KEIN WUNDER

Heute, im Bett meiner Heil-und Pflegeanstalt, vermisse ich oftmals jene mir damals dringlich zur Verfügung stehende Kraft, die durch Frost und Nacht hindurch Eisblumen auftaute, Schaufenster aufschloß und den Dieb bei der Hand nahm.

Wie gerne möchte ich, zum Beispiel, das verglaste Guckloch im oberen Drittel der Zimmertür entglasen, damit mich Bruno, mein Pfleger, direkter beobachten kann.

Wie litt ich im Jahr vor meiner Einweisung in die Anstalt am Unvermögen meiner Stimme. Wenn ich auf nächtlicher Straße den Schrei erfolgheischend losschickte und dennoch keinen Erfolg hatte, konnte es passieren, daß ich, der ich die Gewalttätigkeit verabscheute, zu einem Stein griff und in einer armseligen Vorstadtstraße Düsseldorfs ein Küchenfenster zum Ziel nahm. Besonders Vittlar, dem Dekorateur, hätte ich allzu gerne etwas vorgemacht. Wenn ich ihn nach Mitternacht, zur oberen Hälfte durch einen Vorhang geschützt, unten an seinen grünroten Wollsocken hinter der Schaufensterscheibe eines Herrenmodengeschäftes auf der Königsallee oder einer Parfümerie in der Nähe der ehemaligen Tonhalle erkannte, hätte ich jenem, der zwar mein Jünger ist oder sein könnte, gerne das Glas zersungen, weil ich immer noch nicht weiß, ob ich ihn Judas oder Johannes nennen soll.

Vittlar ist adlig und nennt sich Gottfried mit Vornamen. Wenn ich nach meinem beschämend vergeblichen Singversuch durch leichtes Trommeln an der heilen Schaufensterscheibe den Dekorateur auf mich aufmerksam machte, wenn er für ein Viertelstündchen auf die Straße trat, mit mir plauderte und über seine Dekorationskünste spottete, mußte ich ihn Gottfried nennen, weil meine Stimme nicht jenes Wunder hergab, das mir erlaubt hätte, ihn Johannes oder Judas zu heißen.

Der Gesang vor dem Juwelierladen, der Jan Bronski zum Dieb, meine Mama zur Besitzerin eines Rubinencolliers machte, sollte vorläufig meine Singerei vor Schaufenstern mit begehrenswerten Auslagen beenden. Mama wurde fromm. Was machte sie fromm? Der Umgang mit Jan Bronski, das gestohlene Collier, die süße Mühsal eines ehebrecherischen Frauenlebens machten sie fromm und lüstern nach Sakramenten. Wie gut sich die Sünde einrichten läßt: am Donnerstag traf man sich in der Stadt, ließ den kleinen Oskar beim Markus, hatte es in der Tischlergasse auf zumeist befriedigende Art und Weise anstrengend, erfrischte sich hernach im Cafe Weitzke bei Mokka und Gebäck, holte das Söhnchen beim Juden ab, ließ sich von dem einige Komplimente und ein Päckchen fast geschenkte Nähseide mitgeben, fand seine Straßenbahnlinie Fünf, genoß lächelnd und ganz woanders mit den Gedanken die Fahrt am Olivaer Tor vorbei durch die Hindenburgallee, nahm kaum jene Maiwiese neben der Sporthalle wahr, auf der Matzerath seine Sonntagvormittage zubrachte, ließ sich die Kurve um die Sporthalle herum gefallen — wie häßlich der Kasten sein konnte, wenn man gerade was Schönes erlebt hatte — noch eine Kurve links und hinter verstaubten Bäumen das Conradinum mit seinen rot-bemützten Schülern — wie hübsch, wenn doch Oskarchen auch solch eine rote Mütze mit dem goldenen C zu Gesicht stünde; zwölf einhalb wäre er, säße in der Quarta, käme jetzt ans Latein heran und trüge sich als ein richtiger kleiner, fleißiger, auch etwas frecher und hochmütiger Conradiner.

Hinter der Eisenbahnunterführung in Richtung Reichskolonie und Helene-Lange-Schule verloren sich die Gedanken der Frau Agnes Matzerath ans Conradinum, an die verpaßten Möglichkeiten ihres Sohnes Oskar. Noch eine Kurve links, an der Christuskirche mit dem Zwiebelturm vorbei, und am Max-Halbe-Platz, vor Kaisers-Kaffee-Geschäft, stieg man aus, warf noch einen Blick in die Schaufenster der Konkurrenz und mühte sich durch den Labesweg wie durch einen Kreuzweg: die beginnende Unlust, das anomale Kind an der Hand, das schlechte Gewissen und das Verlangen nach Wiederholung; mit Nichtgenug und Überdruß, mit Abscheu und gutmütiger Zuneigung für den Matzerath mühte sich meine Mama mit mir, meiner neuen Trommel, dem Päckchen halbgeschenkter Nähseide durch den Labesweg zum Geschäft, zu den Haferflocken, zum Petroleum neben dem Heringsfäßchen, zu den Korinthen, Rosinen, Mandeln und Pfefferkuchengewürzen, zu Dr. Oetkers Backpulver, zu Persil bleibt Persil, zu Urbin, ich hab's, zu Maggi und Knorr, zu Kathreiner und Kaffee Hag, zu Vitello und Palmin, zu Essig-Kühne und Vierfruchtmarmelade, zu jenen beiden in verschiedenen Stimmlagen summenden Fliegenfängern führte mich Mama, die honigsüß über unserem Ladentisch hingen und im Sommer alle zwei Tage gewechselt werden mußten, während Mama jeden Sonnabend mit ähnlich übersüßer Seele, die sommers und winters, das ganze Jahr über hoch und niedrig summende Sünden anlockte, in die Herz-Jesu-Kirche ging und Hochwürden Wiehnke beichtete.

Wie mich Mama am Donnerstag in die Stadt mitnahm und mich sozusagen zum Mitschuldigen machte, nahm sie mich sonnabends mit durchs Portal auf die kühlen katholischen Fliesen, stopfte mir zuvor die Trommel unter den Pullover oder das Mäntelchen, denn ohne Trommel ging es nun einmal nicht bei mir, und ohne Blech vor dem Bauch hätte ich niemals, Stirn, Brust und Schultern berührend, das katholische Kreuz geschlagen, wie beim Schuhanziehen das Knie gebeugt und mich mit langsam trocknendem Weihwasser über der Nasenwurzel auf dem blanken Kirchenholz ruhig verhalten.

Ich erinnerte mich der Herz-Jesu-Kirche noch von der Taufe her: es hatte Schwierigkeiten des heidnischen Namens wegen gegeben, doch man bestand auf Oskar, und Jan, als Pate, sagte auch so im Kirchenportal. Dann blies mir Hochwürden Wiehnke dreimal ins Angesicht, das sollte den Satan in mir vertreiben, dann wurde das Kreuz geschlagen, die Hand aufgelegt, Salz gestreut und noch einmal etwas gegen Satan unternommen. In der Kirche abermals Halt vor der eigentlichen Taufkapelle. Ich verhielt mich ruhig, während mir das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser geboten wurden.

Danach fand es Hochwürden Wiehnke angebracht, noch einmal Weiche Satan zu sagen, und er glaubte mir, der ich doch schon immer Bescheid wußte, die Sinne zu öffnen, indem er Oskars Nase und Ohren berührte. Dann wollte er es noch einmal deutlich und laut hören, fragte: »Widersagst du dem Satan?

Und all seinen Werken? Und all seinem Gepränge?«

Bevor ich den Kopf schütteln konnte — denn ich dachte nicht daran, zu verzichten — sagte Jan dreimal, stellvertretend für mich: »Ich widersage.«

Ohne daß ich es mir mit Satan verdorben hatte, salbte Hochwürden Wiehnke mich auf der Brust und zwischen den Schultern. Vor dem Taufbrunnen abermals das Glaubensbekenntnis, dann endlich dreimal Wasser, Salbung mit Chrisam auf der Kopfhaut, ein weißes Kleid zum Fleckendraufmachen, die Kerze für dunkle Tage, die Entlassung — Matzerath zahlte — und als mich Jan vor das Portal der Herz-Jesu-Kirche trug, wo das Taxi bei heiterem bis wolkigem Wetter wartete, fragte ich Satan in mir:

»Alles gut überstanden?«

Satan hüpfte und flüsterte: »Hast du die Kirchenfenster gesehen, Oskar? Alles aus Glas, alles aus Glas!«

Die Herz-Jesu-Kirche wurde während der Gründerjahre erbaut und wies sich deshalb stilistisch als neugotisch aus. Da man schnelldunkelnden Backstein vermauert hatte und der mit Kupfer verkleidete Turmhelm flink zum traditionellen Grünspan gekommen war, blieben die Unterschiede zwischen altgotischen Backsteinkirchen und der neueren Backsteingotik nur für den Kenner sichtbar und peinlich. Gebeichtet wurde in alten und neueren Kirchen auf dieselbe Weise. Genau wie Hochwürden Wiehnke hielten hundert andere Hochwürden am Sonnabend nach Büro-und Geschäftsschluß das haarige Priesterohr im Beichtstuhl sitzend gegen ein blankes, schwärzliches Gitter, und die Gemeinde versuchte, durch die Drahtmaschen hindurch jene Sündenschnur dem Priesterohr einzufädeln, an welcher sich Perle um Perle sündhaft billiger Schmuck reihte.

Während Mama durch Hochwürden Wiehnkes Gehörkanal den höchsten Instanzen der alleinseligmachenden Kirche, dem Beichtspiegel folgend, mitteilte, was sie getan und unterlassen hatte, was da geschehen war in Gedanken, Worten und Werken, verließ ich, der ich nichts zu beichten hatte, das mir allzu geglättete Kirchenholz und stellte mich auf die Fliesen.

Ich gebe zu, daß die Fliesen in katholischen Kirchen, daß der Geruch einer katholischen Kirche, daß mich der ganze Katholizismus heute noch unerklärlicher Weise wie, nun, wie ein rothaariges Mädchen fesselt, obgleich ich rote Haare umfärben möchte und der Katholizismus mir Lästerungen eingibt, die immer wieder verraten, daß ich, wenn auch vergeblich, dennoch unabänderlich katholisch getauft bin.

Oft ertappe ich mich während banalster Vorgänge, etwa beim Zähneputzen, selbst beim Stuhlgang, Kommentare zur Messe reihend, wie: In der heiligen Messe wird die Blutvergießung Christi erneuert, damit es fließe zu deiner Reinigung, das ist der Kelch seines Blutes, wird der Wein wirklich und wahrhaftig, sooft das Blut Christi vergossen wird, das wahre Blut Christi ist vorhanden, durch die Anschauung des heiligen Blutes, die Seele wird mit dem Blut Christi besprengt, das kostbare Blut, mit dem Blute gewaschen, bei der Wandlung fließt das Blut, das blutbefleckte Korporale, die Stimme des Blutes Christi dringt durch alle Himmel, das Blut Christi verbreitet einen Wohlgeruch vor dem Angesichte Gottes.

Sie werden zugeben müssen, daß ich mir einen gewissen katholischen Tonfall bewahrt habe. Früher konnte ich nicht auf Straßenbahnen warten, ohne gleichzeitig der Jungfrau Maria zu gedenken. Ich nannte sie liebreiche, selige, gebenedeite, Jungfrau der Jungfrauen, Mutter der Barmherzigkeit, Du Seliggepriesene, Du, aller Verehrung Würdige, die Du geboren hast den, süße Mutter, jungfräuliche Mutter,glorreiche Jungfrau, laß mich verkosten die Süßigkeit des Namens Jesu, wie Du sie in Deinem mütterlichen Herzen verkostet hast, wahrhaft würdig und recht ist es, gebührend und heilsam, Königin, gebenedeite, gebenedeite...

Dieses Wörtchen »gebenedeit« hatte mich zeitweise, vor allen Dingen, als Mama und ich die Herz-Jesu-Kirche jeden Sonnabend besuchten, so versüßt und vergiftet, daß ich dem Satan dankte, weil er in mir die Taufe überstanden hatte und mir ein Gegengift lieferte, das mich zwar lästernd, aber doch aufrecht über die Fliesen der Herz-Jesu-Kirche schreiten ließ.

Jesus, nach dessen Herz die Kirche benannt war, zeigte sich, außer in den Sakramenten, mehrmals malerisch auf den bunten Bildchen des Kreuzganges, dreimal plastisch und dennoch farbig in verschiedenen Positionen.

Da gab es jenen in bemaltem Gips. Langhaarig stand er in preußisch-blauem Rock auf goldenem Sockel und trug Sandalen. Er öffnete sich das Gewand über der Brust und zeigte in der Mitte des Brustkastens, aller Natur zum Trotz, ein tomatenrotes, glorifiziertes und stilisiert blutendes Herz, damit die Kirche nach diesem Organ benannt werden konnte.

Gleich bei der ersten Besichtigung des offenherzigen Jesus mußte ich feststellen, in welch peinlicher Vollkommenheit der Heiland meinem Taufpaten, Onkel und mutmaßlichen Vater Jan Bronski glich.

Diese naiv selbstbewußten, blauen Schwärmeraugen! Dieser blühende, immer zum Weinen bereite Kußmund! Dieser die Augenbrauen nachzeichnende männliche Schmerz! Volle, durchblutete Wangen, die gezüchtigt werden wollten. Es hatten beide jenes die Frauen zum Streicheln verführende Ohrfeigengesicht, dazu die weibisch müden Hände, die gepflegt und arbeitsscheu ihre Stigmata wie Meisterarbeiten eines für Fürstenhöfe schaffenden Juweliers zur Schau stellten. Mich peinigten die dem Jesus ins Gesicht gepinselten, mich väterlich mißverstehenden Bronskiaugen. Hatte doch ich denselben blauen Blick, der nur begeistern, nicht überzeugen konnte.

Oskar wandte sich vom Herz Jesu im rechten Kirchenschiff ab, hastete von der ersten Kreuzwegstation, da Jesus das Kreuz auf sich nimmt, bis zur siebenten Station, da er zum zweitenmal unter dem Kreuz fällt, zum Hochaltar, über dem der nächste, gleichfalls vollplastische Jesus hing. Der hielt jedoch die Augen übermüdet oder, um sich besser konzentrieren zu können, geschlossen. Was hatte der Mann für Muskeln! Dieser Athlet mit der Figur eines Zehnkämpfers Ließ mich den Herz-Jesu-Bronski sofort vergessen, sammelte mich, sooft Mama Hochwürden Wiehnke beichtete, andächtig und den Turner beobachtend vor dem Hochaltar. Glauben Sie mir, daß ich betete! Mein süßer Vorturner, nannte ich ihn, Sportler aller Sportler, Sieger im Hängen am Kreuz unter Zuhilfenahme zölliger Nägel. Und niemals zuckte er! Das ewige Licht zuckte, er aber erfüllte die Disziplin mit der höchstmöglichen Punktzahl. Die Stoppuhren tickten. Man nahm ihm die Zeit ab. Schon putzten in der Sakristei etwas schmutzige Meßdienerfinger die ihm gebührende Goldmedaille. Aber Jesus trieb seinen Sport nicht um der Ehrungen willen. Es fiel mir der Glaube ein. Ich kniete, wenn es nur irgend mein Knie erlaubte, nieder, schlug das Kreuz auf meiner Trommel und versuchte Worte wie gebenedeit oder schmerzensreich in Verbindung mit Jesse Owens und Rudolf Harbig, mit der vorjährigen Berliner Olympiade zu verbinden; was mir nicht immer gelang, weil ich Jesus den Schachern gegenüber unfair nennen mußte. So disqualifizierte ich ihn und drehte den Kopf nach links, sah dort, neue Hoffnung knüpfend, des himmlischen Turners dritte plastische Darstellung im Inneren der Herz-Jesu-Kirche.

»Laß mich erst beten, wenn ich dich dreimal gesehen habe«, stammelte ich dann, fand wieder mit den Schuhsohlen die Fliesen, benutzte das Schachmuster, um zum linken Seitenaltar zu kommen, und spürte bei jedem Schritt: Er schaut dir nach, die Heiligen schauen dir nach, Petrus, den sie mit dem Kopf nach unten, Andreas, den sie aufs schräge Kreuz nagelten — deshalb Andreaskreuz. Außerdem gibt es ein Griechisches Kreuz neben dem Lateinischen Kreuz oder Passionskreuz. Wiederkreuze, Krückenkreuze und Stufenkreuze werden auf Stoffen, Bildern und in Büchern abgebildet. Das Tatzenkreuz, Ankerkreuz und Kleeblattkreuz sah ich plastisch gekreuzt. Schön ist das Glevenkreuz, begehrt das Malteserkreuz, verboten das Hakenkreuz, de Gaulies Kreuz, das Lothringer Kreuz, man nennt das Antoniuskreuz bei Seeschlachten: Crossing the T. Am Kettchen das Henkelkreuz, häßlich das Schächerkreuz, päpstlich des Papstes Kreuz, und jenes Russenkreuz nennt man auch Lazaruskreuz.

Dann gibt's das Rote Kreuz. Blau ohne Alkohol kreuzt sich das Blaue Kreuz. Gelbkreuz vergiftet dich, Kreuzer versenken sich, Kreuzzug bekehrte mich, Kreuzspinnen fressen sich, auf Kreuzungen kreuzt ich dich, kreuzundquer, Kreuzverhör, Kreuzworträtsel sagt, löse mich. Kreuzlahm, ich drehte mich, ließ das Kreuz hinter mir, und auch dem Turner am Kreuz wandte ich meinen Rücken auf die Gefahr hin zu, daß er mich ins Kreuz träte, weil ich mich der Jungfrau Maria näherte, die den Jesusknaben auf ihrem rechten Oberschenkel hielt.

Oskar stand vor dem linken Seitenaltar des linken Kirchenschiffes. Maria hatte den Gesichtsausdruck, den seine Mama gehabt haben mußte, als sie als siebzehnjähriges Ladenmädchen auf dem Troyl kein Geld fürs Kino hatte, sich aber ersatzweise und einfühlsam Film-plakate mit Asta Nielsen ansah.

Sie widmete sich nicht Jesus, sondern betrachtete den anderen Knaben an ihrem rechten Knie, den ich, um Irrtümer zu vermeiden, sogleich Johannes den Täufer nenne. Beide Knaben hatten meine Größe.

Dem Jesus hätte ich, genau befragt, zwei Zentimeter mehr gegeben, obgleich er den Texten nach jünger war als der Täuferknabe. Es hatte dem Bildhauer Spaß gemacht, den dreijährigen Heiland nackt und rosa darzustellen. Johannes trug, weil er ja später in die Wüste ging, ein schokoladenfarbenes Zottelfell, das seine halbe Brust, den Bauch und sein Gießkännchen verdeckte.

Oskar hätte besser vor dem Hochaltar oder unverbindlich neben dem Beichtstuhl verweilt als in der Nähe dieser zwei recht altklug und ihm erschreckend ähnlich dreinblickenden Knaben. Natürlich hatten sie blaue Augen und sein kastanienbraunes Haar. Es hätte nur noch gefehlt, daß der bildhauernde Friseur den beiden Oskars Bürstenfrisur gegeben, ihnen die albernen Korkenzieherlocken abgeschnitten hätte.

Nicht zu lange will ich mich bei dem Täuferknaben aufhalten, der mit dem linken Zeigefinger auf den Jesusknaben deutete, als wolle er gerade abzählen: »Ich und du, Müllers Kuh ...« Ohne mich auf Abzählspiele einzulassen, nenne ich Jesus beim Namen und stelle fest: Eineiig! Der hätte mein Zwillingsbruder sein können. Der hatte meine Statur, mein damals noch nur als Gießkännchen benutztes Gießkännchen. Der schaute mit meinen Bronskiaugen kobaltblau in die Welt und zeigte, was ich ihm am meisten verübelte, meine Gestik.

Beide Arme hob mein Abbild, schloß die Hände dergestalt zu Fäusten, daß man getrost etwas hätte hineinstecken können, zum Beispiel meine Trommelstöcke; und hätte der Bildhauer das getan, ihm dazu auf die rosa Oberschenkel meine weißrote Blechtrommel gegipst, wäre ich es gewesen, der perfekteste Oskar, der da auf dem Knie der Jungfrau saß und die Gemeinde zusammentrommelte. Es gibt Dinge auf dieser Welt, die man — so heilig sie sein mögen — nicht auf sich beruhen lassen darf!

Drei einen Teppich mitziehende Stufen führten zur grünsilbrig gewandeten Jungfrau, zum schokoladenfarbenen Zottelfell des Johannes und zum kochschinkenfarbenen Jesusknaben hinauf. Es gab da einen Marienaltar mit bleichsüchtigen Kerzen und Blumen in allen Preislagen. Der grünen Jungfrau, dem braunen Johannes und dem rosigen Jesus klebten tellergroße Heiligenscheine an den Hinterköpfen. Blattgold verteuerte die Teller.

Hätte es nicht die Stufen vor dem Altar gegeben, wäre ich nie hinaufgestiegen. Stufen, Türdrücker und Schaufenster verführten Oskar zu jener Zeit und lassen ihn selbst heute, da ihm sein Anstaltsbett doch genug sein sollte, nicht gleichgültig. Er ließ sich von einer Stufe zur nächsten verführen und blieb dabei immer auf demselben Teppich. Um das Marienaltärchen herum waren sie Oskar ganz nah und erlaubten seinem Knöchel ein teils geringschätziges, teils respektvolles Abklopfen der Dreiergruppe.

Seinen Fingernägeln ermöglichte sich jenes Schaben, welches unter der Farbe den Gips deutlich macht. Der Faltenwurf der Jungfrau verfolgte sich, Umwege machend, bis zu den Fußspitzen auf der Wolkenbank. Das knapp angedeutete Schienbein der Jungfrau ließ ahnen, daß der Bildhauer zuerst das Fleisch angelegt hatte, um es hinterher mit Faltenwurf zu überschwemmen.

Als Oskar das Gießkännchen des Jesusknaben, das fälschlicherweise nicht beschnitten war, eingehend betastete, streichelte und vorsichtig drückte, als wolle er es bewegen, spürte er auf teils angenehme, teils neu verwirrende Art sein eigenes Gießkännchen, ließ daraufhin dem Jesus seines in Ruhe, damit seines ihn in Ruhe lasse.

Beschnitten oder unbeschnitten, ich ließ das auf sich beruhen, zog meine Trommel unter dem Pullover hervor, nahm sie mir vom Hals und hing sie, ohne dabei den Heiligenschein zu zerbrechen, dem Jesus um. Das machte mir bei meiner Größe etwas Mühe. Die Skulptur mußte ich besteigen, um von der Wolkenbank aus, die den Sockel ersetzte, Jesus instrumentieren zu können.

Oskar tat das nicht etwa anläßlich seines ersten Kirchenbesuches nach der Taufe, im Januar sechsunddreißig, sondern während der Karwoche desselben Jahres. Seine Mama hatte den ganzen Winter hindurch Mühe gehabt, mit der Beichte ihrem Verhältnis zu Jan Bronski nachzukommen. So fand Oskar Zeit und Sonnabende genug, sein geplantes Vorhaben auszudenken, zu verdammen, zu rechtfertigen, neu zu planen, von allen Seiten zu beleuchten, um es endlich, alle vorherigen Pläne verwerfend, schlicht, direkt, mit Hilfe des Stufengebetes am Karmontag auszuführen.

Da Mama noch vor dem Höhepunkt des Ostergeschäftes die Beichte verlangte, nahm sie mich am Abend des Karmontag bei der Hand, führte mich Labesweg, Ecke Neuer Markt in die Eisenstraße, Marienstraße, am Fleischerladen Wohlgemuth vorbei, am Kleinhammerpark links einbiegend durch die Eisenbahnunterführung, in der es immer gelblich und ekelhaft tropfte, zur und in die Herz-Jesu-Kirche, dem Bahndamm gegenüber.

Wir kamen spät. Nur noch zwei alte Frauen und ein verhemmter junger Mann warteten vor dem Beichtstuhl. Während Mama bei der Gewissenserforschung war — sie blätterte im Beichtspiegel wie über Geschäftsbüchern, den Daumen anfeuchtend, eine Steuererklärung erfindend — glitt ich aus dem Eichenholz, suchte, ohne dem Herz Jesu und dem Turner am Kreuz unter die Augen zu geraten, den linken Seitenaltar auf.

Obgleich es schnell gehen mußte, tat ich es nicht ohne IntroitusL Drei Stufen: Introibo ad altare Dei.

Zu Gott, der mich erfreut von Jugend auf. Die Trommel vom Hals, das Kyrie ausdehnend hinauf auf die Wolkenbank, kein Verweilen beim Gießkännchen, vielmehr, kurz vor dem Gloria, dem Jesus das Blech umgehängt, Vorsicht beim Heiligenschein, runter von der Wolkenbank, Nachlaß, Vergebung und Verzeihung, aber zuvor noch die Knüppel in Jesu maßgerechte Griffe, eins, zwei, drei Stufen, ich erhebe meine Augen zu den Bergen, noch etwas Teppich, endlich die Fliesen und ein Betschemelchen für Oskar, der niederkniete auf dem Pölsterchen und die Trommlerhände vor dem Gesicht faltete — Gloria in excelsis Deo — an den gefalteten Händen vorbei zum Jesus und seiner Trommel hinblinzelte und auf das Wunder wartete: wird er nun trommeln, oder kann er nicht trommeln, oder darf er nicht trommeln, entweder er trommelt, oder er ist kein echter Jesus, eher ist Oskar ein echter Jesus als der, falls er nicht doch noch trommelt.

Wenn man ein Wunder will, muß man warten können. Nun, ich wartete, tat's anfangs geduldig, vielleicht nicht geduldig genug, denn je länger ich mir den Text »Alle Augen warten auf dich, o Herr« wiederholte, dabei für Augen zweckentsprechend, Ohren einsetzte, um so enttäuschter fand sich Oskar auf dem Betschemelchen. Zwar bot er dem Herrn allerlei Chancen, schloß die Augen, damit sich jener, weil unbeobachtet, eher zu einem vielleicht noch ungeschickten Anfang entschlösse, doch schließlich, nach dem dritten Credo, nach Vater, Schöpfer, sichtbarer und unsichtbarer, und den eingeborenen Sohn, aus dem Vater, wahrer vom wahren, gezeugt, nicht geschaffen, eines mit dem, durch ihn, für uns und um unseres ist er von herab, hat angenommen durch, aus, ist geworden, wurde sogar für, unter hat er, begraben, auferstanden gemäß, aufgefahren in, sitzet zur des, wird in zu halten über und Tote, kein Ende, ich glaube an, wird mit dem, zugleich, hat gesprochen durch, glaube an die eine, heilige, katholische und ...

Nein, da roch ich ihn nur noch, den Katholizismus. Von Glaube konnte wohl kaum mehr die Rede sein. Audi auf den. Geruch gab ich nichts, wollte was anderes geboten bekommen: mein Blech wollte ich hören, Jesus sollte mir etwas zum Besten geben, ein kleines halblautes Wunder! Mußte ja nicht zum Gedröhn werden, mit herbeistürzendem Vikar Rasczeia und mühsam sein Fett zum Wunder hinschleppenden Hochwürden Wiehnke, mit Protokollen zum Bischofssitz nach Oliva und bischöflichen Gutachten in Richtung Rom. Nein, ich hatte da keinen Ehrgeiz, Oskar wollte nicht heilig gesprochen werden. Ein kleines privates Wunderchen wollte er, damit er hören und sehen konnte, damit ein für allemal feststand, ob Oskar dafür oder dagegen trommeln sollte, damit laut wurde, wer von den beiden Blauäugigen, Eineiigen sich in Zukunft Jesus nennen durfte.

Ich saß und wartete. Inzwischen wird Mama im Beichtstuhl sein und womöglich das sechste Gebot schon hinter sich haben, sorgte ich mich. Der alte Mann, der immer durch die Kirchen wackelt, wackelte am Hauptaltar, schließlich am linken Seitenaltar vorbei, grüßte die Jungfrau mit den Knaben, sah vielleicht die Trommel, doch begriff er sie nicht. Er schlurfte weiter und wurde älter dabei.

Die Zeit verging, meine ich, aber Jesus schlug nicht auf die Trommel. Vom Chor herunter hörte ich Stimmen. Hoffentlich will niemand orgeln, bangte ich. Die bekommen es fertig, proben für Ostern und übertünchen mit ihrem Gebrause womöglich den gerade beginnenden, hauchdünnen Wirbel des Jesusknaben.

Sie orgelten nicht. Jesus trommelte nicht. Es fand kein Wunder statt, und ich erhob mich vom Polster, ließ die Knie knacken und gängelte mich angeödet und mürrisch über den Teppich, zog mich von Stufe zu Stufe, unterließ aber alle mir bekannten Stufengebete, bestieg die Gipswolke, warf dabei Blumen in mittlerer Preislage um und wollte dem blöden Nackedei meine Trommel abnehmen.

Ich sag es heute und sag es immer wieder: Es war ein Fehler, ihn unterrichten zu wollen. Was befahl mir, ihm zuerst die Stöcke abzunehmen, ihm das Blech zu lassen, mit den Stöcken erst leise, dann jedoch wie ein ungeduldiger Lehrer, dem falschen Jesus vortrommelnd etwas vorzutrommeln, ihm dann die Knüppel wieder in die Hände zu drücken, damit jener beweisen konnte, was er bei Oskar gelernt hatte.

Bevor ich dem verstocktesten aller Schüler Knüppel und Blech, ohne Rücksicht auf den Heiligenschein, abnehmen konnte, war Hochwürden Wiehnke hinter mir — meine Trommelei hatte die Kirche hoch und breit ausgemessen — war der Vikar Rasczeia hinter mir, Mama hinter mir, alter Mann hinter mir, und der Vikar riß mich, und Hochwürden patschte mich, und Mama weinte mich aus, und Hochwürden flüsterte mich an, und der Vikar ging ins Knie und ging hoch und nahm Jesus die Knüppel ab, ging mit den Knüppeln nochmals ins Knie und hoch zu der Trommel, nahm ihm die Trommel ab, knickte den Heiligenschein, stieß ihm das Gießkännchen an, brach etwas Wolke ab und fiel die Stufen, Knie, nochmals Knie, zurück, wollte mir die Trommel nicht geben, machte mich ärgerlicher, als ich es war, zwang mich, Hochwürden zu treten und Mama zu beschämen, die sich auch schämte, weil ich getreten, gebissen, gekratzt hatte und mich dann losriß von Hochwürden, Vikar, altem Mann und Mama, stand gleich darauf vor dem Hochaltar, spürte Satan in mir hüpfen und hörte ihn wie bei der Taufe: »Oskar«, flüsterte Satan, »schau dich um, überall Fenster, alles aus Glas, alles aus Glas!«

Und über den Turner am Kreuz hinweg, der nicht zuckte, der schwieg, sang ich die drei hohen Fenster der Apsis an, die rot, gelb und grün auf blauem Grund zwölf Apostel darstellten. Zielte aber weder auf Markus noch auf Matthäus. Auf jene Taube über ihnen, die auf dem Kopf stand und Pfingsten feierte, auf den Heiligen Geist zielte ich, kam ins Vibrieren, kämpfte mit meinem Diamanten gegen den Vogel und: Lag es an mir? Lag es am Turner, der, weil er nicht zuckte, Einspruch erhob? War das das Wunder, und keiner begriff es? Sie sahen mich zittern und lautlos gegen die Apsis hinströmen, nahmen es, außer Mama, als Beten, während ich doch Scherben wollte; aber Oskar versagte, seine Zeit war noch nicht gekommen. Auf die Fliesen ließ ich mich fallen und weinte bitterlich, weil Jesus versagt hatte, weil Oskar versagte, weil Hochwürden und Rasczeia mich falsch verstanden, sogleich von Reue faselten. Nur Mama versagte nicht. Sie verstand meine Tränen, obgleich sie froh sein mußte, daß es keine Scherben gegeben hatte..

Da nahm mich Mama auf den Arm, bat sich vom Vikar Trommel und Knüppel zurück, versprach Hochwürden, den Schaden wiedergutzumachen, erhielt auch von jenem nachträglich, weil ich die Beichteunterbrochen hatte, die Absolution; auch Oskar bekam etwas Segen ab, doch das sagte mir nichts.

Während Mama mich aus der Herz-Jesu-Kirche trug, zählte ich an meinen Fingern ab: Heute ist Montag, morgen Kardienstag, Mittwoch, Gründonnerstag, und Karfreitag ist Schluß mit ihm, der nicht einmal trommeln kann, der mir keine Scherben gönnt, der mir gleicht und doch falsch ist, der ins Grab muß, während ich weitertrommeln und weitertrommeln, aber nach keinem Wunder mehr Verlangen zeigen werde.