ZWEITES BUCH
SCHROTT
Besuchstag: Maria brachte mir eine neue Trommel. Als sie mir mit dem Blech zugleich die Quittung der Spielzeugwarenhandlung übers Bettgitter reichen wollte, winkte ich ab, drückte auf die Klingel am Kopfende des Bettes, bis Bruno, mein Pfleger, eintrat, das tat, was er immer zu tun pflegt, wenn Maria mir eine neue, in blauem Papier verpackte Blechtrommel bringt. Er löste die Verschnürung des Paketes, ließ das Packpapier auseinanderfallen, um es nach dem fast feierlichen Herausheben der Trommel sorgfältig zu falten. Dann erst schritt Bruno — und wenn ich schritt sage, meine ich Schreiten — zum Waschbecken schritt er mit dem neuen Blech, ließ warmes Wasser fließen und löste vorsichtig, ohne am weißen und roten Lack kratzen zu müssen, das Preisschildchen vom Trommelrand. Als Maria nach kurzem, nicht allzu anstrengendem Besuch gehen wollte, nahm sie das alte Blech, das ich während der Beschreibung des Truczinskischen Rückens, der hölzernen Galionsfigur und der vielleicht etwas zu eigenwilligen Auslegung des ersten Korintherbriefes zerschlagen hätte, mit sich, um es in unserem Keller all den verbrauchten Blechen, die mir zu teils beruflichen, teils privaten Zwecken gedient hatten, nahe zu legen.
Bevor Maria ging, sagte sie: »Na, viel Platz is nich mehr im Keller. Ich mecht mal bloß wissen, wo ich die Winterkartoffeln lagern soll.«
Lächelnd überhörte ich den Vorwurf der aus Maria sprechenden Hausfrau und bat sie, die ausgediente Trommel ordnungsgemäß mit schwarzer Tinte zu numerieren und die von mir auf einem Zettel notierten Daten und kurzgehaltenen Angaben über den Lebenslauf des Bleches in jenes Diarium zu übertragen, das schon seit Jahren an der Innenseite der Kellertür hängt und über meine Trommeln vom Jahre neunundvierzig an Bescheid weiß.
Maria nickte ergeben und verabschiedete sich mit einem Kuß von mir. Mein Ordnungssinn bleibt ihr weiterhin kaum begreiflich, auch etwas unheimlich. Oskar kann Marias Bedenken gut verstehen, weiß er doch selbst nicht, warum ihn eine derartige Pedanterie zum Sammler zerschlagener Blechtrommeln macht. Zudem ist es nach wie vor sein Wunsch, jenen Schrotthaufen im Kartoffelkeller der Bilker Wohnung nie wieder sehen zu müssen. Weiß er doch aus 'Erfahrung, daß Kinder die Sammlungen ihrer Väter mißachten, daß also sein Sohn Kurt auf all die unglückseligen Trommeln eines Tages, da er das Erbe antreten wird, bestenfalls pfeifen wird.
Was also läßt mich alle drei Wochen Maria gegenüber Wünsche äußern, die, wenn sie regelmäßig befolgt werden, eines Tages unseren Lagerkeller füllen, den Winterkartoffeln den Platz nehmen werden?
Die selten, ja immer seltener aufblitzende fixe Idee, es könnte sich eines Tages ein Museum für meine invaliden Instrumente interessieren, kam mir erst, als schon mehrere Dutzend Bleche im Keller lagen.
Hier also kann nicht der Ursprung meiner Sammelleidenschaft liegen. Vielmehr, und je genauer ich darüber nachdenke, um so wahrscheinlicher liegt der Begründung dieses Sammelsuriums der simple Komplex zugrunde: eines Tages könnten die Blechtrommeln ausgehen, rar werden, unter Verbot stehen, der Vernichtung anheimfallen. Eines Tages könnte sich Oskar gezwungen sehen, einige nicht allzu arg zugerichtete Bleche einem Klempner in Reparatur geben zu müssen, damit der mir helfe, mit den geflickten Veteranen eine trommellose und schreckliche Zeit zu überstehen.
Ähnlich, wenn auch mit anderen Ausdrücken äußern sich die Ärzte der Heil-und Pflegeanstalt über die Ursache meines Sammlertriebes. Fräulein Doktor Hornstetter wollte sogar den Tag wissen, der zum Geburtstag meines Komplexes wurde. Recht genau konnte ich ihr den neunten November achtunddreißig nennen, denn an jenem Tage verlor ich Sigismund Markus, den Verwalter meines Trommelmagazins. Wenn es schon nach dem Tod meiner armen Mama schwierig geworden war, pünktlich in den Besitz einer neuen Trommel zu gelangen, da die Donnerstagsbesuche in der Zeughauspassage zwangsläufig aufhörten, Matzerath sich nur nachlässig um meine Instrumente kümmerte, Jan Bronski jedoch immer seltener ins Haus kam, um wieviel hoffnungsloser gestaltete sich meine Lage, als man das Geschäft des Spielzeughändlers zertrümmerte und der Anblick des am aufgeräumten Schreibtisch sitzenden Markus mir deutlich machte: der Markus schenkt dir keine Trommel mehr, der Markus handelt nicht mehr mit Spielzeug, der Markus hat für immer die Geschäftsbeziehungen zu jener Firma abgebrochen, die dir bisher die schöngelackten weißroten Trommeln fabrizierte und lieferte.
Dennoch wollte ich damals nicht glauben, daß mit dem Ende des Spielzeughändlers jene frühe, oder verhältnismäßig heitere Spielzeit ihr Ende gefunden hatte, klaubte mir vielmehr aus dem in einen Trümmerhaufen verwandelten Geschäft des Markus eine heile und zwei nur am Rand verbeulte Bleche, trug die Beute nach Hause und glaubte, Vorsorge getroffen zu haben.
Vorsichtig ging ich mit den Stücken um, trommelte selten, nur noch notfalls, versagte mir ganze Trommlernachmittage und, widerwillig genug, meine mir den Tag erträglich machenden Trommlerfrühstücke. Oskar übte Askese, magerte ab, wurde dem Dr. Hollatz und dessen immer knochiger werdenden Assistentin Schwester Inge vorgeführt. Die gaben mir süße, saure, bittere und geschmacklose Medizin, sprachen meine Drüsen schuldig, die wechselnd nach der Ansicht des Dr.Hollatz durch Überfunktion oder Unterfunktion mein Wohlbefinden zu stören hatten.
Um dem Hollatz zu entgehen, übte Oskar seine Askese mäßiger, nahm wieder zu, war im Sommer neununddreißig annähernd der alte, dreijährige Oskar, der sich die Rückgewinnung seiner Pausbäckigkeit mit dem endgültigen Zerschlagen der letzten, noch vom Markus stammenden Trommel erkaufte. Das Blech klaffte, klapperte haltlos, gab weißen und roten Lack auf, rostete und hing mir mißtönend vor dem Bauch.
Es wäre sinnlos gewesen, Matzerath um Hilfe anzugehen, obgleich jener von Natur aus hilfsbereit, sogar gutmütig war. Seit dem Tode meiner armen Mama dachte der Mann nur noch an seinen Parteikram, zerstreute sich mit Zellenleiterbesprechungen oder unterhielt sich um Mitternacht, nach starkem Alkoholgenuß, laut und vertraulich mit den schwarzgerahmten Abbildungen Hitlers und Beethovens in unserem Wohnzimmer, ließ sich vom Genie das Schicksal und vom Führer die Vorsehung erklären und sah das Sammeln für die Winterhilfe im nüchternen Zustand als sein vorgesehenes Schicksal an.
Ungern erinnere ich mich dieser Sammlersonntage. Unternahm ich doch an solch einem Tag den ohnmächtigen Versuch, in den Besitz einer neuen Trommel zu gelangen. Matzerath, der vormittags auf der Hauptstraße vor den Kunstlichtspielen, auch vor dem Kaufhaus Sternfeld gesammelt hatte, kam mittags nach Hause und wärmte für sich und mich die Königsberger Klopse auf. Nach dem, wie ich .mich heute noch erinnere, schmackhaften Essen — Matzerath kochte selbst als Witwer leidenschaftlich gerne und vorzüglich — legte sich der müde Sammler auf die Chaiselongue, um ein Nickerchen zu machen. Kaum atmete er schlafgerecht, griff ich mir auch schon die halbvolle Sammelbüchse vom Klavier, verschwand mit dem Ding, das die Form einer Konservendose hatte, im Laden unter dem Ladentisch und verging mich an der lächerlichsten aller Blechbüchsen. Nicht etwa, daß ich mich an den Groschenstücken hätte bereichern wollen! Ein blöder Sinn befahl mir, das Ding als Trommel auszuprobieren. Wie ich auch schlug und die Stöcke mischte, immer gab es nur eine Antwort: Kleine Spende fürs WHW! Keiner soll hungern, keiner soll frieren! Kleine Spende fürs WHW!
Nach einer halben Stunde resignierte ich, langte mir aus der Ladenkasse fünf Guldenpfennige, spendete die fürs Winterhilfswerk und brachte die so bereicherte Sammelbüchse zurück zum Klavier, damit Matzerath sie finden und den restlichen Sonntag fürs WHW klappernd totschlagen konnte.
Dieser mißglückte Versuch heilte mich für immer. Nie mehr habe ich ernsthaft versucht, eine Konservendose, einen umgestülpten Eimer, die Standfläche einer Waschschüssel als Trommel zu benutzen. Wenn ich es dennoch getan habe, bemühe ich mich, diese ruhmlosen Episoden zu vergessen, und räume ihnen auf diesem Papier keinen oder so wenig wie möglich Platz ein. Eine Konservendose ist eben keine Blechtrommel, ein Eimer ist ein Eimer, und in einer Waschschüssel wäscht man sich oder seine Strümpfe. So wie es heute keinen Ersatz gibt, gab es schon damals keinen; eine weißrot geflammte Blechtrommel spricht für sich, bedarf also keiner Fürsprache.
Oskar war allein, verraten und verkauft. Wie sollte er auf die Dauer sein dreijähriges Gesicht bewahren können, wenn es ihm am Notwendigsten, an seiner Trommel fehlte? All die jahrelangen Täuschungsversuche wie: gelegentliches Bettnässen, allabendliches kindliches Plappern der Abendgebete, die Angst vor dem Weihnachtsmann, der in Wirklichkeit Greif hieß, das unermüdliche Stellen dreijähriger, typisch drolliger Fragen wie: Warum haben die Autos Räder? all diesen Krampf, den die Erwachsenen von mir erwarteten, mußte ich ohne meine Trommel leisten, war bald kurz vorm Aufgeben und suchte deshalb verzweifelt jenen, der zwar nicht mein Vater war, der mich jedoch höchstwahrscheinlich gezeugt hatte, Oskar wartete nahe der Polensiedlung an der Ringstraße auf Jan Bronski.
Der Tod meiner armen Mama hatte das zuweilen fast freundschaftliche Verhältnis zwischen Matzerath und dem inzwischen zum Postsekretär avancierten Onkel, wenn nicht auf einmal und plötzlich, so doch nach und nach, und je mehr sich die politischen Zustände zuspitzten, um so endgültiger entflochten, trotz schönster gemeinsamer Erinnerungen gelöst. Mit dem Zerfall der schlanken Seele, des üppigen Körpers meiner Mama, zerfiel die Freundschaft zweier Männer, die sich beide in jener Seele gespiegelt, die beide von jenem Fleisch gezehrt hatten, die nun, da diese Kost und dieser Konvexspiegel wegfielen, nichts Unzulängliches fanden als ihre politisch gegensätzlichen, jedoch den gleichen Tabak rauchenden Männerversammlungen. Aber eine Polnische Post und hemdsärmelige Zellenleiterbesprechungen können keine schöne und selbst beim Ehebruch noch gefühlvolle Frau ersetzen. Bei aller Vorsicht — Matzerath mußte auf die Kundschaft und die Partei, Jan auf die Postverwaltung Rücksicht nehmen — kam es während der kurzen Zeitspanne zwischen dem Tode meiner armen Mama und dem Ende des Sigismund Markus dennoch zu Begegnungen meiner beiden mutmaßlichen Väter.
Um Mitternacht hörte man zwei-oder dreimal im Monat Jans Knöchel an den Scheiben unserer Wohnzimmerfenster. Wenn Matzerath dann die Gardine zurückschob, das Fenster einen Spalt weit öffnete, war die Verlegenheit beiderseits grenzenlos, bis der eine oder der andere das erlösende Wort fand, einen Skat zu später Stunde vorschlug. Den Greff holten sie aus seinem Gemüseladen, und wenn der nicht wollte, wegen Jan nicht wollte, nicht wollte, weil er als ehemaliger Pfadfinderführer — er hatte seine Gruppe inzwischen aufgelöst — vorsichtig sein mußte, dazu schlecht und nicht allzu gerne Skat spielte, dann war es meistens der Bäcker Alexander Scheffler, der den dritten Mann abgab. Zwar saß auch der Bäckermeister ungern meinem Onkel Jan am selben Tisch gegenüber, aber eine gewisse Anhänglichkeit an meine arme Mama, die sich wie ein Erbstück auf Matzerath übertrug, auch der Grundsatz Schefflers, daß Geschäftsleute des Einzelhandels zusammenhalten müßten, ließen den kurzbeinigen Bäcker, von Matzerath gerufen, aus dem Kleinhammerweg herbeieilen, am Tisch unseres Wohnzimmers Platz nehmen, mit bleichen, wurmstichigen Mehlfingern die Karten mischen und wie Semmeln unters hungrige Volk verteilen.
Da diese verbotenen Spiele zumeist erst nach Mitternacht begannen und um drei Uhr früh, da Scheffler in seine Backstube mußte, abgebrochen wurden, gelang es mir nur selten, in meinem Nachthemd, jedes Geräusch vermeidend, meinem Bettchen zu entkommen und ungesehen, auch ohne Trommel, den schattigen Winkel unter dem Tisch zu erreichen.
Wie Sie zuvor schon bemerkt haben werden, ergab sich mir unter dem Tisch seit jeher die bequemste Art aller Betrachtungen: ich stellte Vergleiche an. Doch wie hatte sich seit dem Hingang meiner armen Mama alles geändert! Da versuchte kein Jan Bronski, oben vorsichtig und dennoch Spiel um Spiel verlierend, unten kühn, mit schuhlosem Strumpf Eroberungen zwischen den Schenkeln meiner Mama zu machen. Unter dem Skattisch jener Jahre gab es keine Erotik mehr, geschweige denn Liebe. Sechs Hosenbeine bespannten, verschiedene Fischgrätenmuster zeigend, sechs nackte, oder Unterhosen bevorzugende, mehr oder weniger behaarte Männerbeine, die sich sechsmal unten Mühe gaben, keine noch so zufällige Berührung zu finden, die oben, zu Rümpfen, Köpfen, Armen vereinfacht und erweitert, sich eines Spieles befleißigten, das aus politischen Gründen hätte verboten sein müssen, das aber in jedem Falle eines verlorenen oder gewonnenen Spieles die Entschuldigung, auch den Triumph zuließ: Polen hat einen Grand Hand verloren; die Freie Stadt Danzig gewann soeben für das Großdeutsche Reich bombensicher einen Karo einfach.
Der Tag ließ sich voraussehen, da diese Manöverspiele ihr Ende finden würden — wie ja alle Manöver eines Tages beendet und auf erweiterter Ebene anläßlich eines sogenannten Ernstfalles in nackte Tatsachen verwandelt werden.
Im Frühsommer neununddreißig zeigte es sich, daß Matzerath bei den wöchentlichen Zellenleiterbesprechungen unverfänglichere Skatbrüder als polnische Postbeamte und ehemalige Pfadfinderführer fand. Jan Bronski besann sich notgedrungen seines ihm zugewiesenen Lagers, hielt sich an die Leute der Post, so an den invaliden Hausmeister Kobyella, der seit seiner Dienstzeit in Marsza ek Pilsudskis legendärer Legion auf einem um einige Zentimeter zu kurzen Bein stand. Trotz dieses Hinkebeines war der Kobyella ein tüchtiger Hausmeister, mithin ein handwerklich geschickter Mann, von dessen eventueller Gutwilligkeit ich die Reparatur meiner kranken Trommel erhoffen durfte. Nur weil der Weg zum Kobyella über Jan Bronski führte, stellte ich mich fast jeden Nachmittag gegen sechs, selbst bei drückendster Augusthitze in der Nähe der Polensiedlung auf und wartete auf den nach Dienstschluß zumeist pünktlich heimkehrenden Jan. Er kam nicht. Ohne mir eigentlich die Frage zu stellen: was treibt dein mutmaßlicher Vater nach Feierabend? wartete ich oft bis sieben, halb acht. Aber er kam nicht. Ich hätte zur Tante Hedwig gehen können. Womöglich war Jan krank, fieberte oder bewahrte ein gebrochenes Bein im Gipsverband auf. Oskar blieb auf dem Fleck und begnügte sich damit, dann und wann Fenster und Gardinen der Postsekretärswohnung zu fixieren. Eine merkwürdige Scheu hielt Oskar davon ab, seine Tante Hedwig aufzusuchen, deren Blick aus warm mütterlichen Kuhaugen ihn traurig stimmte. Auch mochte er die Kinder der Bronskischen Ehe, die mutmaßlich seine Halbgeschwister waren, nicht besonders. Die gingen mit ihm um wie mit einer Puppe. Die wollten mit ihm spielen, ihn als Spielzeug benutzen. Woher nahm der mit Oskar fast gleichaltrige, fünfzehnjährige Stephan das Recht, ihn väterlich, immer belehrend und von oben herab zu behandeln? Und jene zehnjährige Marga mit Zöpfen und einem Gesicht, in dem ständig der Mond voll und fett aufging: sah sie in Oskar eine willenlose Ankleidepuppe, die man stundenlang kämmen, bürsten, zurechtzupfen und erziehen konnte? Natürlich sahen die beiden in mir das anomale, bedauernswerte Zwergenkind, kamen sich selbst gesund und vielversprechend vor, waren ja auch die Lieblinge meiner Großmutter Koljaiczek, der ich es leider schwer machen mußte, in mir einen Liebling zu sehen. Mir konnte man mit Märchen und Bilderbüchern kaum beikommen. Was ich von der Großmutter erwartete, selbst heute noch breit und genußvoll ausmale, war recht eindeutig und deshalb nur selten zu erlangen: Oskar wollte, sobald er sie sah, seinem Großvater Koljaiczek nacheifern, bei ihr untertauchen und, wenn möglich, nie wieder außerhalb ihres Windschattens atmen müssen.
Was habe ich nicht alles getan, um unter die Röcke meiner Großmutter zu gelangen! Ich kann nicht sagen, daß sie es nicht mochte, wenn Oskar ihr darunter saß. Nur zögerte sie, wies mich auch meistens zurück, hätte wohl jedem halbwegs dem Koljaiczek Ähnlichen. Zuflucht geboten, nur mir, der ich weder die Figur noch das immer lockere Streichholz des Brandstifters hatte, mußten trojanische Pferde einfallen, um in die Festung gelangen zu können.
Oskar sieht sich wie ein echter Dreijähriger mit einem Gummiball spielen, bemerkt, wie jener Oskar zufällig den Ball unter die Röcke rollen läßt, dann dem runden Vorwand nachgleitet, bevor Seine Großmutter die List durchschauen, den Ball zurückgeben kann.
Wenn die Erwachsenen dabei waren, duldete mich meine Großmutter nie lange unter den Röcken. Die Erwachsenen verspotteten sie, erinnerten sie mit oftmals anzüglichen Worten an ihre Brautzeitauf dem herbstlichen Kartoffelacker, ließen die Großmutter, die von Natur her nicht bleich war, heftig und anhaltend erröten, was der Sechzigjährigen unter fast weißem Haar nicht schlecht zu Gesicht stand.
Wenn meine Großmutter Anna jedoch alleine war — selten kam es vor und immer seltener sah ich sie nach dem Tode meiner armen Mama, und kaum noch, seit sie den Marktstand auf dem Langfuhrer Wochenmarkt hatte aufgeben müssen — duldete sie mich eher, freiwilliger und länger unter den kartoffelfarbenen Röcken. Nicht einmal den dummen Trick mit dem noch dümmeren Gummiball brauchte es, um Einlaß zu finden. Mit meiner Trommel über die Dielen rutschend, ein Bein unterschlagend, das andere gegen die Möbel stemmend, schob ich mich in Richtung des großmütterlichen Berges, hob, am Fuße angelangt, mit den Trommelstöcken die vierfache Hülle, war schon darunter, ließ den Vorhang viermal und gleichzeitig fallen, blieb ein Minütchen lang still und ergab mich ganz, mit allen Poren atmend, dem strengen Geruch leicht ranziger Butter, der immer und durch keine Saison beeinflußt, unter jenen vier Röcken vorherrschte. Erst dann begann Oskar zu trommeln. Wußte er doch, was seine Großmutter gerne hörte, und so trommelte ich oktoberliche Regengeräusche, ähnlich jenen, die sie damals hinter dem Kartoffelkrautfeuer gehört haben muß, als ihr der Koljaiczek mit dem Geruch eines heftig verfolgten Brandstifters unterlief. Einen feinen schrägen Regen ließ ich aufs Blech fallen, bis über mir Seufzer und heilige Namen laut wurden, und es bleibt Ihnen überlassen, hier jene Seufzer und heiligen Vornamen wiederzuerkennen, die damals im Jahre neunundneunzig laut wurden, als meine Großmutter im Regen saß und der Koljaiczek im Trocknen.
Als ich im August neununddreißig der Polensiedlung gegenüber auf Jan Bronski wartete, dachte ich oft an meine Großmutter. Es hätte ja sein können, daß sie bei der Tante Hedwig zu Besuch war. Wie verlockend auch der Gedanke sein mochte, unter Röcken sitzend ranzigen Buttergeruch einatmen zu können, stieg ich dennoch nicht die zwei Treppen hoch, klingelte nicht an der Tür mit dem Namenschild: Jan Bronski. Was hätte Oskar auch seiner Großmutter bieten können? Seine Trommel war zerschlagen, seine Trommel gab nichts mehr her, seine Trommel hatte vergessen, wie sich ein Regen anhört, der im Oktober fein und schräge auf ein Kartoffelkrautfeuer fällt. Und da Oskars Großmutter nur mit der Geräuschkulisse herbstlicher Niederschläge beizukommen war, blieb er auf der Ringstraße, sah jenen Straßenbahnen entgegen und nach, die den Heeresanger rauf und runter klingelten und alle der Linie Fünf dienten.
Wartete ich noch auf Jan? Hatte ich es nicht schon aufgegeben und stand nur noch auf meinem Fleck, weil mir noch keine passable Form fürs Aufgeben eingefallen war? Längeres Warten wirkt sich erzieherisch aus. Es kann aber auch längeres Warten den Wartenden dazu verführen, die zu erwartende Begrüßungsszene so ins Detail gehend auszumalen, daß dem Erwarteten jede Chance einer geglückten Überraschung genommen wird. Jan überraschte mich dennoch. Vom Ehrgeiz besessen, ihn, den Unvorbereiteten zuerst zu erblicken, mit den Resten meiner Trommel antrommeln zu können, stand ich gespannt und mit griffbereiten Stöcken auf meinem Fleck.
Ohne erst lange erklären zu müssen, wollte ich mit großem Schlag und Aufschrei des Bleches meine hoffnungslose Lage deutlich machen, sagte mir: Noch fünf Straßenbahnen, noch drei, noch diese Bahn, stellte mir, Schrecken an die Wand malend, vor, daß die Bronskis auf Jans Wunsch hin nach Modlin oder Warschau versetzt worden waren, sah ihn als Oberpostsekretär in Bromberg oder Thorn, wartete, alle vorherigen Schwüre brechend, noch eine Straßenbahn ab und drehte mich schon in Richtung Heimweg, da wurde Oskar von hinten gefaßt, ein Erwachsener hielt seine Augen zu.
Ich spürte weiche, nach ausgesuchter Seife riechende, angenehm trockene Männerhände; ich spürte Jan Bronski.
Als er mich losließ und auffallend laut lachend gegen sich drehte, war es zu spät, um auf dem Blech meine fatale Lage demonstrieren zu können. Beide Trommelstöcke versorgte ich deshalb gleichzeitig hinter den leinernen Trägern meiner halblangen, in jener Zeit, da niemand mir Sorge trug, schmutzigen und an den Taschen ausgefransten Kniehosen. Die Hände frei, hob ich sodann die an jämmerlichem Bindfaden hängende Trommel hoch, anklagend hoch, über Augenhöhe hoch, hoch, wie Hochwürden Wiehnke während der Messe die Hostie hob, hätte auch sagen können: das ist mein Fleisch und Blut, sagte aber kein Wörtchen, hob das geschundene Metall nur hoch, wollte auch keine grundlegende, womöglich wunderbare Wandlung; die Reparatur meiner Trommel forderte ich, sonst nichts.
Jan unterbrach sofort sein unangebrachtes und, wie ich heraushören konnte, nervös angestrengtes Gelächter. Er erblickte, was nicht zu übersehen war, meine Trommel, löste den Blick vom zerknüllten Blech, suchte meine blanken, immer noch echt wirkenden dreijährigen Augen, sah zuerst nichts, als zweimal dieselbe nichtssagend blaue Iris, Glanzlichter darin, Spiegelungen, all das, was man dem Auge an Ausdruck andichtet, nahm schließlich, nachdem er feststellen mußte, daß sich mein Blick in nichts von einer x-beliebigen spiegelfreudigen Straßenpfütze unterschied, all seinen guten Willen, gerade Greifbares in seinem Gedächtnis zusammen und zwang sich, in meinem Augenpaar, jenen zwar grauen, aber ähnlich geschnittenen Blick meiner Mama wiederzufinden, der ihm ja immerhin etliche Jahre lang Wohlwollen bis Leidenschaft gespiegelt hatte. Vielleicht aber verblüffte ihn auch der Abglanz seiner selbst, was immer noch nicht zu bedeuten hatte, daß Jan mein Vater, genauer gesagt, mein Erzeuger war. Denn seine, Mamas wie auch meine Augen zeichneten sich durch die gleiche naiv verschlagene, strahlend dümmliche Schönheit aus, die nahezu allen Bronskis, so auch Stephan, weniger Marga Bronski, um so mehr aber meiner Großmutter und ihrem Bruder Vinzent zu Gesicht stand. Mir jedoch war bei aller schwarzbewimperten Blauäugigkeit ein Schuß Koljaiczeksches Brandstifterblut — man denke nur an mein Glaszersingen — nicht abzusprechen, während es Mühe gekostet hätte, mir rheinisch-matzerathsche Züge anzudichten.
Jan selbst, der gerne auswich, hätte in jenem Moment, da ich die Trommel hob und die Augen wirken ließ, direkt befragt, zugeben müssen: es blickt mich seine Mutter Agnes an. Vielleicht blicke ich selbst mich an. Seine Mutter und ich, wir hatten viel zu viel Gemeinsames. Es mag aber auch sein, daß mich mein Onkel Koljaiczek anblickt, der in Amerika ist oder auf dem Meeresgrund. Nur Matzerath blickt mich nicht an, und das ist gut so.
Jan nahm mir die Trommel ab, drehte, beklopfte sie. Er, der Unpraktische, der nicht einen Bleistift ordentlich anspitzen konnte, tat so, als verstünde er etwas von der Reparatur einer Blechtrommel, faßte sichtbar einen Entschluß, was selten bei ihm vorkam, nahm mich bei der Hand — was mir auffiel, denn so eilig wäre es nicht gewesen — überquerte mit mir die Ringstraße, fand mit mir an der Hand die Insel der Straßenbahnhaltestelle Heeresanger und stieg, als die Bahn ankam, mich nachziehend in den Anhänger für Raucher der Linie Fünf.
Oskar ahnte es, wir fuhren in die Stadt, wollten zum Heveliusplatz, in die Polnische Post zum Hausmeister Kobyella, der jenes Werkzeug und Können hatte, nach welchem Oskars Trommel seit Wochen verlangte.
Es hätte diese Straßenbahnfahrt zu einer ungestörten Freudenfahrt werden können, wäre es nicht der Vorabend des ersten September neununddreißig gewesen, an dem sich der Triebwagen mit Anhänger der Linie Fünf, vom Max-Halbe-Platz an vollbesetzt mit müden und dennoch lauten Badegästen des Seebades Brösen, in Richtung Stadt klingelte. Welch ein Spätsommerabend hätte uns nach Abgabe der Trommel im Cafe Weitzke hinter Limonade mit Strohhalmen gewinkt, wenn nicht in der Hafeneinfahrt, gegenüber der Westerplatte, die beiden Linienschiffe »Schlesien« und »Schleswig-Holstein« festgemacht und der roten Backsteinmauer mit darunterliegendem Munitionsbecken ihre Stahlrümpfe, drehbaren Doppeltürme und Kasemattengeschütze gezeigt hätten. Wie schön wäre es gewesen, an der Pförtnerwohnung der Polnischen Post klingeln und eine harmlose Kinderblechtrommel dem Hausmeister Kobyella zur Reparatur anvertrauen zu können, wenn das Innere der Post nicht schon seit Monaten mit Panzerplatten in Verteidigungszustand versetzt, ein bislang harmloses Postpersonal, Beamte, Briefträger, während Wochenendschulungen in Gdingen und Oxhöft in eine Festungsbesatzung verwandelt worden wäre.
Wir näherten uns dem Olivaer Tor. Jan Bronski schwitzte, starrte in das staubige Grün der Hindenburgalleebäume und rauchte mehr von seinen Goldmundstückzigaretten, als es ihm seine Sparsamkeit hätte erlauben dürfen. Oskar hatte seinen mutmaßlichen Vater noch nie so schwitzen sehen, ausgenommen die zwei-oder dreimal, da er ihn mit seiner Mama auf der Chaiselongue beobachtet hatte.
Meine arme Mama aber war schon lange tot. Warum schwitzte Jan Bronski? Nachdem ich bemerken mußte, daß ihn kurz vor Erreichen fast jeder Haltestelle die Lust ankam, auszusteigen, daß ihm jedesmal erst im Augenblick des Aussteigenwollens meine Gegenwart bewußt wurde, daß ich und meine Trommel ihn veranlaßten, wieder Platz zu nehmen, wurde mir klar, daß der Polnischen Post wegen geschwitzt wurde, die Jan als Staatsbeamter zu verteidigen hatte. Er war doch schon einmal davongelaufen, hatte dann mich und meine Schrottrommel an der Ringstraße, Ecke Heeresanger entdeckt, die Umkehr zur Beamtenpflicht beschlossen, schleppte mich, der ich weder Beamter war noch zur Verteidigung eines Postgebäudes taugte, mit sich und schwitzte und rauchte dabei. Warum stieg er nicht noch einmal aus? Ich hätte ihn gewiß nicht gehindert. Er war ja noch in den besten Jahren, noch keine fünfundvierzig. Blau war sein Auge, braun sein Haar, gepflegt zitterten seine Hände, und hätte er nicht so erbärmlich schwitzen müssen, wäre es Kölnisch Wasser gewesen und nicht kalter Schweiß, den Oskar, neben seinem mutmaßlichen Vater sitzend, riechen mußte.
Am Holzmarkt stiegen wir aus und gingen zu Fuß den Altstädtischen Graben hinunter. Ein windstiller Nachsommerabend. Die Glocken der Altstadt bronzierten wie immer gegen acht Uhr den Himmel.
Glockenspiele, die Tauben aufwölken ließen: »Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab.« Das klang schön und war zum Weinen. Aber überall wurde gelacht. Frauen mit sonnengebräunten Kindern, flauschigen Bademänteln, bunten Strandbällen und Segelschiffen stiegen aus Straßenbahnen, die von den Seebädern Glettkau und Heubude tausend Frischgebadete brachten.
Junge Mädchen leckten mit beweglichen Zungen unter noch verschlafenen Blicken Himbeereis. Eine Fünfzehnjährige ließ ihre Eiswaffel fallen, wollte sich schon bücken, den Schmand wieder aufheben, da zögerte sie, überließ dem Pflaster und den Schuhsohlen künftiger Passanten die zerfließende Erfrischung; bald würde sie zu den Erwachsenen gehören und Eis nicht mehr auf der Straße lecken.
An der Schneidermühlengasse bogen wir links ein. Der Heveliusplatz, in den die Gasse mündete, wurde von gruppenweise herumstehenden Leuten der SS-Heimwehr gesperrt: junge Burschen, auch Familienväter mit Armbinden und den Karabinern der Schutzpolizei. Es wäre leicht gewesen, diese Sperre, einen Umweg machend, zu umgehen, um vom Rähm aus die Post zu erreichen Jan Bronski ging auf die Heimwehrleute zu. Die Absicht war deutlich: er wollte aufgehalten, unter den Augen seiner Vorgesetzten, die sicherlich vom Postgebäude aus den Heveliusplatz beobachten Ließen, zurückgeschickt werden, um so, als abgewiesener Held, eine halbwegs rühmliche Figur machend, mit derselben Straßenbahn Linie Fünf, die ihn hergebracht hatte, nach Hause fahren zu dürfen.
Die Heimwehrleute ließen uns durch, dachten wahrscheinlich gar nicht daran, daß jener gutgekleidete Herr mit dem dreijährigen Jungen an der Hand ins Postgebäude zu gehen gedachte. Vorsicht rieten sie uns höflich an und schrien erst Halt, als wir schon durch das Gitterportal hindurch waren und vor dem Hauptportal standen. Jan drehte sich unsicher. Da wurde die schwere Tür einen Spalt weit geöffnet, man zog uns hinein: wir standen in der halbdunklen, angenehm kühlen Schalterhalle der Polnischen Post.
Jan Bronski wurde von seinen Leuten nicht gerade freundlich begrüßt. Sie mißtrauten ihm, hatten ihn wohl schon aufgegeben, gaben auch laut zu, daß der Verdacht bestanden habe, er, der Postsekretär Bronski, wolle sich verdrücken. Jan hatte Mühe, die Anschuldigungen zurückzuweisen. Man hörte gar nicht zu, schob ihn in eine Reihe, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Sandsäcke aus dem Keller hinter die Fensterfront der Schalterhalle zu befördern. Diese Sandsäcke und ähnlichen Unsinn stapelte man vor den Fenstern, schob schwere Möbel wie Aktenschränke in die Nähe des Hauptportals, um das Tor in seiner ganzen Breite notfalls schnell verbarrikadieren zu können.
Jemand wollte wissen, wer ich sei, hatte dann aber keine Zeit, auf Jans Antwort warten zu können. Die Leute waren nervös, redeten bald laut, bald übervorsichtig leise. Meine Trommel und die Not meiner Trommel schien vergessen zu sein. Der Hausmeister Kobyella, auf den ich gesetzt hatte, der jenem Haufen Schrott vor meinem Bauch wieder zu Ansehen verhelfen sollte, blieb unsichtbar und stapelte wahrscheinlich in der ersten oder zweiten Etage des Postgebäudes, ähnlich fieberhaft wie die Briefträger und Schalterbeamten in der Halle, pralle Sandsäcke, die kugelsicher sein sollten. Oskars Anwesenheit war Jan Bronski peinlich. So verdrückte ich mich augenblicklich, als Jan von einem Mann, den die anderen Doktor Michon nannten, Instruktionen erhielt. Nach einigem Suchen und vorsichtigem Umgehen jenes Herrn Michon, der einen polnischen Stahlhelm trug und offensichtlich der Direktor der Post war, fand ich die Treppe zum ersten Stockwerk und dort, ziemlich am Ende des Ganges, einen mittelgroßen, fensterlosen Raum, in dem sich keine Munitionskisten schleppende Männer befanden, keine Sandsäcke stapelten.
Rollbare Wäschekörbe voller buntfrankierter Briefe standen dichtgedrängt auf den Dielen. Das Zimmer war niedrig, die Tapete ockerfarben. Leicht roch es nach Gummi. Eine Glühbirne brannte ungeschützt. Oskar war zu müde, den Lichtschalter zu suchen. Ganz fern mahnten die Glocken von Sankt Marien, Sankt Katharinen, Sankt Johann, Sankt Brigitten, Sankt Barbara, Trinitatis und Heiliger Leichnam: Es ist neun Uhr, Oskar, du mußt schlafen gehen! — Und so legte ich mich in einen der Briefkörbe, bettete die gleichfalls erschöpfte Trommel an meiner Seite und schlief ein.