BRAUSEPULVER
Ist Ihnen das ein Begriff? Früher war es zu jeder Jahreszeit in flachen Tüten erhältlich. Meine Mama verkaufte in unserem Laden ein zum Erbrechen grünes Tütchen Waldmeisterbrausepulver. Ein Tütchen, dem nicht ganz reife Orangen die Farbe geliehen hatten, nannte sich: Brausepulver mit Apfelsinengeschmack. Ferner gab es Brausepulver mit Himbeergeschmack, auch Brausepulver, das, wenn man es mit klarem Leitungswasser übergoß, zischte, sprudelte, aufgeregt tat, das, wenn man's trank, bevor es sich beruhigte, entfernt, von weit her nach Zitrone schmeckte, und auch die Farbe im Glas hatte, nur etwas eifriger noch: ein sich als Gift aufspielendes, künstliches Gelb.
Was stand außer der Geschmacksrichtung weiter auf den Tütchen? Es stand da: Naturprodukt — Gesetzlich geschützt — Vor Nässe zu bewahren — und unterhalb einer gepunkteten Linie stand: Hier reißen.
Wo konnte man das Brausepulver sonst noch kaufen? .Nicht nur im Laden meiner Mama, in jedem Kolonialwarengeschäft — nur nicht bei Kaisers-Kaffee und in den Konsumläden — konnte man das oben beschriebene Pülverchen kaufen. Dort und in allen Erfrischungsbuden kostete das Tütchen Brausepulver drei Guldenpfennige.
Maria und ich bekamen das Brausepulver gratis. Nur wenn wir nicht warten konnten, bis wir zu Hause waren, mußten wir in Kolonialwarenhandlungen oder vor Erfrischungsbuden drei Pfennige zahlen oder gar sechs, weil wir nicht genug bekommen konnten und zwei flache Tütchen verlangten.
Wer fing an mit dem Brausepulver? Die alte Streitfrage zwischen Liebenden. Ich sage, Maria fing an.
Maria hat nie behauptet, Oskar habe angefangen. Sie ließ diese Frage offen und hätte, peinlich befragt, allenfalls zur Antwort gegeben: »Das Brausepulver hat angefangen.«
Natürlich wird jedermann Maria recht geben. Nur Oskar konnte sich mit diesem Schuldspruch nicht bescheiden. Nie hätte ich mir eingestehen mögen: Ein Tütchen Brausepulver zu drei Pfennigen Ladenpreis vermochte Oskar zu verführen. Ich war damals sechzehn Jahre alt und legte Wert darauf, mich selbst, allenfalls Maria, aber niemals ein vor Nässe zu schützendes Brausepulver schuldig zu sprechen.
Es begann wenige Tage nach meinem Geburtstag. Die Badesaison ging dem Kalender nach zu Ende.
Das Wetter jedoch wollte noch nichts vom September wissen. Nach einem verregneten August zeigte der Sommer, was er konnte; es ließen sich seine nachträglichen Leistungen auf der Tafel neben dem Anschlag der Lebensrettungsgesellschaft, den man der Bademeisterkajüte angenagelt hatte, ablesen: Luft 29 — Wasser 20 — Wind Südost — vorwiegend heiter.
Während Fritz Truczinski als Luftwaffen-Obergefreiter Postkarten aus Paris, Kopenhagen, Oslo und Brüssel schrieb — der Kerl war immer auf Dienstreisen — kamen Maria und ich zu einiger Sonnenbräune. Im Juli hatten wir unser Stammplätzchen vor der Sonnenwand des Familienbades. Da Maria dort vor den ungeschickten Scherzen der rotbehosten Sekundaner des Conradinums und vor den langweilig umständlichen Liebeserklärungen eines Obersekundaners der Petri-Oberschule nicht sicher war, gaben wir Mitte August das Familienbad auf und fanden im Damenbad ein weit ruhigeres Plätzchen, nahe dem Wasser, wo sich dicke, gleich den kurzen Ostseewellen kurzatmig schnaufende Damen bis zu den Krampfadern der Kniekehlen in den Fluten ergingen, wo Kleinkinder nackt und unerzogen gegen das Schicksal ankämpften; das heißt, sie kleckerten Sandburgen, die immer wieder zusammenfielen.Das Damenbad: wenn Frauen unter sich sind, sich unbeobachtet glauben, sollte ein Jüngling, wie ihn Oskar damals in sich zu verbergen wußte, die Augen schließen und sich nicht zum unfreiwilligen Zeugen ungenierten Frauentums machen lassen.
Wir lagen im Sand. Maria im grünen, rotumbordeten Badeanzug, ich hatte mir meinen blauen angepaßt. Der Sand schlief, die See schlief, die Muscheln waren zertreten und hörten nicht zu.
Bernstein, der angeblich wachhält, gab es woanders, der Wind, der der Wettertafel nach aus Südost kam, schlief langsam ein, der ganze weite, sicher überanstrengte Himmel hörte nicht mehr auf mit dem Gähnen; auch Maria und ich waren etwas müde. Gebadet hatten wir schon, hatten nach dem Baden, nicht etwa vor dem Baden gegessen. Nun lagen die Kirschen als noch feuchte Kirschkerne neben schon weißtrockenen, leichten Kirschkernen vom Vorjahr im Seesand.
Oskar ließ beim Anblick von soviel Vergänglichkeit den Sand mit den einjährigen, tausendjährigen und noch blutjungen Kirschkernen auf seine Trommel rieseln, machte also die Sanduhr und versuchte, sich in die Rolle des Todes hineinzudenken, indem er mit Knochen spielte. Unter Marias warmem, verschlafenem Fleisch stellte ich mir Teile ihres sicher hellwachen Gerippes vor, genoß den Durchblick zwischen Elle und Speiche, ließ an ihrer Wirbelsäule Abzählspiele auf und ab klettern, griff hinein durch beide Hüftbeinlöcher und amüsierte mich über den Schwertfortsatz.
Aller Kurzweil zum Trotz, die ich mir als Tod mit der Seesanduhr angedeihen ließ, bewegte sich Maria. Sie griff blind, sich nur auf die Finger verlassend, in die Strandtasche und suchte etwas, während ich den restlichen Sand mit den letzten Kirschkernen der schon halb versandeten Trommel zukommen ließ. Da Maria das, was sie suchte, wahrscheinlich ihre Mundharmonika, nicht fand, stülpte sie die Tasche um: gleich darauf lag auf dem Badelaken keine Mundharmonika, aber ein Tütchen Waldmeisterbrausepulver.
Maria tat überrascht. Vielleicht war sie auch überrascht. Ich war wirklich überrascht und sagte mir immer wieder, sag es noch heute: Wie ist das Tütchen Brausepulver, dieses billige Zeug, das sich nur die Kinder der Arbeitslosen und Stauer kauften, weil die kein Geld für ordentliche Limonade hatten, wie ist dieser Ladenhüter in unsere Strandtasche gekommen?
Während Oskar noch überlegte, bekam Maria Durst. Auch ich mußte mir gegen meinen Willen, meine Überlegungen unterbrechend, aufdringlichen Durst eingestehen. Wir hatten keinen Becher, auch mußte man bis zum Trinkwasser wenigstens fünfunddreißig Schritte machen, wenn Maria ging; an die fünfzig, wenn ich mich auf den Weg machte. Zwischen niveaölglänzenden, auf dem Rücken oder auf dem Bauch liegenden Fleischbergen hieß es den heißesten Sand erleiden, wenn man vorhatte, beim Bademeister einen Becher zu leihen und den Leitungshahn neben der Bademeisterkajüte aufzudrehen.
Wir scheuten beide den Weg und ließen das Tütchen auf dem Badelaken liegen. Schließlich nahm ich es, bevor Maria es nehmen wollte. Doch Oskar legte es wieder aufs Laken, damit Maria zugreifen konnte. Maria griff nicht. So griff ich und gab es Maria. Maria gab es Oskar zurück. Ich dankte und schenkte es ihr. Sie aber wollte von Oskar keine Geschenke annehmen. Ich mußte es wieder aufs Laken legen. Dort lag es längere Zeit, ohne sich zu rühren.
Oskar stellt fest, daß Maria es war, die das Tütchen nach beklemmender Pause an sich nahm. Doch nicht genug: sie riß einen Streifen Papier genau dort ab, wo unter gepunkteter Linie stand: Hier reißen!
Dann hielt sie mir das geöffnete Tütchen hin. Dieses Mal lehnte Oskar dankend ab. Es gelang Maria, beleidigt zu sein. Sie legte mit aller Entschlossenheit das offene Tütchen aufs Laken. Was blieb mir übrig, als nun meinerseits, bevor etwa Seesand ins Tütchen finden konnte, zuzugreifen und Maria das Tütchen anzubieten. Oskar stellt fest, daß Maria es war, die einen Finger in der Tütenöffnung verschwinden ließ, die den Finger wieder hervorlockte, ihn senkrecht und zur Ansicht hielt: es zeigte sich auf der Fingerkuppe etwas Weißbläuliches, das Brausepulver. Sie bot mir den Finger an.
Natürlich nahm ich ihn. Obgleich es mir in die Nase stieg, gelang es meinem Gesicht, Wohlgeschmack widerzuspiegeln. Es war Maria, die eine hohle Hand machte. Und Oskar konnte nicht umhin, ihr etwas Brausepulver in die rosa Schüssel zu streuen. Sie wußte nicht, was sie mit dem Häufchen anfangen sollte. Der Hügel in ihrem Handteller war ihr zu neu und zu erstaunlich. Da beugte ich mich vor, nahm all meinen Speichel zusammen, ließ ihn dem Brausepulver zukommen, tat das noch einmal und lehnte mich erst zurück, als ich keinen Speichel mehr hatte.
In Marias Hand begann es zu zischen und zu schäumen. Da brach der Waldmeister wie ein Vulkan aus. Da kochte, ich weiß nicht, wessen Volkes grünliche Wut. Da spielte sich etwas ab, was Maria noch nicht gesehen und wohl noch nie gefühlt hatte, denn ihre Hand zuckte, zitterte, wollte wegfliegen, weil Waldmeister sie biß, weil Waldmeister durch ihre Haut fand, weil Waldmeister sie aufregte, ihr ein Gefühl gab, ein Gefühl, ein Gefühl...
So sehr das Grün sich auch vermehrte, Maria wurde rot, führte die Hand zum Mund, leckte die Innenfläche mit langer Zunge ab, tat das mehrmals und so verzweifelt, daß Oskar schon glauben wollte, die Zunge tilge nicht jenes sie so aufregende Waldmeistergefühl, sondern steigere es bis zu jenem Punkt, womöglich noch über jenen Punkt hinaus, der normalerweise allen Gefühlen gesetzt ist.
Dann ließ das Gefühl nach. Maria kicherte, blickte sich um, ob auch keine Zeugen des Waldmeisters vorhanden wären, und ließ sich, da sie rings die in Badeanzügen atmenden Seekühe teilnahmslos und niveabraun gelagert sah, auf das Badelaken fallen; auf so weißem Plan verging ihr dann langsam die Schamröte.Vielleicht wäre es dem Badewetter jener Mittagsstunde doch noch gelungen, Oskar zum Schlaf zu verführen, hätte sich Maria nach einer knappen halben Stunde nicht abermals aufgerichtet und den Griff zum noch halb vollen Brausepulvertütchen gewagt. Ich weiß nicht, ob sie mit sich kämpfte, bevor sie den Rest des Pulvers in jene hohle Hand schüttelte, welcher die Wirkung des Waldmeisters nicht mehr fremd war. Etwa so lange wie jemand braucht, um sich seine Brille zu putzen, hielt sie das Tütchen links und rechts das rosa Schüsselchen reglos und gegensätzlich. Nicht etwa, daß sie den Blick auf das Tütchen oder die hohle Hand richtete, daß sie den Blick zwischen halbvoll und leer wandern ließ; zwischen Tüte und Hand blickte Maria mittendurch und machte streng dunkle Augen dabei.
Es sollte sich aber zeigen, um wieviel der strenge Blick schwächer war als das halbvolle Tütchen. Die Tüte näherte sich der hohlen Hand, die kam dem Tütchen entgegen, der Blick verlor seine mit Schwermut gesprenkelte Strenge, wurde neugierig und schließlich nur noch gierig. Mit mühsam gespielter Gleichmut häufte Maria den Rest des Waldmeisterbrausepulvers in ihrem gutgepolsterten, trotz der Hitze trockenen Handteller, ließ das Tütchen und die Gleichmut fallen, stützte mit der freigewordenen Hand den gefüllten Griff, verweilte mit grauen Augen noch bei dem Pulver und sah dann mich an, sah mich grau an, forderte grauäugig etwas von mir, meinen Speichel wollte sie, warum nahm sie nicht ihren, Oskar hatte doch kaum noch welchen, sie hatte sicher viel mehr, so schnell erneuert sich nicht der Speichel, sie sollte gefälligst ihren nehmen, der war genau so gut, wenn nicht noch besser, auf jeden Fall mußte sie mehr haben als ich, weil ich so schnell keinen machen konnte, auch weil sie größer als Oskar war.
Maria wollte meinen Speichel. Von Anfang an stand fest, daß nur mein Speichel in Frage kam. Sie nahm ihren fordernden Blick nicht von mir, und ich gab ihren nicht freihängenden, sondern angewachsenen Ohrläppchen die Schuld an dieser grausamen Unnachgiebigkeit. So schluckte Oskar, stellte sich Dinge vor, die ihm sonst das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen, doch, lag es an der Seeluft, an der Salzluft, an der salzigen Seeluft, meine Speicheldrüsen versagten, ich mußte mich, durch Marias Blick dazu aufgefordert, erheben und auf den Weg machen. Es galt, ohne links und rechts zu schauen, über fünfzig Schritte durch den heißen Sand zurückzulegen, die noch heißerer.
Treppenstufen zur Bademeisterkajüte hinaufzusteigen, den Wasserhahn aufzudrehen, den gewendeten Kopf offenen Mundes drunter zu halten, zu trinken, zu spülen, zu schlucken, damit Oskar wieder zu Speichel kam.
Als ich die Strecke zwischen der Bademeisterkajüte und unserem weißen Laken, so endlos und von schrecklichem Anblick umsäumt der Weg auch war, überwunden hatte, fand ich Maria auf dem Bauche liegend. Den Kopf hatte sie zwischen verschränkten Armen versorgt. Ihre Zöpfe lagen trag auf rundem Rücken.
Ich stieß sie an, denn Oskar hatte jetzt Speichel. Maria rührte sich nicht. Ich stieß nochmals. Sie wollte nicht. Vorsichtig öffnete ich ihr die linke Hand. Sie ließ es geschehen: die Hand war leer, als hätte sie nie Waldmeister gesehen. Ich bog ihr die rechten Finger gerade: rosig der Teller, in den Linien feucht, heiß und leer.
Hatte Maria doch ihren eigenen Speichel bemüht? Hatte sie nicht warten können? Oder sie hatte das Brausepulver davon geblasen, hatte das Gefühl erstickt, bevor sie fühlte, hatte die Hand am Badelaken blankgerieben, bis wieder Marias vertraute Patschhand mit dem leicht abergläubischen Mondberg, dem fetten Merkur und dem straffgepolsterten Venusgürtel zum Vorschein kam.
Wir gingen damals bald darauf nach Hause, und Oskar wird nie erfahren, ob Maria schon an jenem Tage das Brausepulver zum zweitenmal schäumen ließ oder ob jene Mischung aus Brausepulver und meinem Speichel erst einige Tage später für sie und für mich in der Wiederholung zum Laster wurde.
Der Zufall oder ein unseren Wünschen gehorsamer Zufall brachte es mit sich, daß Matzerath am Abend des soeben beschriebenen Badetages — wir aßen Blaubeerensuppe und hinterher Kartoffelpuffer — Maria und mir umständlich eröffnete, er sei Mitglied eines kleinen Skatklubs innerhalb seiner Ortsgruppe geworden, er werde zweimal in der Woche abends seine neuen Skatbrüder, die alle Zellenleiter seien, in der Gaststätte Springer treffen, auch Sellke, der neue Ortsgruppenleiter, wolle manchmal kommen, alleine schon deswegen müsse er hin und uns leider alleine lassen. Das Beste sei wohl, man quartiere den Oskar an den Skatabenden bei Mutter Truczinski ein. Mutter Truczinski war damit einverstanden, zumal ihr jene Lösung weit besser gefiel als der Vorschlag, den ihr Matzerath ohne Marias Wissen am Vortage gemacht hatte. Da hieß es, nicht ich sollte bei Mutter Truczinski übernachten, sondern Maria sollte zweimal in der Woche bei uns auf der Chaiselongue ihr Nachtlager aufschlagen. Zuvor hatte Maria in jenem breiten Bett geschlafen, in welches vor Zeiten mein Freund Herbert seinen narbigen Rücken gebettet hatte. Das schwere Möbel stand im kleineren hinteren Zimmer. Mutter Truczinski hatte ihr Bett im Wohnzimmer. Guste Truczinski, die nach wie vor im Hotel »Eden« am kalten Büfett servierte, wohnte auch dort, kam manchmal an ihren freien Tagen, übernachtete selten und wenn, dann auf dem Sofa. Brachte jedoch ein Fronturlaub Fritz Truczinski mit Geschenken aus fernen Ländern in die Wohnung, schlief der Fronturlauber oder Dienstreisende in Herberts Bett, Maria in Mutter Truczinskis Bett, und die alte Frau machte sich ihr Lager auf dem Sofa.
Diese Ordnung wurde durch meine Ansprüche gestört. Zuerst sollte ich auf dem Sofa gebettet werden. Dieses Ansinnen lehnte ich knapp, aber deutlich ab. Dann wollte mir Mutter Truczinski ihr Altfrauenbett abtreten und mit dem Sofa vorliebnehmen. Da erhob Maria Einspruch, wollte nicht haben, daß Unbequemlichkeiten die Nachtruhe ihrer alten Mutter störten, erklärte sich, ohne viele Worte zu machen, bereit, Herberts ehemaliges Kellnerbett mit mir zu teilen, und drückte das so aus:
»Das jeht schon mit dem Oskarchen in ain Bett. Där is ja man doch nur né achtel Portion.«
So trug Maria von der folgenden Woche an zweimal wöchentlich mein Bettzeug aus unserer Parterrewohnung ins zweite Stockwerk und schlug mir und meiner Trommel zu ihrer Linken das Nachtlager auf. In Matzeraths erster Skatnacht ereignete sich gar nichts. Es wollte mir Herberts Bett sehr groß vorkommen. Ich lag zuerst, Maria kam später. Sie hatte sich in der Küche gewaschen und betrat das Schlafzimmer in einem lächerlich langen und altmodisch steifen Nachthemd. Oskar hatte sie nackt und behaart erwartet, war anfangs enttäuscht, dann jedoch zufrieden, weil ihn der Stoff aus Urgroßmutters Schublade leicht und angenehm Brücken schlagend an den weißen Faltenwurf der Krankenschwesterntracht erinnerte.
Vor der Kommode stehend machte Maria ihre Zöpfe auf und pfiff dabei. Immer wenn Maria sich an-oder auszog, wenn sie die Zöpfe flocht oder löste, pfiff sie. Selbst beim Kämmen preßte sie unermüdlich diese zwei Töne zwischen gespitzten Lippen hervor und brachte es dennoch zu keiner Melodie.
Sobald Maria den Kamm weglegte, brach auch das Pfeifen ab. Sie drehte sich, schüttelte noch einmal ihr Haar, schaffte mit wenigen Griffen Ordnung auf ihrer Kommode, die Ordnung stimmte sie übermütig: ihrem fotografierten und retuschierten, schnauzbärtigen Vater im schwarzen Ebenholzrahmen warf sie eine Kußhand zu, sprang dann mit übertriebener Wucht ins Bett, federte mehrmals, griff sich beim letzten Federn das Oberbett, verschwand unter dem Berg bis zum Kinn, berührte mich, der ich unter den eigenen Federn daneben lag, überhaupt nicht, langte mit rundem Arm, an dem der Nachthemdärmel zurückrutschte, noch einmal unter den Daunen hervor, suchte über ihrem Kopf jene Schnur, mit der man das Licht ausknipsen konnte, fand, knipste und sagte mir erst im Dunkeln mit viel zu lauter Stimme »Gute Nacht!«
Marias Atem wurde schnell gleichmäßig. Wahrscheinlich tat sie nicht nur so, sondern schlief wirklich bald ein, denn ihrer tagtäglichen Arbeitsleistung konnte und durfte nur eine ähnlich tüchtige Schlafleistung folgen.
Oskar boten sich noch längere Zeit lang betrachtenswerte, den Schlaf vertreibende Bildchen an. So dicht die Schwärze zwischen den Wänden und dem Verdunklungspapier vor dem Fenster auch lastete, es beugten sich dennoch blonde Krankenschwestern über Herberts narbigen Rücken, aus Schugger Leos weißem Knitterhemd entwickelte sich, weil das nahe lag, eine Möwe und die flog, flog und zerschellte an einer Friedhofsmauer, die danach frischgekalkt aussah und so weiter und so weiter. Erst als ein sich ständig vermehrender, müdemachender Vanillegeruch den Film vor dem Schlaf flimmern, dann reißen ließ, fand Oskar zu ähnlich ruhigem Atem, wie ihn Maria schon lange übte.
Eine gleich züchtige Vorstellung mädchenhaften Zubettgehens gab mir Maria drei Tage später. Im Nachthemd kam sie, pfiff beim Zöpfeaufmachen, pfiff noch beim Kämmen, legte den Kamm weg, pfiff nicht mehr, schaffte Ordnung auf der Kommode, warf dem Foto die Kußhand zu, machte den übertriebenen Sprung, federte, griff das Oberbett und erblickte — ich betrachtete ihren Rücken — sie sah ein Tütchen — ich bewunderte ihr langes Schönhaar — sie entdeckte auf dem Oberbett etwas Grünes — ich schloß die Augen und wollte warten, bis sie sich an den Anblick des Brausepulvertütchens gewöhnt hatte — da schrien die Sprungfedern unter einer sich zurückwerfenden Maria, da knipste es, und als ich des Knipsens wegen die Augen öffnete, konnte Oskar sich bestätigen, was er wußte: Maria hatte das Licht ausgeknipst, atmete unordentlich im Dunkeln, hatte sich an den Anblick des Brausepulvertütchens nicht gewöhnen können; doch blieb es fraglich, ob die von ihr befohlene Dunkelheit die Existenz des Brausepulvers nicht übersteigerte, Waldmeister zur Blüte brachte und der Nacht Bläschen treibendes Natron verordnete.
Fast möchte ich glauben, die Dunkelheit war auf Oskars Seite. Denn schon nach wenigen Minuten — wenn man in einem stockdunklen Zimmer von Minuten sprechen kann — nahm ich Bewegungen am Kopfende des Bettes wahr; Maria angelte nach der Schnur, die Schnur biß an und gleich darauf bewunderte ich abermals langfallendes Schönhaar auf Marias sitzendem Nachthemd. Wie gleichmäßig und gelb die Glühbirne hinter dem gefalteten Bezug des Lampenschirmes das Schlafzimmer ausleuchtete. Prall aufgeschlagen und unberührt häufte sich immer noch das Oberbett am Fußende.
Das Tütchen auf dem Berg hatte sich in der Dunkelheit nicht zu bewegen gewagt. Marias Großmutternachthemd raschelte, ein Ärmel des Hemdes mit dazugehörender Patschhand hob sich, und Oskar sammelte Speichel in seiner Mundhöhle.
Wir beide haben während der folgenden Wochen über ein Dutzend Tütchen Brausepulver zumeist mit Waldmeistergeschmack, schließlich, als der Waldmeister ausging, mit Zitronen-und Himbeergeschmack auf immer dieselbe Art entleert, mit meinem Speichel zum Aufbrausen gebracht und ein Gefühl gefördert, das Maria immer mehr zu schätzen wußte. Ich bekam einige Übung im Speichelansammeln, benutzte Tricks, die mir das Wasser schnell und reichlich im Munde zusammenlaufen ließen, und war bald imstande, mit dem Inhalt eines Tütchens Brausepulver Maria dreimal kurz nacheinander das begehrte Gefühl zu bescheren.Maria war mit Oskar zufrieden, drückte ihn manchmal an sich, küßte ihn nach dem Brausepulvergenuß sogar zwei-oder dreimal irgendwohin ins Gesicht und schlief zumeist schnell ein, nachdem Oskar sie im Dunkeln noch kurz kichern gehört hatte.
Mir fiel das Einschlafen immer schwerer. Sechzehn Jahre zählte ich, hatte einen beweglichen Geist und das schlafvertreibende Bedürfnis, meiner Liebe zu Maria andere, ungeahntere Möglichkeiten zu bieten als die, die da im Brausepulver schlummerten, durch meinen Speichel erweckt, immer dasselbe Gefühl bemühten.
Oskars Überlegungen beschränkten sich nicht nur auf die Zeit nach dem Lichtausknipsen. Tagsüber brütete ich hinter der Trommel, blätterte in meinen zerlesenen Rasputinauszügen, erinnerte mich früherer Unterrichtsorgien zwischen dem Gretchen Scheffler und meiner armen Mama, befragte auch Goethe, den ich gleich Rasputin in den Auszügen der Wahlverwandtschaften besaß, nahm also des Gesundbeters Triebhaftigkeit, glättete jene mit dem alle Welt einbeziehenden Naturgefühl des Dichterfürsten, gab Maria bald das Aussehen der Zarin, auch die Züge der Großfürstin Anastasia, wählte Damen aus Rasputins adlig-exzentrischem Gefolge, um Maria alsbald, vom allzu Brünstigen abgestoßen, in der himmlischen Durchsichtigkeit einer Ottilie oder hinter der zuchtvoll gemeisterten Leidenschaft Charlottens zu erblicken. Sich selbst sah Oskar abwechselnd als Rasputin persönlich, dann als seinen Mörder, sehr oft als Hauptmann, seltener als Charlottens wankelmütigen Gatten und einmal — ich muß es gestehen — als einen in Goethes bekannter Gestalt über der schlafenden Maria schwebenden Genius.
Merkwürdigerweise erwartete ich von der Literatur mehr Anregungen als vom nackten, tatsächlichen Leben. So konnte mir Jan Bronski, den ich ja oft genug das Fleisch meiner armen Mama hatte bearbeiten sehen, so gut wie nichts beibringen. Obgleich ich wußte, dieses abwechselnd aus Mama und Jan oder Matzerath und Mama bestehende, seufzende, angestrengte, endlich ermattet ächzende, Fäden ziehend auseinanderfallende Knäuel bedeutet Liebe, wollte Oskar dennoch nicht glauben, daß Liebe Liebe war, und suchte aus Liebe andere Liebe und kam doch immer wieder auf die Knäuelliebe und haßte diese Liebe, bevor er sie als Liebe exerzierte und als einzig wahre und mögliche Liebe sich selbst gegenüber verteidigen mußte.
Maria nahm das Brausepulver liegend zu sich. Da sie, sobald das Pulver aufbrauste, mit den Beinen zu zucken und zu strampeln pflegte, rutschte ihr das Nachthemd oftmals schon nach dem ersten Gefühl bis zu den Schenkeln hoch. Beim zweiten Aufbrausen gelang es dem Hemd zumeist, über den Bauch kletternd sich vor ihren Brüsten zu rollen. Spontan, ohne die Möglichkeit vorher, Goethe oder Rasputin lesend, in Betracht gezogen zu haben, schüttete ich Maria, nachdem ich ihr wochenlang die linke Hand gefüllt hatte, den Rest eines Himbeerbrausepulvertütchens in die Bauchnabelkuhle, ließ meinen Speichel dazufließen, bevor sie protestieren konnte, und als es in dem Krater zu kochen anfing, verlor Maria alle für einen Protest nötigen Argumente: denn der kochend brausende Bauchnabel hatte der hohlen Hand viel voraus. Es war zwar dasselbe Brausepulver, mein Speichel blieb mein Speichel, auch war das Gefühl nicht anders, nur stärker, viel stärker. So übersteigert trat das Gefühl auf, daß Maria es kaum noch aushaken konnte. Sie beugte sich vor, wollte mit der Zunge die brausenden Himbeeren in ihrem Bauchnabeltöpfchen abstellen, wie sie den Waldmeister in der hohlen Hand zu töten pflegte, wenn der seine Schuldigkeit getan hatte, aber ihre Zunge war nicht lang genug; ihr Bauchnabel war ihr entlegener als Afrika oder Feuerland. Mir jedoch lag Marias Bauchnabel nahe, und ich vertiefte meine Zunge in ihm, suchte Himbeeren und fand immer mehr, verlor mich so beim Sammeln, kam in Gegenden, wo kein nach dem Sammelschein fragender Förster sein Revier hatte, fühlte mich jeder einzelnen Himbeere verpflichtet, hatte nur noch Himbeeren im Auge, Sinn, Herzen, Gehör, roch nur noch Himbeeren, war so hinter Himbeeren her, daß Oskar nur nebenbei bemerkte: Maria ist zufrieden mit deinem Sammelfleiß. Deshalb hat sie das Licht ausgeknipst. Deshalb überläßt sie sich vertrauensvoll dem Schlaf und erlaubt dir, weiter zu suchen; denn Maria war reich an Himbeeren.
Und als ich die nicht mehr fand, da fand ich wie zufällig an anderen Orten Pfifferlinge. Und da die tiefer versteckt unterm Moos wuchsen, versagte meine Zunge, und ich ließ mir einen elften Finger wachsen, da die zehn Finger gleichfalls versagten. Und so kam Oskar zu einem dritten Trommelstock — alt genug war er dafür. Und ich trommelte nicht Blech, sondern Moos. Und ich wußte nicht mehr: bin ich das, der da trommelt? Ist es Maria? Ist das mein Moos oder ihr Moos? Gehören das Moos und der elfte Finger wem anders und die Pfifferlinge nur mir? Hatte der Herr da unten seinen eigenen Kopf, eigenen Willen? Zeugten Oskar, er oder ich?
Und Maria, die oben schlief und unten dabei war, die harmlos Vanille und unterm Moos strenge Pfifferlinge, die allenfalls Brausepulver, doch den nicht wollte, den ja auch ich nicht wollte, der sich selbständig gemacht hatte, der den eigenen Kopf bewies, der etwas von sich gab, was ich ihm nicht eingegeben, der aufstand, als ich mich legte, der andere Träume hatte als ich, der weder lesen noch schreiben konnte, der dennoch für mich unterschrieb, der heute noch seinen eigenen Weg geht, der sich an jenem Tage schon von mir trennte, da ich ihn erstmals wahrnahm, der mein Feind ist, mit dem ich mich immer wieder verbünden muß, der mich verrät und im Stich läßt, den ich verraten und verkaufen möchte, dessen ich mich schäme, der meiner überdrüssig ist, den ich wasche, der mich beschmutzt, der nichts sieht und alles wittert, der mir so fremd ist, daß ich ihn siezen möchte, der ein ganz anderes Gedächtnis als Oskar hat: denn wenn heute Maria mein Zimmer betritt und Bruno diskret auf den Gang hinaus ausweicht, erkennt er Maria nicht wieder, will nicht, kann nicht, lümmelt sich höchst phlegmatisch, während Oskars Herz erregt meinen Mund stammeln läßt: »Hör' zu, Maria, zärtliche Vorschläge: ich könnte mir einen Zirkel kaufen und einen Kreis um uns schlagen, könnt' mit demselben Zirkel die Neigungswinkel deines Halses messen, während du liest, nähst oder wie jetzt, an meinem Kofferradio drehst. Laß doch das Radio, zärtliche Vorschläge: Ich könnt' mir die Augen impfen lassen und wieder zu Tränen kommen. Beim nächsten Metzger ließe Oskar sein Herz durch den Wolf drehen, wenn du deine Seele gleichfalls. Wir könnten uns auch ein Stofftier kaufen, damit es still bleibt zwischen uns beiden. Wenn ich mich zu Würmern entschlösse und du zur Geduld: wir könnten angeln gehen und glücklicher werden. Oder das Brausepulver von damals, erinnerst du dich?
Du nennst mich Waldmeister, ich brause auf, du willst noch mehr, ich geb' dir den Rest - Maria, Brausepulver, zärtliche Vorschläge!
Warum drehst du am Radio, hörst nur noch aufs Radio, als besäße dich ein wildes Verlangen nach Sondermeldungen.«