch hätte ich diese Bekanntschaft nie aufgefrischt, hätte der Obergefreite und Betonmaler nicht die Muse persönlich auf dem feldgrauen Knie gehabt.
Lassen Sie mich erst mit dem Maler sprechen und später die Muse beschreiben. Nicht nur die Zigarette gab ich ihm, ließ auch mein Feuerzeug wirken und sagte, während er zu Rauch kam:
»Erinnern Sie sich, Obergefreiter Lankes? Bebras Fronttheater? Mystisch, barbarisch, gelangweilt?«Der Maler erschrak, als ich ihn so ansprach, ließ zwar nicht die Zigarette, aber die Muse von seinem Knie fallen. Ich fing das völlig betrunkene, langbeinige Kind auf und gab es ihm zurück.
Während wir beide, Lankes und Oskar, Erinnerungen austauschten, über den Oberleutnant Herzog, den Lankes einen Spinner nannte, schimpften, meines Meisters Bebra und auch der Nonnen gedachten, die damals zwischen dem Rommelspargel Krabben suchten, verwunderte ich mich über die Erscheinung der Muse. Sie war als Engel gekommen, trug einen Hut aus plastisch geformter Preßpappe, wie man sie zum Verpacken von Export-Eiern verwendet, und spiegelte trotz starker Trunkenheit, trotz traurig geknickter Flügel immer noch den leicht kunstgewerblichen Liebreiz einer Himmelsbewohnerin.
»Dat is Ulla«, klärte mich der Maler Lankes auf. »Die hat eijentlich Schneiderin jelernt, will aber jetzt in Kunst machen, was mia janich in mein Kram paßt, denn mit der Schneiderei verdient se was, mit Kunst nich.«
Da erbot sich Oskar, der ja mit der Kunst schönes Geld verdiente, die Schneiderin Ulla als Modell und Muse bei den Malern der Kunstakademie einzuführen. So begeistert war Lankes von meinem Vorschlag, daß er gleich drei Zigaretten aus meinem Päckchen zog, dafür seinerseits eine Einladung in sein Atelier hervorbrachte; nur müsse ich das Taxi bis dahin bezahlen, schränkte er die Einladung sogleich wieder ein.
Wir fuhren sofort, ließen den Karneval hinter uns, ich bezahlte das Taxi, und Lankes, der sein Atelier in der Sittarder Straße hatte, machte uns überm Spiritus einen Kaffee, der die Muse wieder belebte. Sie wirkte, nachdem sie sich mit Hilfe meines rechten Zeigefingers übergeben hatte, beinahe nüchtern.
Jetzt erst sah ich, daß sie sich aus hellblauen Augen ständig verwunderte, hörte auch ihre Stimme, die ein wenig piepsig, blechern, doch nicht ohne rührenden Liebreiz war. Als ihr der Maler Lankes meinen Vorschlag unterbreitete, ihr das Modellstehen in der Kunstakademie mehr befahl denn vorschlug, weigerte sie sich zuerst, wollte weder Muse noch Modell in der Kunstakademie werden, wollte nur dem Maler Lankes gehören. Doch jener gab ihr trocken und wortlos, wie es begabte Maler gerne tun, mit großer Hand einige Ohrfeigen, fragte sie nochmals und lachte zufrieden, schon wieder gutmütig, als sie sich schluchzend, genau wie ein Engel weinend, bereit erklärte, für die Maler der Kunstakademie zum gutbezahlten Modell und womöglich zur Muse zu werden.
Man muß sich vorstellen, daß Ulla etwa einen Meter achtundsiebenzig mißt, überschlank, lieblich und zerbrechlich ist und an Botticelli und Cranach gleichzeitig erinnert. Wir standen Doppelakt.
Langustenfleisch hat etwa die Farbe ihres langen und glatten Fleisches, den zarter kindlicher Flaum bedeckt. Ihr Haupthaar eher dünn, aber lang und strohblond. Die Schamhaare kraus rötlich, nur ein kleines Dreieck bewachsend. Unter den Armen rasiert Ulla sich wöchentlich.
Wie zu erwarten war, konnten die üblichen Kunstschüler nicht viel mit uns anfangen, machten ihr zu lange Arme, mir einen zu großen Kopf, verfielen also den Fehlern aller Anfänger: sie bekamen uns nicht ins Format.
Erst als uns Ziege und Raskolnikoff entdeckten, entstanden Bilder, die der Muse und Oskars Erscheinung gerecht wurden.
Sie schlafend, ich sie erschreckend: Faun und Nymphe.
Ich hockend, sie mit kleinen, immer ein wenig frierenden Brüsten über mich gebeugt, mein Haar streichelnd: Die Schöne und das Untier.
Sie liegend, ich zwischen ihren langen Beinen mit einer gehörnten Pferdemaske spielend: Die Dame und das Einhorn.
Das alles in Zieges oder Raskolnikoffs Stil, mal farbig, dann wieder in vornehmen Grautönen, mal mit feinem Pinsel detailliert, dann wieder in Zieges Manier mit genialem Spachtel hingeschmettert, mal das Geheimnisvolle um Ulla und Oskar nur angedeutet, und dann war es Raskolnikoff, der mit unserer Hilfe zum Surrealismus fand: da wurde Oskars Gesicht zu einem honiggelben Zifferblatt, wie es einst unsere Standuhr zeigte, da blühten in meinem Buckel mechanisch rankende Rosen, die Ulla zu pflücken hatte, da saß ich der oben lächelnden, unten langbeinigen Ulla im aufgeschnittenen Leib und hatte, zwischen ihrer Milz und Leber hockend, in einem Bilderbuch zu blättern. Auch steckte man uns gerne in Kostüme, machte aus Ulla die Kolumbine, aus mir einen weißgeschminkten traurigen Mimen.
Schließlich blieb es Raskolnikoff vorbehalten — man nannte ihn so, weil er ständig von Schuld und Sühne sprach — das ganz große Bild zu malen: Ich saß auf Ullas leichtbeflaumtem linkem Oberschenkel — nackt, ein verwachsenes Kindlein — sie gab die Madonna ab; Oskar hielt still für Jesus.
Dieses Bild wanderte später durch viele Ausstellungen, hieß dort: Madonna 49 — bewies auch als Plakat seine Wirkung, kam so meiner gutbürgerlichen Maria zu Augen, bewirkte häuslichen Krach und wurde dennoch für rundes Geld von einem rheinischen Industriellen gekauft — hängt wohl heute noch im Sitzungssaal eines Bürohochhauses und beeinflußt Vorstandsmitglieder.
Mich unterhielt jener begabte Unfug, den man mit meinem Buckel und meinen Proportionen anstellte.
Dazu kam, daß man Ulla und mir, begehrt wie wir waren, pro Stunde Doppelakt zwei Mark und fünfzig bezahlte. Auch Ulla fühlte sich als Modell wohl. Der Maler Lankes mit der großen schlagkräftigen Hand behandelte sie besser, seitdem sie regelmäßig Geld nach Hause brachte, und schlug sie nur noch, wenn seine genialen Abstraktionen von ihm eine zornige Hand verlangten. So war sie auch diesem Maler, der sie rein optisch nie als Modell benutzte, im gewissen Sinne eine Muse; denn nur jene Ohrfeigen, die er ihr austeilte, verliehen seiner Malerhand die wahre schöpferische Potenz.
Zwar reizte Ulla auch mich durch ihre weinerliche Zerbrechlichkeit, die im Grunde die Zähigkeit eines Engels war, zu Gewalttätigkeiten; dennoch konnte ich mich immer beherrschen und lud sie, wenn ich Gelüst nach einer Peitsche verspürte, in eine Konditorei ein, führte sie, leicht snobistisch, wie mich der Umgang mit Künstlern stimmte, als eine seltene hochgewachsene Pflanze neben meinen Proportionen auf der belebten und gaffenden Königsallee spazieren, kaufte ihr lila Strümpfe und rosa Handschuhe.
Anders verhielt es sich mit dem Maler Raskolnikoff, der mit Ulla, ohne ihr nahe zu treten, intimsten Umgang pflegte. So ließ er sie auf der Drehscheibe mit weitgeöffneten Beinen posieren, malte jedoch nicht, sondern nahm einige Schrittchen entfernt auf einem Schemel ihrer Scham gegenüber Platz, starrte, von Schuld und Sühne eindringlich flüsternd, in diese Richtung, bis die Scham der Muse feucht wurde, sich öffnete und auch Raskolnikoff durch bloßes Reden und Hinsehen zum befreienden Ergebnis kam, aufsprang vom Schemel und der Madonna 49 auf der Staffelei mit grandiosen Pinselhieben zusetzte.
Auch mich starrte Raskolnikoff manchmal, wenn auch aus anderen Gründen an. Er meinte, es fehle etwas an mir. Von einem Vakuum zwischen meinen Händen sprach er und drückte mir nacheinander Gegenstände zwischen die Finger, die ihm bei seiner surrealistischen Phantasie überreichlich in den Sinn kamen. So bewaffnete er Oskar mit einer Pistole, ließ mich als Jesus auf die Madonna zielen.
Eine Sanduhr, einen Spiegel mußte ich ihr hinhalten, der sie greulich verzerrte, weil er konvex war.
Scheren, Fischgräten, Telefonhörer, Totenköpfe, kleine Flugzeuge, Panzerwagen, Ozeandampfer hielt ich mit beiden Händen und füllte — Raskolnikoff merkte es schnell — das Vakuum dennoch nicht aus.
Oskar fürchtete sich vor dem Tag, da der Maler jenen Gegenstand bringen würde, welcher allein bestimmt war, von mir gehalten zu werden. Als er dann schließlich die Trommel brachte; schrie ich:
»Nein!«
Raskolnikoff: »Nimm die Trommel, Oskar, ich hab dich erkannt!«
Ich zitternd: »Nie wieder. Das ist vorbei!«
Er, düster: »Nichts ist vorbei, alles kommt wieder, Schuld, Sühne, abermals Schuld!«
Ich, mit letzter Kraft: »Oskar hat gebüßt, erlaßt ihm die Trommel, alles will ich halten, nur das Blech nicht!«
Ich weinte, als sich die Muse Ulla über mich beugte, und konnte, tränenblind wie ich war, nicht verhindern, daß sie mich küßte, daß mich die Muse schrecklich küßte — ihr alle, die ihr jemals einen Musenkuß empfinget, könnt sicher verstehen, daß Oskar sogleich nach dem stempelnden Kuß die Trommel, jenes Blech wieder an sich nahm, das er vor Jahren von sich gewiesen, im Sand des Friedhofes Saspe vergraben hatte.
Aber ich trommelte nicht. Ich posierte nur und wurde — schlimm genug — als trommelnder Jesus der Madonna 49 auf den linken nackten Oberschenkel gemalt.
So sah mich Maria auf dem Kunstplakat, das eine Kunstausstellung ankündigte. Sie besuchte ohne mein Wissen die Ausstellung, muß wohl lange und zornansammelnd vor dem Bild gestanden haben; denn als sie mich zur Rede stellte, schlug sie mich mit dem Schullineal meines Sohnes Kurt. Sie, die seit einigen Monaten eine gutbezahlte Arbeit in einem größeren Feinkostgeschäft zuerst als Verkäuferin, recht bald, bei ihrer Tüchtigkeit, als Kassiererin gefunden hatte, begegnete mir als nunmehr im Westen guteingebürgerte Person, war kein Schwarzhandel treibender Ostflüchtling mehr und konnte mich deshalb mit ziemlicher Überzeugungskraft ein Ferkel, einen Hurenbock, ein verkommenes Subjekt nennen, schrie auch, sie wolle das Saugeld, das ich mit der Schweinerei verdiene, nicht mehr sehen, auch mich wolle sie nicht mehr sehen.
Wenn Maria auch diesen letzten Satz bald zurücknahm und vierzehn Tage später einen nicht geringen Teil meines Modellgeldes wieder zum Wirtschaftsgeld zählte, entschloß ich mich dennoch, die Wohngemeinschaft mit ihr, mit ihrer Schwester Guste und meinem Sohn Kurt aufzugeben, wollte eigentlich weit fort, nach Hamburg, wenn möglich wieder ans Meer, doch Maria, die sich recht schnell mit meinem geplanten Umzug abfand, überredete mich, von ihrer Schwester Guste unterstützt, ein Zimmer in ihrer und Kurtchens Nähe, auf jeden Fall in Düsseldorf zu suchen.