DIE NACHFOLGE CHRISTI
Nun ja, die Heimkehr! Um zwanzig Uhr vier traf der Fronturlauberzug in Danzig Hauptbahnhof ein.
Felix und Kitty brachten mich bis zum Max-Halbe-Platz, verabschiedeten sich, wobei Kitty zu Tränen kam, suchten dann ihre Leitstelle in Hochstrieß auf, und Oskar stiefelte kurz vor einundzwanzig Uhr mit seinem Gepäck durch den Labesweg.
Die Heimkehr. Eine weitverbreitete Unsitte macht heutzutage jeden jungen Mann, der einen kleinen Wechsel fälschte, deshalb in die Fremdenlegion ging, nach ein paar Jährchen etwas älter geworden heimkehrt und Geschichten erzählt, zu einem modernen Odysseus. Manch einer setzt sich zerstreut in den falschen Zug, fährt nach Oberhausen und nicht nach Frankfurt, erlebt etwas unterwegs — wie sollte er nicht — und wirft, kaum heimgekehrt, mit Namen wie Circe, Penelope und Telemachos um sich.
Oskar war alleine schon deshalb kein Odysseus, weil er bei seiner Heimkehr alles unverändert fand.
Seine geliebte Maria, die er ja als Odysseus Penelope nennen müßte, wurde nicht von geilen Freiern umschwärmt, die hatte noch immer ihren Matzerath, für den sie sich schon lange vor Oskars Abreise entschieden hatte. Auch fällt es den Gebildeten unter Ihnen hoffentlich nicht ein, in meiner armen Roswitha wegen ihrer einstigen somnambulen Berufstätigkeit eine männerbetörende Circe zu sehen.
Was endlich meinen Sohn Kurt angeht, so machte der für seinen Vater keinen Finger krumm, war also mitnichten ein Telemachos, auch wenn er Oskar nicht wiedererkannte.
Wenn schon Vergleich — und ich sehe ein, daß ein Heimkehrer sich Vergleiche gefallen lassen muß — dann will ich für Sie der biblische verlorene Sohn sein; denn Matzerath machte die Tür auf, empfing mich wie ein Vater und nicht wie ein mutmaßlicher Vater. Ja, er verstand es, sich so über Oskars Heimkehr zu freuen, kam auch zu echten, sprachlosen Tränen, daß ich mich von jenem Tage an nicht nur ausschließlich Oskar Bronski, sondern auch Oskar Matzerath nannte.
Maria nahm mich gelassener, doch nicht unfreundlich auf. Sie saß am Tisch, klebte Lebensmittelmarken fürs Wirtschaftsamt und hatte auf dem Rauchtischchen schon einige noch verpackte Geburtstagsgeschenke für Kurtchen gestapelt. Praktisch wie sie war, dachte sie zuerst an mein Wohlbefinden, zog mich aus, badete mich wie in alten Zeiten, übersah mein Erröten und setzte mich im Schlafanzug an den Tisch, auf dem Matzerath mir inzwischen Spiegeleier und Bratkartoffeln servierte. Milch trank ich dazu, und während ich aß und trank, begann die Fragerei:
»Wo warste nur, überall harn wä jesucht, und de Polizei hat auch jesucht wie varückt, und vor Jericht mußten wir und beeidigen, daß wir dir nich über Eck jebracht hätten. Na, nu biste ja da. Aber Scherereien hattes jenug jemacht und wirtes wohl noch machen, denn nu missen wä dir wieder anmelden. Hoffentlich wolln se dir nich inne Anstalt stecken. Vädient hastes ja. Laifst davon un sagst nischt!«
Maria bewies Weitblick. Es gab Scherereien. Ein Beamter vom Gesundheitsministerium kam, sprach vertraulich mit Matzerath, aber Matzerath schrie laut, daß man es hören konnte: »Das kommt gar nicht in Frage, das habe ich meiner Frau am Totenbett versprechen müssen, ich bin der Vater und nicht die Gesundheitspolizei!«
Ich kam also nicht in die Anstalt. Aber von jenem Tage an traf alle zwei Wochen ein amtliches Brieflein ein, das den Matzerath zu einer kleinen Unterschrift aufforderte; doch Matzerath wollte nicht unterschreiben, legte aber sein Gesicht in Sorgenfalten.
Oskar hat vorgegriffen, muß wieder Matzeraths Gesicht glätten, denn am Abend meiner Ankunft strahlte er, machte sich viel weniger Gedanken als Maria, fragte auch weniger, ließ es mit meiner glücklichen Heimkehr genug sein, benahm sich also wie ein rechter Vater und sagte, als man mich bei der etwas verdutzten Mutter Truczinski zu Bett brachte: »Was wird sich doch das Kurtchen freuen, daß es wieder ein Brüderchen hat. Und obendrein feiern wir morgen Kurtchens dritten Geburtstag.«
Mein Sohn Kurt fand auf seinem Geburtstagstisch außer dem Kuchen mit den drei Kerzen einen weinroten Pullover von Gretchen Scheffels Hand, den er gar nicht beachtete. Einen scheußlichen gelben Gummiball gab es, auf den er sich setzte, den er ritt und schließlich mit einem Küchenmesser anstach. Dann saugte er aus der Gummiwunde jenes ekelhaft süße Wasser, das sich in allen luftgekühlten Bällen niederschlägt. Kaum hatte der Ball seine nicht mehr zu vertreibende Beule, begann Kurtchen, das Segelschiff abzutakeln und in ein Wrack zu verwandeln. Unberührt, doch beängstigend handlich blieben Brummkreisel und Peitsche liegen.
Oskar, der seines Sohnes Geburtstag schon lange im voraus bedacht hatte, der mitten aus rabiatestem Zeitgeschehen gen Osten eilte, damit er den dritten Geburtstag seines Stammhalters nicht versäumte, er stand abseits, sah dem zerstörerischen Werk zu, bewunderte den resoluten Knaben, verglich seine körperlichen Ausmaße mit denen seines Sohnes, und etwas nachdenklich gestand ich mir ein: das Kurtchen ist dir während deiner Abwesenheit über den Kopf gewachsen, jene vierundneunzig Zentimeter, die du dir seit deinem fast siebzehn Jahre zurückliegenden dritten Geburtstag zu erhalten verstanden hast, überragt das Jüngelchen um glatte zwei bis drei Zentimeter; es ist an der Zeit, ihn zum Blechtrommler zu machen und jenem voreiligen Wachstum ein energisches »Genug!« zuzurufen.
Aus meinem Artistengepäck, das ich mit dem großen Bildungsbuch auf dem Trockenboden hinter den Dachpfannen versorgt hatte, holte ich ein blitzblank fabrikneues Blech und wollte meinem Sohn — da die Erwachsenen es nicht taten — dieselbe Chance bieten, die meine arme Mama, ein Versprechen haltend, mir an meinem dritten Geburtstag geboten hatte.
Mit gutem Grund durfte ich annehmen, daß Matzerath, der einst mich fürs Geschäft bestimmt hatte, nun, nach meinem Versagen, in Kurtchen den zukünftigen Kolonialwarenhändler sah. Wenn ich jetzt sage: Das mußte verhütet werden! sehen Sie bitte in Oskar keinen ausgemachten Feind des Einzelhandels. Ein mir oder meinem Sohn in Aussicht gestellter Fabrikkonzern, ein zu erbendes Königreich mit dazugehörenden Kolonien, hätte mich genauso handeln lassen. Oskar wollte nichts aus zweiter Hand übernehmen, wollte deshalb seinen Sohn zu ähnlichem Handeln bewegen, ihn — und hier lag mein Denkfehler — zum Blechtrommler einer permanenten Dreijährigkeit machen, als wäre die Übernahme einer Blechtrommel für einen jungen, hoffnungsvollen Menschen nicht gleich scheußlich wie die Übernahme eines Kolonialwarengeschäftes.
So denkt Oskar heute. Doch damals gab es für ihn nur ein einziges Wollen: es galt, einen trommelnden Sohn an die Seite eines trommelnden Vaters zu stellen, es galt, zweimal von unten her trommelnd, den Erwachsenen zuzuschauen, es galt, eine zeugungsfähige Trommlerdynastie zu begründen; denn mein Werk sollte von Generation zu Generation blechern und weißrot gelackt übermittelt werden.
Was für ein Leben stand uns bevor! Wir hätten nebeneinander aber auch in verschiedenen Zimmern, wir hätten Seite an Seite, aber auch er im Labesweg, ich in der Luisenstraße, er im Keller, ich auf dem Dachboden, Kurtchen in der Küche, Oskar auf dem Abtritt, Vater und Sohn hätten hier und dort und gelegentlich zusammen aufs Blech schlagen können, hätten bei günstiger Gelegenheit alle beide meiner Großmutter, seiner Urgroßmutter Anna Koljaiczek unter die Röcke schlüpfen, dort wohnen, trommeln und den Geruch leicht ranziger Butter einatmen können. Vor ihrer Pforte hockend, hätte ich zum Kurtchen gesagt: »Schau nur hinein, mein Sohn. Von dort her kommen wir. Und wenn du schön brav bist, dürfen wir für ein Stündchen oder länger zurück und die dort wartende Gesellschaft besuchen.«
Und das Kurtchen hätte sich unter den Röcken vorgebeugt, hätte ein Auge riskiert und mich, seinen Vater, höflich fragend um Erklärungen gebeten.
»Jene schöne Dame«, hätte Oskar geflüstert, »die dort in der Mitte sitzt, mit ihren schönen Händen spielt und ein so sanft ovales Gesicht hat, daß man weinen könnte, das ist meine arme Mama, deine gute Großmutter, die an einem Gericht Aalsuppe oder am eigenen übersüßen Herzen starb.«
»Weiter, Papa, weiter!« hätte das Kurtchen gedrängt. »Wer ist der Mann mit dem Schnauz?«
Geheimnisvoll hätte ich dann die Stimme gesenkt: »Das ist dein Urgroßvater, der Joseph Koljaiczek.
Achte auf seine flackernden Brandstifteraugen, auf die göttlich polnische Verstiegenheit und die praktisch kaschubische Verschlagenheit über seiner Nasenwurzel. Bemerke bitte auch die Schwimmhäute zwischen seinen Zehen. Im Jahre dreizehn, als die >Columbus< vom Stapel lief, geriet er unter ein Holzfloß, mußte lange schwimmen, bis er nach Amerika kam und dort Millionär wurde.
Doch manchmal geht er wieder zu Wasser, schwimmt zurück, taucht hier unter, wo er erstmals als Brandstifter Schutz gefunden und seinen Teil zu meiner Mama spendete.«
»Doch jener schöne Herr, der sich bis jetzt hinter der Dame, die meine Großmutter ist, versteckt hielt, der sich jetzt neben sie setzt und ihre Hände mit seinen Händen streichelt? Er hat genau so blaue Augen wie du, Papa!«
Da hätte ich allen Mut zusammennehmen müssen, um als schlechter, verräterischer Sohn meinem braven Kinde antworten zu können: »Das sind die wunderbaren blauen Augen der Bronskis, die dich, mein Kurtchen anschauen. Dein Blick ist zwar grau. Den hast du von deiner Mutter. Dennoch bist du genau wie jener Jan, der meiner armen Mama die Hände küßt, wie dessen Vater Vinzent ein durch und durch wunderbarer, dennoch kaschubisch realer Bronski. Eines Tages kehren auch wir dorthin zurück, gehen der Quelle nach, die den leicht ranzigen Buttergeruch verbreitet. Freue dich!«
Erst im Inneren meiner Großmutter Koljaiczek oder, wie ich es scherzhaft nannte, im großmütterlichen Butterfaß wäre es meinen damaligen Theorien nach zu einem wahren Familienleben gekommen.
Selbst heute, da ich Gottvater, den eingeborenen Sohn und, was noch wichtiger ist, den Geist höchstpersönlich mit einem einzigen Daumensprung erreiche und gar überspringe, da ich der Nachfolge Christi, wie all meinen anderen Berufen, mit Unlust verpflichtet bin, male ich mir, dem nichts unerreichbarer geworden ist als der Eingang zu meiner Großmutter, die schönsten Familienszenen im Kreis meiner Vorfahren aus.
So stelle ich mir besonders an Regentagen vor: meine Großmutter verschickt Einladungen, und wir treffen uns in ihr. Jan Bronski kommt, hat sich Blumen, Nelken etwa, in die Einschußlöcher seiner polnischen Postverteidigerbrust gesteckt. Maria, die auf meine Empfehlung hin eine Einladung bekommen hat, nähert sich schüchtern meiner Mama, zeigt ihr, um Gunst werbend, jene von Mama begonnenen, von Maria tadellos weitergeführten Geschäftsbücher, und Mama schlägt ihre kaschubischste Lache an, zieht meine Geliebte an sich und sagt, ihr die Wange küssend, mit dem Auge zwinkernd: »Abä Marjellchen, wä wird sich da ain Jewissen machen. Haben wä doch alle baide ainen Matzerath jehairatet und ainen Bronski jenährt!«
Weitere Gedankengänge, wie etwa die Spekulation auf einen von Jan gezeugten, von meiner Mama im Inneren der Großmutter Koljaiczek ausgetragenen und schließlich in jenem Butterfäßchen geborenen Sohn, muß ich mir streng verbieten. Denn sicher zöge dieser Fall einen weiteren Fall nach sich. Da käme womöglich mein Halbbruder Stephan Bronski, der schließlich auch in diesen Kreis gehört, auf die Bronskiidee, zuerst ein Auge, alsbald noch mehr auf meine Maria zu werfen. Da beschränkt sich meine Einbildungskraft lieber auf ein harmloses Familientreffen. Da verzichte ich auf einen dritten und vierten Trommler, lasse es mit Oskar und Kurtchen genug sein, erzähle auf meinem Blech den Anwesenden etwas über jenen Eiffelturm, der mir in fremden Landen die Großmutter ersetzte, und freue mich, wenn die Gäste, einschließlich der einladenden Anna Koljaiczek, an unseren Trommeln Spaß haben und sich gegenseitig, dem Rhythmus gehorchend, aufs Knie schlagen.
So verführerisch es ist, im Inneren der eigenen Großmutter die Welt und ihre Bezüge zu entfalten, auf beschränkter Ebene vielschichtig zu sein, muß Oskar nun — da er gleich Matzerath nur ein mutmaßlicher Vater ist — sich wieder an die Begebenheiten des zwölften Juni vierundvierzig, an Kurtchens dritten Geburtstag halten.
Noch einmal: einen Pullover, einen Ball, ein Segelschiff, Peitsche und Brummkreisel bekam der Knabe und sollte von mir noch eine weißrot gelackte Blechtrommel dazu bekommen. Kaum war er mit dem Abtakeln des Segelschiffes fertig, da näherte sich Oskar, hielt das blecherne Geschenk hinter seinem Rücken verborgen, ließ sein gebrauchtes Blech unterm Bauch baumeln. Auf ein Schrittchen standen wir uns gegenüber: Oskar, der Dreikäsehoch; Kurt, der zwei Zentimeter größere Dreikäsehoch. Er machte ein wildböses Kneifgesicht — war wohl noch bei der Zerstörung des Segelschiffes — und zerbrach just in dem Augenblick, da ich die Trommel hervorzog, hochhielt, den letzten Mast der »Pamir«; so hieß der Windjammer.
Kurt ließ das Wrack fallen, nahm die Trommel an, hielt sie, drehte sie und kam dabei zu etwas ruhigeren, doch immer noch gespannten Gesichtszügen. Nun war es an der Zeit, ihm die Trommelstöcke hinzuhalten. Leider mißverstand er die doppelte Bewegung, fühlte sich bedroht, schlug mir mit dem Blechrand die Hölzer aus den Fingern, griff, als ich mich nach den Knüppeln bücken wollte, hinter sich, traf mich, da ich die Stöcke hatte und ihm ein zweites Mal anbot, mit seinem Geburtstagsgeschenk: mich, nicht den Brummkreisel, Oskar traf er, nicht den Kreisel, der dafür gerillt war, seinem Vater wollte er's Brummen und Kreiseln beibringen, peitschte mich, dachte sich, wart' Brüderchen; so peitschte Kain den Abel, bis Abel sich drehte, torkelnd noch, dann immer hurtiger und exakter, anfangs dunkel, aus unwirschem Gebrumm schon zu höherem Singen findend, das Brummkreiselliedchen sang. Und immer höher hinauf lockte mich Kain mit der Peitsche, da hatte ich Kreide in der Stimme, da ließ ein Tenor sein Morgengebet fließen, so mögen aus Silber getriebene Engel singen, die Wiener Sängerknaben, gedrillte Kastraten - und Abel mag so gesungen haben, bevor er zurückfiel, wie dann auch ich unter der Peitsche des Knaben Kurt zusammensackte.
Als er mich so, elend nachbrummend, liegen sah, traf er noch mehrmals, als hätte sein Arm nicht genug gehabt, die Zimmerluft. Auch behielt er mich während der eingehenden Untersuchung der Trommel mißtrauisch im Auge. Zuerst wurde der weißrote Lack gegen eine Stuhlkante geschlagen, dann fiel das Geschenk auf die Dielen, und Kurtchen suchte und fand den massiven Rumpf des ehemaligen Segelschiffes. Mit diesem Holz schlug er die Trommel. Er trommelte nicht, er zerschlug die Trommel. Keinen noch so einfachen Rhythmus versuchte seine Hand. Monoton gleichmäßig hieb er unter starr angestrengter Miene auf ein Blech, das solch einen Trommler nicht erwartet hatte, das zwar leichteste Stöcke, spielend gewirbelt, doch nicht die Rammstöße eines klobigen Wrackes vertrug.
Die Trommel knickte, wollte ausweichen, indem sie sich aus den Fassungen löste, wollte sich unsichtbar machen, indem sie weißen und roten Lack aufgab und graublaues Blech um Mitleid bitten ließ. Es zeigte sich jedoch der Sohn dem Geburtstagsgeschenk des Vaters gegenüber unerbittlich. Und als der Vater noch einmal vermitteln wollte und trotz vieler und gleichzeitiger Schmerzen über den Teppich zum Sohn auf den Dielen hinstrebte, trat wieder die Peitsche dazwischen: diese Dame kannte der müde Kreisel, gab das Kreiseln und Brummen auf, und auch die Trommel verzichtete endgültig auf einen empfindsamen, spielerisch wirbelnden, zwar kräftig, doch nicht brutal die Stöcke mischenden Trommler.
Als Maria eintrat, gehörte die Trommel dem Schrott an. Sie nahm mich auf den Arm, küßte meine geschwollenen Augen, das aufgerissene Ohr, leckte mein Blut und meine gestriemten Hände.
Oh, hätte Maria doch nicht nur das mißhandelte, zurückgebliebene, bedauernswert abnormale Kind geküßt! Hätte sie doch den geschlagenen Vater erkannt und in jeder Wunde den Geliebten. Was für ein Trost, was für ein heimlicher und wahrer Gatte hätte ich ihr während der folgenden düsteren Monate sein können.
Da traf es zuerst — und Maria nicht unbedingt angehend — meinen Halbbruder, den gerade zum Leutnant beförderten Stephan Bronski, der zu jenem Zeitpunkt schon nach seinem Stiefvater Ehlers hieß, an der Eismeerfront plötzlich, was seine Offizierslaufbahn für immer in Frage stellte. Während Stephans Vater Jan anläßlich seiner Erschießung als Verteidiger der Polnischen Post auf dem Friedhof Saspe eine Skatkarte unter dem Hemd getragen hatte, schmückten das Eiserne Kreuz zweiter Klasse, das Infanterie-Sturmabzeichen und der sogenannte Gefrierfleischorden des Leutnants Rock.
Ende Juni bekam Mutter Truczinski einen leichten Schlaganfall, weil die Post ihr schlechte Nachricht gebracht hatte. Der Unteroffizier Fritz Truczinski war für drei Dinge gleichzeitig gefallen: für Führer, Volk und Vaterland. Das geschah im Mittelabschnitt, und Fritzens Brieftasche mit den Fotos hübscher, zumeist lachender Mädchen aus Heidelberg, Brest, Paris, Bad Kreuznach und Saloniki, sowie die Eisernen Kreuze erster und zweiter Klasse, ich weiß nicht mehr, welches Verwundetenabzeichen, die bronzene Nahkampfspange und die zwei abgetrennten Panzerknackerläppchen, auch einige Briefe schickte ein Hauptmann, namens Kanauer, vom Mittelabschnitt direkt nach Langfuhr in den Labesweg.
Matzerath half, so gut er konnte, und Mutter Truczinski ging es bald besser, wenn auch nie mehr gut.
Sie saß fest im Stuhl am Fenster, wollte von mir und Matzerath, der zwei-bis dreimal am Tag herauf kam und etwas mitbrachte, wissen, wo das nun eigentlich liege: »Mittelabschnitt?« Ob das weit sei und ob man da mit der Bahn über Sonntag hinfahren könne.
Matzerath konnte bei allem guten Willen keine Auskunft geben. So blieb es mir, der ich mich an Sondermeldungen und Wehrmachtsberichten geografisch gebildet hatte, an langen Nachmittagen überlassen, der festsitzenden, dennoch mit dem Kopf wackelnden Mutter Truczinski einige Versionen des immer beweglicher werdenden Mittelabschnittes vorzutrommeln.
Maria jedoch, die dem flotten Fritz sehr anhing, wurde fromm. Anfangs, den ganzen Juli hindurch, versuchte sie es noch mit ihrer gelernten Religion, ging sonntags zum Pfarrer Hecht in die Christuskirche, und Matzerath begleitete sie manchmal, obgleich sie lieber alleine ging.
Es wollte der protestantische Gottesdienst der Maria nicht reichen. Mitten in der Woche — war es ein Donnerstag, war es ein Freitag? — noch vor Geschäftsschluß, Matzerath den Laden überlassend, nahm Maria mich, den Katholiken, bei der Hand, wir gingen Richtung Neuer Markt, bogen dann in die Eisenstraße ein, in die Marienstraße, beim Fleischer Wohlgemuth vorbei, bis zum Kleinhammerpark — schon dachte Oskar, es geht zum Bahnhof Langfuhr, wir machen eine kleine Reise, womöglich nach Bissau in die Kaschubei — als wir links einschwenkten, vor der Bahndammunterführung aus Aberglauben erst einen Güterzug abwarteten, dann durch die Unterführung, in der es ekelhaft tropfte, hindurchfanden und nicht geradeaus zum Filmpalast strebten, sondern links am Bahndamm lang unseren Weg nahmen. Ich kalkulierte: entweder schleppt sie mich zum Brunshöferweg in die Praxis des Dr. Hollatz oder sie will konvertieren, will in die Herz-Jesu-Kirche.
Die sah mit dem Portal gegen den Bahndamm. Zwischen Bahndamm und offenem Portal blieben wir stehen. Später Augustnachmittag mit Gesumm in der Luft. Hinter uns auf dem Schotter, zwischen den Gleisen hackten und schaufelten Ostarbeiterinnen mit weißen Kopftüchern. Wir standen und guckten in den schattigen, kühlatmenden Kirchenbauch: ganz hinten, geschickt verlockend, ein heftig entzündetes Auge — das ewige Licht. Hinter uns auf dem Bahndamm stellten die Ukrainerinnen das Schaufehl und Hacken ein. Ein Horn tutete, ein Zug nahte, kam, war da, immer noch da, noch nicht vorbei, dann weg, und Horn tutete, Ukrainerinnen schaufelten. Maria war unschlüssig, wußte wohl nicht, welchen Fuß sie vorsetzen sollte, bürdete mir, dem die alleinseligmachende Kirche von Geburt und Taufe her näher stand, die Verantwortung auf; Maria überließ sich seit Jahren, seit jenen zwei Wochen voller Brausepulver und Liebe, wieder einmal Oskars Führung.
Da ließen wir den Bahndamm und seine Geräusche, August und Augustgebrumm draußen. Etwas wehmütig, mit den Fingerspitzen auf meiner Trommel unter dem Kittel dröselnd, das Gesicht jedoch sich selbst und dem Gleichmut überlassend, erinnerte ich mich der Messen, Pontifikalämter, Vesperandachten und sonnabendlichen Beichten an der Seite meiner armen Mama, die kurz vor ihrem Tode durch allzu heftigen Verkehr mit Jan Bronski fromm wurde, sich Sonnabend für Sonnabend leicht beichtete, sonntags mit dem Sakrament stärkte, um so erleichtert und gestärkt zugleich am folgenden Donnerstag dem Jan in der Tischlergasse zu begegnen. Wie hieß doch Hoch würden damals? Hochwürden hieß Wiehnke, war immer noch Pfarrherr der Herz-Jesu-Kirche, predigte angenehm leise und unverständlich, sang das Credo so dünn und weinerlich, daß selbst mich damals so etwas wie Glauben beschlichen hätte, hätte es nicht jenen linken Seitenaltar mit der Jungfrau, dem Jesusknaben und dem Täuferknaben gegeben.
Dennoch war es jener Altar, der mich bewog, Maria aus dem Sonnenschein ins Portal, dann über die Fliesen ins Kirchenschiff zu ziehen.
Oskar nahm sich Zeit, saß ruhig und immer kühler werdend neben Maria im Eichengestühl. Jahre waren vergangen, und dennoch wollte mir vorkommen, als warteten noch immer dieselben Leute, planvoll im Beichtspiegel blätternd, auf Hochwürden Wiehnkes Ohr. Wir saßen etwas abseits, mehr zum Mittelschiff hin. Ich wollte Maria die Wahl lassen und erleichtern. Einerseits war sie dem Beichtstuhl nicht auf verwirrende Weise zu nahe, konnte also auf stille inoffizielle Art konvertieren, andererseits sah sie, wie es vor dem Beichten zuging, konnte also beobachtend zum Entschluß kommen, auch in den Kasten zu Hochwürdens Ohr finden und mit ihm Einzel-heilen ihres Übertrittes zur Alleinseligmachenden besprechen. Sie tat mir leid, wie sie so klein und mit noch ungeschickten Händen unter dem Geruch, Staub, Stuck, unter gewundenen Engeln, gebrochenem Licht, zwischen verkrampften Heiligen, vor, unter und zwischen süß schmerzensreichem Katholizismus kniete und zum erstenmal verkehrt herum das Kreuzzeichen schlug. Oskar tippte Maria an, machte es ihr richtig vor, zeigte der Lernbegierigen, wo hinter ihrer Stirn, wo tief in ihrer Brust, wo genau in ihren Schultergelenken Vater, Sohn und Heiliger Geist wohnen, auch wie man die Hände falten muß, um es zum Amen bringen zu können. Maria gehorchte, ließ die Hände dann im Amen ruhen und begann, aus dem Amen heraus zu beten.
Anfangs versuchte auch Oskar, betend einiger Verstorbener zu gedenken, verlor sich aber, als er für seine Roswitha zum Herrn flehte, ihr ewige Ruh und Eingang in die himmlischen Freuden erhandeln wollte, dergestalt in Einzelheiten irdischer Art, daß sich ewige Ruhe und himmlische Freuden schließlich in einem Pariser Hotel angesiedelt fanden. Da rettete ich mich in die Präfation, weil es dort einigermaßen unverbindlich zugeht, sagte von Ewigkeit zu Ewigkeit, sursum corda, dignum et justum — das ist würdig und recht, ließ es damit genug sein und beobachtete Maria von der Seite.
Das katholische Beten stand ihr. Sie sah hübsch und malenswert in ihrer Andacht aus. Das Beten verlängert die Wimpern, zieht die Augenbrauen nach, heizt die Wangen ein, macht die Stirn schwer, den Hals biegsam und bewegt die Nasenflügel. Fast hätte mich Marias schmerzlich aufblühendes Gesicht zu Annäherungsversuchen verführt. Doch soll man Betende nicht stören, Betende weder verführen noch sich selbst durch Betende verführen lassen, auch wenn es Betenden angenehm und fürs Gebet förderlich ist, einem Beobachter betrachtenswert zu sein.
So rutschte ich also von dem geglätteten Kirchenholz und ließ meine Hände brav über der Trommel, die meinen Kittel wölbte. Oskar floh Maria, fand auf die Fliesen, schlich mit seinem Blech an den Kreuzwegstationen des linken Kirchenschiffes vorbei, blieb nicht beim Heiligen Antonius — bitte für uns — stehen, denn wir hatten weder eine Geldbörse noch einen Haustürschlüssel verloren, auch den Heiligen Adalbert von Prag, den die alten Pruzzen erschlugen, ließen wir links liegen, gaben nicht Ruhe, hüpften von Fliese zu Fliese — das bot sich als Schachbrett an — bis ein Teppich die Stufen zum linken Seitenaltar ankündigte.
Sie werden mir glauben, daß in der neugotischen Backstein-Herz-Jesu-Kirche und mithin beim linken Seitenaltar alles beim alten geblieben war. Es saß der nacktrosa Jesusknabe immer noch auf dem linken Oberschenkel der Jungfrau, die ich nicht Jungfrau Maria nenne, damit sie mit meiner konvertierenden Maria nicht verwechselt wird. Gegen das rechte Knie der Jungfrau drängte noch immer jener mit schokoladenfarbenem Zottelfell notdürftig bekleidete Täuferknabe. Sie selbst wies wie einst mit dem rechten Zeigefinger auf den Jesus und sah dabei den Johannes an.
Doch Oskar interessierte sich auch nach Jahren der Abwesenheit weniger für den jungfräulichen Mutterstolz als vielmehr für die Beschaffenheit der beiden Knaben. Jesus war etwa so groß wie mein Sohn Kurt anläßlich seines dritten Geburtstages, also zwei Zentimeter größer als Oskar. Johannes, der den Zeugnissen nach älter war als der Nazarener, hatte meine Größe. Beide jedoch hatten denselben altklugen Gesichtsausdruck, der auch mir, dem permanent Dreijährigen geläufig war. Nichts hatte sich verändert. Genau so oberschlau hatten sie dreingesehen, als ich vor soundsoviel Jahren an der Seite meiner armen Mama die Herz-Jesu-Kirche aufgesucht hatte.
Über den Teppich die Stufen, doch ohne Introitus hinauf. Jeden Faltenwurf prüfte ich, ging dem bemalten Gips beider Nackedeis mit meinem Trommelstock, der mehr Gefühl hatte als alle Finger zusammen, langsam, nichts auslassend nach: Schenkel, Bauch, Arme, zählte die Speckfältchen, Grübchen — das war genau Oskars Wuchs, mein gesundes Fleisch, meine kräftigen, etwas verfetteten Knie, meine kurzen, aber muskulösen Trommlerarme. Und der hielt sie auch so, der Bengel. Der saß auf dem Oberschenkel der Jungfrau und hob Arme und Fäuste, als hätte er vor, aufs Blech zu schlagen, als wäre Jesus der Trommler und nicht Oskar der Trommler, als wartete er nur auf mein Blech, als hätte er diesmal ernsthaft vor, der Jungfrau, dem Johannes und mir etwas rhythmisch Reizvolles aufs Blech zu legen.
Ich tat, was ich vor Jahren getan hatte, nahm mir die Trommel vom Bauch und stellte den Jesus auf die Probe. Vorsichtig, um den bemalten Gips bedacht, schob ich ihm Oskars Weißrote auf die rosigen Oberschenkel, tat das jedoch, um mir Genugtuung zu schaffen, hoffte also nicht blöd auf ein Wunder, wollte vielmehr die Ohnmacht plastisch sehen; denn wenn er auch so dasaß und die Fäuste hob, wenn er auch meine Größe und meinen zähen Wuchs hatte, wenn er auch gipsern und leichthin jenen Dreijährigen markierte, den ich mit soviel Mühe und unter den größten Entbehrungen aufrechterhielt — trommeln konnte er nicht, könnt nur so tun als ob, dachte wohl: hätt' ich, so könnt' ich, sagt' ich, du hast und kannst doch nicht, klemmte ihm beide Stöcke, kugelte mich vor Lachen, zwischen die Wurstfinger, zehn — trommle nun, süßester Jesus, bunter Gips trommelt aufs Blech, Oskar zurück, die drei Stufen, runter vom Teppich, auf Fliesen, trommle doch Jesusknabe, Oskar tritt weit hinter sich.
Abstand nimmt er und lacht sich schief, weil der Jesus so dasitzt, trommeln nicht kann, vielleicht will.
— Begann mich schon Langeweile wie eine Schwarte zu nagen — da schlug er, da trommelte er!Während alles bewegungslos blieb: er links, er rechts, dann mit beiden Stöcken, schlug über kreuz, wirbelte nicht einmal schlecht, tat das sehr ernsthaft, liebte den Wechsel, war im einfachen Rhythmus genau so gut, wie wenn er's komplizierter hören ließ, verzichtete aber auf alle Mätzchen, hielt sich nur an das Blech, kam mir nicht einmal religiös oder wie ein aufgewärmter Landsknecht, sondern rein musikalisch, verschmähte auch keine Schlager, brachte unter anderem, was damals in aller Leute Mund war, »Es geht alles vorüber«, natürlich auch »Lili Marlen«, drehte mir langsam, vielleicht etwas ruckweise den Lockenkopf mit den blauen Bronskiaugen zu, lächelte ziemlich hochmütig und fügte nun Oskars Lieblingsstücke zu einem Potpourri: das begann mit »Glas, Glas, Gläschen«, streifte den »Stundenplan«, der Bursche spielte genau wie ich Rasputin gegen Goethe aus, stieg mit mir auf den Stockturm, kroch mit mir unter die Tribüne, fing Aale auf der Hafenmole, schritt an meiner Seite hinter dem zum Fußende hin verjüngten Sarg meiner armen Mama und fand, was mich am meisten verblüffte, immer wieder unter die vier Röcke meiner Großmutter Anna Koljaiczek.
Da trat Oskar näher. Da zog es ihn heran. Da wollte er auf den Teppich, wollt nicht mehr auf den Fliesen stehen. Eine Altarstufe gab ihn an die nächste weiter. So stieg ich hinauf und hätte ihn lieber hinabsteigen sehen. »Jesus«, kratzte ich einen Rest Stimme zusammen, »so haben wir nicht gewettet.
Sofort gibst du mir meine Trommel wieder. Du hast dein Kreuz, das sollte dir reichen!« Ohne abrupt abzubrechen, beendete er die Trommelei, kreuzte die Stöcke übertrieben sorgfältig auf dem Blech und reichte mir ohne Widerrede, was Oskar ihm leichtsinnig gepumpt hatte.
Schon wollte ich ohne Dank und hastig wie zehn Teufel die Stufen runter und raus aus dem Katholizismus, da berührte eine angenehme, wenn auch befehlerische Stimme meine Schulter: »Liebst du mich, Oskar?« Ohne mich zu drehen, antwortete ich: »Nicht daß ich wüßte.« Er darauf mit derselben Stimme, ohne jede Steigerung: »Liebst du mich, Oskar?« Unwirsch gab ich zurück:
»Bedaure, nicht die Spur!« Da ödete er mich zum drittenmal an: »Oskar, liebst du mich?« Jesus bekam mein Gesicht zu sehen: »Ich hasse dich, Bürschchen, dich und deinen ganzen Klimbim!«
Merkwürdigerweise verhalf ihm mein Anwurf zu stimmlichem Triumph. Den Zeigefinger hob er wie eine Volksschullehrerin und gab mir einen Auftrag: »Du bist Oskar, der Fels, und auf diesem Fels will ich meine Kirche bauen. Folge mir nach!«
Sie können sich meine Empörung vorstellen. Wut gab mir die Haut eines Suppenhuhnes. Einen Gipszeh brach ich ihm ab, aber er rührte sich nicht mehr. »Sag das noch einmal«, zischte Oskar, »und ich kratz dir die Farbe ab!«
Da kam kein Wörtchen mehr, da kam nur wie immer und je jener alte Mann, der immer und durch alle Kirchen schlurft. Den linken Seitenaltar grüßte er, bemerkte mich gar nicht, schlurfte weiter und war schon beim Adalbert von Prag, da stolperte auch ich die Stufen hinunter, vom Teppich auf die Fliesen, fand, ohne mich umzudrehen, über das Schachmuster zu Maria, die gerade auf korrekte Art und nach meiner Unterweisung das katholische Kreuz schlug.
Bei der Hand nahm ich sie, führte sie zum Weihwasserbecken, ließ sie in der Mitte der Kirche, schon fast im Portal, noch einmal in Richtung Hochaltar das Kreuz schlagen, machte das alles aber nicht mit, sondern zog sie, als sie aufs Knie wollte, hinaus in die Sonne.
Es war früher Abend. Die Ostarbeiterinnen auf dem Bahndamm waren weg. Dafür wurde kurz vor dem Vorortbahnhof Langfuhr ein Güterzug rangiert. Mücken hingen traubenweise in der Luft. Von oben her kamen die Glocken. Rangiergeräusche nahmen das Geläute auf. Mücken blieben in Trauben.
Maria hatte ein verweintes Gesicht. Oskar hätte schreien mögen. Was sollte ich mit dem Jesus anfangen? Ich hätte meine Stimme beladen mögen. Was hatte ich mit seinem Kreuz zu tun? Wußte aber ganz genau, daß meine Stimme gegen seine Kirchenfenster nicht ankam. Der sollte seinen Tempel doch weiterhin auf Leute bauen, die Petrus oder Petri oder ostpreußisch Petrikeit hießen. »Paß auf, Oskar, laß die Kirchenfenster heil!« flüsterte Satan in mir. »Der ruiniert dir noch deine Stimme.«
Und so warf ich nur einen einzigen Blick hoch, maß solch ein neugotisches Fenster aus, riß mich dann los, sang nicht, folgte ihm nicht nach, sondern trottete an Marias Seite zur Unterführung Bahnhofstraße, hindurch durch den tropfenden Tunnel, hoch zum Kleinhammerpark, rechts rein in die Marienstraße, vorbei beim Fleischermeister Wohlgemuth, links hinein in die Eisenstraße, über den Strießbach zum Neuen Markt, wo sie einen Löschteich für den Luftschutz bauten. Lang war der Labesweg, und dann waren wir doch da: Oskar . weg von Maria, über neunzig Stufen hinauf auf den Dachboden. Da hingen Bettlaken und hinter den Bettlaken häufte sich Luftschutzsand, und hinter Sand und Eimern, Bündeln Zeitungspapier und Stapeln Dachpfannen mein Buch und mein Trommelvorrat aus Fronttheaterzeiten. Und in einer Schuhschachtel fanden sich einige ausgediente, aber immer noch birnenförmige Glühbirnen. Von denen nahm Oskar die erste, zersang sie, nahm die zweite, ließ die zu Glasstaub werden, trennte der dritten fein säuberlich die fettere Hälfte ab, sang einer vierten die Schönschriftbuchstaben JESUS, ließ dann das Glas und die Inschrift zu Pulver werden, wollte das wiederholen, da waren ihm die Glühbirnen ausgegangen. Erschöpft ließ ich mich auf den Luftschutzsand fallen: Oskar hatte noch seine Stimme. Jesus hatte eventuell einen Nachfolger. Die Stäuber jedoch sollten meine ersten Jünger werden.
DIE STÄUBER
Wenn Oskar sich alleine schon deswegen nicht zur Nachfolge Christi eignet, weil es mir unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet, Jünger zu sammeln, fand doch die damalige Berufung nach diesen und jenen Umwegen mein Ohr, machte mich zum Nachfolger, obgleich ich an meinen Vorgänger nicht glaubte. Doch getreu der Regel: wer zweifelt, der glaubt, wer nicht glaubt, glaubt am längsten, gelang es mir nicht, das kleine, mir privat dargebotene Wunder im Inneren der Herz-Jesu-Kirche mit Zweifeln zu begraben, vielmehr versuchte ich, Jesus zu einer Wiederholung seiner Trommlerdarbietungen zu bewegen.
Mehrmals fand Oskar ohne Maria in die besagte Backsteinkirche. Immer wieder entwischte ich Mutter Truczinski, die ja fest im Stuhl saß und mir nicht beikommen konnte. Was hatte mir Jesus zu bieten?
Warum blieb ich halbe Nächte im linken Kirchenschiff, ließ mich vom Küster einschließen? Warum ließ sich Oskar vor dem linken Seitenaltar die Ohren glashart, jedes Glied steif werden? Denn trotz knirschender Demut, trotz gleichfalls knirschender Lästerungen bekam ich weder meine Trommel noch Jesu Stimme zu hören.
Miserere! Ich habe mich mein Lebtag nicht so mit den Zähnen klappern hören wie auf den Fliesen der mitternächtlichen Herz-Jesu-Kirche. Welcher Narr hätte jemals eine bessere Klapper gefunden als Oskar? Da imitierte ich einen Frontabschnitt voller verschwenderischer Maschinengewehre, da hatte ich die Verwaltung einer Versicherungsgesellschaft samt Büromädchen und Schreibmaschinen zwischen Ober-und Unterkiefer. Das schallte hin und her, fand Echo und Beifall. Da hatten Säulen den Schüttelfrost, bekamen Gewölbe die Gänsehaut, da hüpfte mein Husten auf einem Bein übers Schachmuster der Fliesen, den Kreuzweg rückwärts, das Mittelschiff hoch, schwang sich zum Chor hinauf, hustete sechzigmal — ein Bachverein, der nicht sang, der vielmehr den Husten eingeübt hatte — und als ich schon hoffen wollte, Oskars Husten habe sich in Orgelpfeifen verkrochen und melde sich erst beim sonntäglichen Choral — da hustete es in der Sakristei, gleich darauf von der Kanzel und verschied endlich hustend hinter dem Hochaltar, im Rücken des Turners am Kreuz — und hustete schnell seine Seele aus. Es ist vollbracht, hustete mein Husten; dabei war gar nichts vollbracht. Der Jesusknabe hielt steif und unverfroren meine Stöcke, hielt sich mein Blech auf dem rosigen Gips und trommelte nicht, bestätigte mir nicht die Nachfolge. Oskar hätte sie gerne schriftlich gehabt, die ihm anbefohlene Nachfolge Christi.
Es ist mir aus jener Zeit die Sitte oder Unsitte geblieben, beim Besichtigen von Kirchen, selbst berühmtester Kathedralen, kaum auf den Fliesen und bei gesündester Konstitution, einen anhaltenden Husten freizugeben, der sich angemessen der Stilart, Höhe und Breite entweder gotisch oder romanisch, auch barock entfaltet und mir nach Jahren noch erlauben wird, meinen Husten im Ulmer Münster oder im Dom zu Speyer auf Oskars Trommel nachhallen zu lassen.
Damals jedoch, da ich mitten im Monat August den grabeskalten Katholizismus auf mich wirken ließ, war an Tourismus und Kirchenbesichtigungen in fernen Ländern nur dann zu denken, wenn man als Uniformierter an den planmäßigen Rückzügen teilnahm, womöglich im mitgeführten Tagebüchlein notierte: »Heute Orvieto geräumt, phantastische Kirchenfassade, nach dem Krieg mit Monika hinreisen und genauer ansehen.«
Es fiel mir leicht, zum Kirchgänger zu werden, da mich zu Hause nichts hielt. Da gab es Maria. Doch Maria hatte den Matzerath. Da gab es meinen Sohn Kurt. Doch der Bengel wurde immer unerträglicher, warf mir Sand in die Augen, kratzte mich, daß seine Fingernägel in meinem väterlichen Fleisch abbrachen. Auch zeigte mir mein Sohn ein Paar Fäuste, die so weiße Knöchel hatten, daß mir der bloße Anblick dieser schlagfertigen Zwillinge schon das Blut aus der Nase springen ließ.
Merkwürdigerweise nahm sich Matzerath meiner wenn auch ungeschickt so doch herzlich an. Erstaunt ließ Oskar es sich gefallen, daß jener ihm bisher gleichgültige Mensch ihn auf den Schoß nahm, drückte, anguckte, ihn sogar einmal küßte, dabei zu Tränen kam und mehr zu sich als zu Maria sagte:
»Das geht doch nich. Man kann doch den eigenen Sohn nich. Selbst wenn er zehnmal und alle Ärzte dasselbe sagen. Die schreiben das einfach so hin. Die haben wohl keine Kinder.«
Maria, die am Tisch saß und wie jeden Abend Lebensmittelmarken auf Zeitungsbögen klebte, blickte auf: »Nu beruhje dir doch, Alfred. Du tust grad so, als würd mir das mischt ausmachen. Aber wenn se sagen, das macht man heut so, denn weiß ich nich, was nu richtig is.«
Mit dem Zeigefinger wies Matzerath auf das Klavier, das seit dem Tod meiner armen Mama nicht mehr zu Musik kam: »Agnes hätte das nie gemacht oder erlaubt!«
Maria warf dem Klavier einen Blick zu, hob die Schultern und ließ sie erst beim Sprechen wieder fallen: »Na is verständlich, weil se de Mutter war und immer jehofft hat, dasses besser mecht werden mit ihm. Aber siehst ja: is nich jeworden, wird überall nur rum-jestoßen und weiß nich zu leben und weiß nich zu sterben!«
Holte sich Matzerath die Kraft von der Abbildung Beethovens, die immer noch über dem Klavier hing und finster den finsteren Hitler musterte? — »Nein!« schrie er. »Niemals!« und schlug mit der Faust auf den Tisch, auf feuchte, klebende Klebebögen, ließ sich von Maria den Brief der Anstaltsleitung reichen, las darin und las und las und las, zerriß dann den Brief und schleuderte die Fetzen zwischen die Brotmarken, Fettmarken, Nährmittelmarken, Reisemarken, Schwerarbeitermarken, Schwerstarbeitermarken und zwischen die Marken für werdende und stillende Mütter. Wenn Oskar auch, dank Matzerath, nicht in die Hände jener Ärzte geriet, sah er fortan und sieht sogar heute noch, sobald ihm Maria unter die Augen kommt, eine wunderschöne, in bester Gebirgsluft liegende Klinik, in dieser Klinik einen lichten, modern freundlichen Operationssaal, sieht, wie vor dessen gepolsterter Tür die schüchterne, doch vertrauensvoll lächelnde Maria mich erstklassigen Ärzten übergibt, die gleichfalls und Vertrauen erweckend lächeln, während sie hinter ihren weißen, keimfreien Schürzen erstklassige, Vertrauen erweckende, sofort wirkende Spritzen halten.
Es hatte mich also alle Welt verlassen, und nur der Schatten meiner armen Mama, der dem Matzerath lähmend auf die Finger fiel, wenn er ein vom Reichsgesundheitsministerium verfaßtes Schreiben unterzeichnen wollte, verhinderte mehrmals, daß ich, der Verlassene, diese Welt verließ.
Oskar möchte nicht undankbar sein. Meine Trommel blieb mir noch. Auch blieb mir meine Stimme, die Ihnen, die Sie alle meine Erfolge dem Glas gegenüber kennen, kaum etwas Neues bieten kann, die manchen unter Ihnen, der den Wechsel liebt, langweilen mag — mir jedoch war Oskars Stimme über der Trommel ein ewig frischer Beweis meiner Existenz; denn solange ich Glas zersang, existierte ich, solange mein gezielter Atem dem Glas den Atem nahm, war in mir noch Leben.
Oskar sang damals viel. Verzweifelt viel sang er. Immer wenn ich zu später Stunde die Herz-Jesu-Kirche verließ, zersang ich etwas. Ich ging nach Hause, suchte nicht einmal besonders, nahm mir ein schlechtverdunkeltes Mansardenzimmer vor oder auch eine blaubepinselte, luftschutzgerecht glimmende Straßenlaterne. Jedesmal nach dem Kirchenbesuch wählte ich einen anderen Heimweg.
Einmal kam Oskar durch den Anton-Möller-Weg auf die Marienstraße. Einmal stiefelte er den Uphagenweg hoch, ums Conradinum herum, ließ dort das verglaste Schulportal klirren und kam über die Reichskolonie zum Max-Halbe-Platz. Als ich an einem der letzten Augusttage zu spät zur Kirche kam und das Portal schon verschlossen fand, entschloß ich mich zu einem größeren Umweg, der meiner Wut Luft machen sollte. Die Bahnhofstraße lief ich, jede dritte Laterne killend, hoch, bog hinterm Filmpalast rechts in die Adolf-Hitler-Straße ein, ließ die Fensterfront der Infanteriekaserne links liegen, kühlte jedoch mein Mütchen an einer mir aus Richtung Oliva entgegenkommenden, fast leeren Straßenbahn, deren linker Seite ich alle trüb abgedunkelten Scheiben nahm.
Kaum achtete Oskar auf seinen Erfolg, ließ die Straßenbahn kreischen und bremsen, ließ die Leute aussteigen, schimpfen und wieder einsteigen, suchte nach einem Nachtisch für seine Wut, nach einem Leckerbissen in jener an Leckerbissen so armen Zeit und blieb erst in seinen Schnürschuhen stehen, als er am äußersten Rand des Vorortes Langfuhr angelangt, neben der Tischlerei Berendt, dem weiten Barackenlager des Flugplatzes vorgelagert, das Hauptgebäude der Schokoladenfabrik Baltic im Mondschein liegen sah.
Meine Wut war jedoch nicht mehr so groß, daß ich mich der Fabrik auf altbewährte Weise sofort vorgestellt hätte. Zeit nahm ich mir, zählte die vom Mond vorgezählten Scheiben nach, kam mit dem Mond zum selben Ergebnis, hätte jetzt mit der Vorstellung beginnen können, wollte aber erst wissen, was es mit den Halbwüchsigen auf sich hatte, die mir von Hochstrieß an, vermutlich schon unter den Kastanien der Bahnhofstraße hinterher waren. Allein sechs oder sieben standen vor oder in dem Wartehäuschen neben der Straßenbahnhaltestelle Hohenfriedberger Weg. Fünf weitere Burschen ließen sich hinter den ersten Bäumen der Chaussee nach Zoppot ausmachen.
Schon wollte ich den Besuch der Schokoladenfabrik verschieben, den Burschen aus dem Wege gehen, also einen Umweg machen und über die Eisenbahnbrücke am Flugplatz entlang durch die Laubenkolonie zur Aktienbierbrauerei am Kleinhammerweg schleichen, als Oskar auch von der Brücke her ihre aufeinander abgestimmten, signalartigen Pfiffe hörte. Da gab es keinen Zweifel mehr: der Aufmarsch galt mir.
Man zählt sich in solchen Lagen, während der kurzen Zeitspanne, da die Verfolger ausgemacht sind, die Hatz aber noch nicht begonnen hat, breit und genießerisch die letzten Rettungsmöglichkeiten auf: da hätte Oskar laut nach Mama und Papa schreien können. Da hätte ich wen nicht alles, womöglich einen Polizisten herbeitrommeln können. Da hätte ich bei meiner Statur gewiß die Unterstützung der Erwachsenen gefunden, lehnte aber — konsequent wie Oskar mitunter sein konnte — die Hilfe ausgewachsener Passanten, die Vermittlung eines Polizisten ab, wollte es, von Neugierde und Selbstbewußtsein geplagt, darauf ankommen lassen, tat das Allerdümmste: den geteerten Zaun vor dem Schokoladenfabrikgelände suchte ich nach einer Lücke ab, fand keine, sah, wie die Halbwüchsigen das Wartehäuschen an der Haltestelle, die Baumschatten der Zoppoter Chaussee verließen, Oskar weiter am Zaun entlang, jetzt kamen sie auch von der Brücke her, und der Bretterzaun hatte immer noch kein Loch, die kamen nicht schnell, eher schlendernd und vereinzelt, ein bißchen konnte Oskar noch suchen, die gönnten mir gerade soviel Zeit, wie man braucht, um eine Lücke im Zaun zu finden, doch als dann endlich eine einzige Planke fehlte, und ich mich, irgendwo ein Eckloch reißend, durch den Spalt quetschte, standen mir auf der anderen Seite des Zaunes vier Burschen in Windblusen gegenüber, die mit ihren Pfoten die Taschen ihrer Skihosen beutelten.
Da ich das Unabänderliche meiner Situation sofort begriff, suchte ich erst einmal meine Kleidung nach jenem Eckloch ab, das ich mir in der Zaunlücke gerissen hatte. Es fand sich rechts hinten an der Hose.
Mit zwei gespreizten Fingern maß ich es aus, fand es- ärgerlich groß, stellte mich aber gleichgültig und wartete mit dem endgültigen Aufblicken, bis alle Burschen von der Straßenbahnhaltestelle, von der Chaussee und der Brücke über den Zaun geklettert waren; denn die Lücke im Zaun war denen nicht angemessen.
Das ereignete sich in den letzten Augusttagen. Der Mond hielt sich von Zeit zu Zeit eine Wolke vor.
So an die zwanzig Burschen zählte ich. Die jüngsten vierzehn, die ältesten sechzehn, fast siebzehn.
Vierundvierzig hatten wir einen warmen, trockenen Sommer. Vier von den größeren Bengels trugen Luftwaffenhelferuniformen. Ich erinnere mich, daß wir Vierundvierzig ein gutes Kirschenjahr hatten.
Sie standen in Grüppchen um Oskar herum, unterhielten sich halblaut, benutzten einen Jargon, den zu verstehen ich mir keine Mühe gab. Auch riefen sie sich mit merkwürdigen Namen an, die ich mir zum kleineren Teil merkte. So hieß ein etwa fünfzehnjähriges Kerlchen mit leicht verschleierten Rehaugen Ritschhase, manchmal auch Dreschhase. Den daneben nannten sie Putte. Den kleinsten, doch sicher nicht jüngsten Bengel, einen Lispler mit vorstehender Oberlippe, rief man Kohlenklau. Einen Luftwaffenhelfer sprach man als Mister an, einen anderen recht treffend Suppenhuhn, auch gab es historische Namen: Löwenherz, Blaubart hieß ein Milchgesicht, mir wohlvertraute Namen wie Totila und Teja, ja vermessen genug, Belisar und Narses machte ich aus; Störtebeker, der einen richtigen, zum Ententeich verbeulten Velourshut und einen zu langen Regenmantel trug, musterte ich aufmerksamer: er war trotz seiner sechzehn Jährchen der Anführer der Gesellschaft.
Man beachtete Oskar nicht, wollte ihn wohl mürbe machen, und so setzte ich mich halb belustigt, halb über mich, der ich mich auf diese offensichtliche Knabenromantik einließ, verärgert und mit müden Beinen auf meine Trommel, sah mir den so gut wie vollen Mond an und versuchte, einen Teil meiner Gedanken in die Herz-Jesu-Kirche zu schicken.
Vielleicht hätte er heute getrommelt, auch ein Wörtchen gesagt. Und ich saß auf dem Hof der Schokoladenfabrik Baltic, ließ mich auf Ritterundräuberspiele ein. Vielleicht wartete er auf mich, hatte vor, nach einer kurzen Trommeleinlage den Mund abermals aufzutun, mir die Nachfolge Christi zu verdeutlichen, war nun enttäuscht, daß ich nicht kam, hob sicherlich hochmütig die Augenbrauen. Was mochte Jesus von diesen Burschen halten? Was sollte Oskar, sein Ebenbild, sein Nachfolger und Stellvertreter mit dieser Horde anfangen? Konnte er mit Jesu Worten »Lasset die Kindlein zu mir kommen!« Halbwüchsige ansprechen, die sich Putte, Dreschhase, Blaubart, Kohlenklau und Störtebeker nannten?
Störtebeker näherte sich. Neben ihm Kohlenklau, seine rechte Hand. Störtebeker: »Steh auf!«
Oskar hatte die Augen noch beim Mond, die Gedanken noch vor dem linken Seitenaltar der Herz-Jesu-Kirche, stand nicht auf, und Kohlenklau schlug mir, auf einen Wink Störtebekers hin, die Trommel unter dem Gesäß weg.
Als ich aufstand, nahm ich das Blech, um es vor weiteren Schäden besser bewahren zu können, an mich, unter den Kittel.
Ein hübscher Bengel, dieser Störtebeker, dachte Oskar. Die Augen etwas zu tief und zu nah beieinanderliegend, doch die Mundpartie einfallsreich und beweglich. »Wo kommste her?«
Die Fragerei sollte also beginnen, und ich hielt mich, da mir diese Begrüßung nicht gefiel, abermals an die Mondscheibe, stellte mir den Mond — der sich ja alles gefallen läßt — als Trommel vor und lächelte über meinen unverbindlichen Größenwahn. »Der grinst, Störtebeker.«
Kohlenklau beobachtete mich, schlug seinem Chef eine Tätigkeit vor r die er »das Stäuben« nannte.
Andere im Hintergrund, das pickelige Löwenherz, Mister, Dreschhase und Putte waren auch fürs Stäuben.
Immer noch beim Mond, buchstabierte ich mir Stäuben. Welch ein hübsches Wörtchen, doch sicher nichts Angenehmes.
»Hier bestimme ich, wann gestäubt wird!« beendete Störtebeker das Gemurmel seiner Bande, meinte dann wieder mich: »Haben dich oft genug in der Bahnhofstraße gesehen. Was machste da? Wo kommste her?«
Zwei Fragen auf einmal. Wenigstens zu einer Antwort mußte sich Oskar entschließen, wenn er Herr der Lage bleiben wollte. So zog ich das Gesicht vom Mond weg, blickte den Störtebeker mit meinen blauen, einflußreichen Augen an und sagte ruhig: »Aus der Kirche komme ich.«
Etwas Gemurmel hinter Störtebekers Regenmantel. Sie ergänzten meine Antwort. Kohlenklau fand heraus, daß ich mit Kirche die Herz-Jesu-Kirche meinte.
»Wie heißt du?«
- Diese Frage mußte kommen. Das lag an der Begegnung. Diese Fragestellung nimmt einen wesentlichen Platz in der menschlichen Konversation ein. Von der Beantwortung dieser Frage leben längere und kürzere Theaterstücke, auch Opern — siehe Lohengrin.
Da wartete ich das Mondlicht zwischen zwei Wolken ab, ließ jenen Glanz im Blau meiner Augen drei Löffel Suppe lang auf Störtebeker wirken und sagte dann, nannte mich, war neidisch auf die Wirkung des Wortes — denn den Namen Oskar hätten die allenfalls mit Gelächter quittiert — und Oskar sagte:
»Ich heiße Jesus«, bewirkte längere Stille mit diesem Bekenntnis, bis Kohlenklau sich räusperte: »Wir müssen ihn doch stäuben, Chef.«
Nicht nur Kohlenklau war fürs Stäuben. Störtebeker gab mit den Fingern schnalzend seine Erlaubnis zum Stäuben, und Kohlenklau packte mich, drückte mir seine Knöchel gegen den rechten Oberarm, bewegte sie trocken, rasch, heiß und schmerzhaft, bis Störtebeker abermals, jetzt Einhalt gebietend mit den Fingern schnalzte — das war also das Stäuben!
»Na, wie heißte nun?« Der Chef mit dem Velourshut gab sich gelangweilt, machte rechts eine Boxbewegung, die den zu langen Ärmel seines Regenmantels zurückrutschen ließ, zeigte im Mondschein seine Armbanduhr und flüsterte links an mir vorbei: »Eine Minute Bedenkzeit. Dann sagt Störtebeker Feierabend.«
Immerhin eine Minute lang durfte sich Oskar ungestraft den Mond ansehen, Ausflüchte in dessen Kratern suchen und den einmal gefaßten Entschluß zur Nachfolge Christi in Frage stellen. Weil mir das Wörtchen Feierabend nicht gefiel, auch weil ich mich von den Burschen auf keinen Fall mit Uhrzeiten bevormunden lassen wollte, sagte Oskar nach etwa fünfunddreißig Sekunden: »Ich bin Jesus.«
Das Folgende wirkte effektvoll und war dennoch nicht von mir inszeniert. Sogleich nach meinem abermaligen Bekenntnis zur Nachfolge Christi, bevor Störtebeker mit den Fingern schnalzen, Kohlenklau stäuben konnte — gab es Fliegeralarm.
Oskar sagte »Jesus«, atmete wieder ein, und nacheinander bestätigten mich die Sirenen des nahen Flugplatzes, die Sirene auf dem Hauptgebäude der Infanteriekaserne Hochstrieß, die Sirene auf dem Dach der kurz vorm Langfuhrer Wald liegenden Horst-Wessel-Oberschule, die Sirene auf dem Kaufhaus Sternfeld und ganz fern, von der Hindenburgallee her, die Sirene der Technischen Hochschule. Es brauchte seine Zeit, bis alle Sirenen des Vorortes langatmig und eindringlich gleich Erzengeln die von mir verkündete frohe Botschaft aufnahmen, die Nacht schwellen und einsinken, die Träume flimmern und reißen ließen, den Schläfern ins Ohr krochen und dem Mond, der nicht zu beeinflussen war, die schreckliche Bedeutung eines nicht zu verdunkelnden Himmelskörpers gaben.
Während Oskar den Fliegeralarm ganz auf seiner Seite wußte, machten die Sirenen den Störtebeker nervös. Ein Teil seiner Bande wurde durch den Alarm direkt und dienstlich angesprochen. So mußte er die vier Luftwaffenhelfer über den Zaun zu ihren Batterien, zu den Acht-Komma-Acht-Stellungen zwischen Straßenbahndepot und Flugplatz schicken. Drei seiner Leute, darunter Belisar, hatten Luftschutzwache im Conradinum, mußten also auch sogleich fort. Den Rest, etwa fünfzehn Burschen, hielt er zusammen und begann, da am Himmel nichts los war, wieder mit dem Verhör: »Also wenn wir richtig verstanden haben, biste Jesus. — Lassen wir das. Andere Frage: wie machste das mit den Laternen und Fensterscheiben? Keine Ausflüchte, wir wissen Bescheid!«
Nun, Bescheid wußten die Burschen nicht. Allenfalls hatten sie diesen oder jenen Erfolg meiner Stimme beobachtet. Oskar befahl sich einige Nachsicht mit jenen Halbwüchsigen, die man heutzutage kurz und bündig Halbstarke nennen würde. Ich versuchte, ihre direkte und teilweise ungeschickte Zielstrebigkeit zu entschuldigen, gab mich mild objektiv. Das also waren die berüchtigten Stäuber, von denen seit einigen Wochen die ganze Stadt sprach; eine Jugendbande, der die Kriminalpolizei und mehrere Züge des HJ-Streifendienstes hinterher waren. Wie sich später herausstellen sollte: Gymnasiasten des Conradinums, der Petri-Oberschule und der Horst-Wessel-Oberschule. Auch gab es eine zweite Gruppe der Stäuberbande in Neufahrwasser, die zwar von Gymnasiasten geführt wurde, aber zu gut zwei Dritteln Lehrlinge der Schichauwerft und der Waggonfabrik zu Mitgliedern hatte. Die beiden Gruppen arbeiteten nur selten, eigentlich nur dann zusammen, wenn sie von der Schichaugasse aus den Steffenspark und die nächtliche Hindenburgallee nach BdM-Führerinnen abkämmten, die nach Schulungsabenden von der Jugendherberge auf dem Bischofsberg heimkehrten. Man vermied Streitigkeiten zwischen den Gruppen, grenzte die Aktionsgebiete genau ab, und Störtebeker sah in dem Anführer der Neufahrwasseraner mehr einen Freund als einen Rivalen. Die Stäuberbande kämpfte gegen alles. Sie räumten die Dienststellen der Hitlerjugend aus, hatten es auf die Orden und Rangabzeichen von Fronturlaubern abgesehen, die mit ihren Mädchen in den Parkanlagen Liebe machten, stahlen Waffen, Munition und Benzin mit Hilfe ihrer Luftwaffenhelfer aus den Flakbatterien und planten von Anfang an einen großen Angriff auf das Wirtschaftsamt.
Ohne etwas von der Organisation und den Plänen der Stäuber zu wissen, wollte Oskar, der sich damals recht verlassen und erbärmlich vorkam, im Kreis der Halbwüchsigen ein Gefühl von Geborgenheit beschleichen. Schon machte ich mich insgeheim mit den Burschen gemein, schlug den Einwand des zu großen Altersunterschiedes — ich sollte zwanzig werden — in den Wind und hielt mir Vor: warum sollst du den Burschen nicht eine Probe deiner Kunst zeigen? Jungens sind immer wißbegierig. Du warst auch einmal fünfzehn und sechzehn Jahre alt. Gib ihnen ein Beispiel, mach ihnen etwas vor. Sie werden dich bewundern, werden dir womöglich fortan gehorchen. Deinen durch viele Erfahrungen gewitzten Einfluß kannst du ausüben, gehorche jetzt schon deiner Berufung, sammle Jünger und trete die Nachfolge Christi an.
Vielleicht ahnte Störtebeker, daß meine Nachdenklichkeit wohlbegründet-war. Er ließ mir Zeit, und ich war ihm dankbar dafür. Ende August. Eine Mondnacht, leichtbewölkt. Fliegeralarm. Zwei, drei Scheinwerfer an der Küste. Wahrscheinlich ein Aufklärungsflugzeug. In jenen Tagen wurde Paris geräumt. Mir gegenüber das vielfenstrige Hauptgebäude der Schokoladenfabrik Baltic. Nach langem Lauf kam die Heeresgruppe Mitte an der Weichsel zum Stehen. Allerdings arbeitete Baltic nicht mehr für den Einzelhandel, sondern stellte Schokolade für die Luftwaffe her. So mußte Oskar sich auch mit derVorstellung vertraut machen, daß die Soldaten des General Patton ihre amerikanischen Uniformen unter dem Eiffelturm spazierenführten. Das war schmerzlich für mich, und Oskar hob einen Trommelstock. Soviele gemeinsame Stunden mit Roswitha. Und Störtebeker bemerkte meine Geste, ließ seinen Blick dem Trommelstock folgen und auf die Schokoladenfabrik gleiten. Während man bei hellstem Tageslicht im Pazifik ein Inselchen von Japanern säuberte, lag hier der Mond in allen Fenstern der Fabrik gleichzeitig. Und Oskar sagte zu allen, die es hören wollten: »Jesus zersingt jetzt das Glas.«
Schon bevor ich die ersten drei Scheiben abfertigte, fiel mir das Gebrumm einer Fliege hoch über mir auf. Während zwei weitere Scheiben das Mondlicht aufgaben, dachte ich: das ist eine sterbende Fliege, die brummt so laut. Dann malte ich mit meiner Stimme die restlichen Fensterfüllungen des obersten Fabrikstockwerkes schwarz und überzeugte mich von der Bleichsucht mehrerer Scheinwerfer, bevor ich die Spiegelungen der Lichter, die in der Batterie neben dem Narviklager beheimatet sein mochten, aus mehreren Fabrikfenstern des mittleren und untersten Stockwerkes nahm. Zuerst schössen die Küstenbatterien, dann gab ich dem mittleren Stockwerk den Rest. Gleich darauf erhielten die Batterien Altschottland, Pelonken und Schellmühl Feuererlaubnis. Das waren drei Fenster im Parterre — und das waren Nachtjäger, die auf dem Flugplatz starteten, flach über die Fabrik hinwegstrichen. Noch bevor ich mit dem Erdgeschoß fertig war, stellte die Flak das Schießen ein und überließ es den Nachtjägern, einen über Oliva von drei Scheinwerfern gleichzeitig gefeierten viermotorigen Fernbomber abzuschießen.
Anfangs trug sich Oskar noch mit der Befürchtung, die Gleichzeitigkeit seiner Darbietung mit den effektvollen Anstrengungen der Fliegerabwehr könnte die Aufmerksamkeit der Burschen teilen oder sogar von der Fabrik weg in den Nachthimmel locken.
Um so erstaunter war ich, als nach getaner Arbeit die gesamte Bande immer noch nicht von der fensterscheibenlosen Schokoladenfabrik loskam. Selbst als vom nahen Hohenfriedberger Weg her Bravorufe und Applaus wie im Theater laut wurden, weil es den Bomber erwischt hatte, weil der brennend, den Leuten was bietend, im Jeschkentalerwald mehr abstürzte als landete, rissen sich nur wenige Bandenmitglieder, unter ihnen Putte, von der entglasten Fabrik los. Doch weder Störtebeker noch Kohlenklau, auf die es mir eigentlich ankam, gaben etwas auf den Abschuß.
Dann waren wie zuvor nur noch der Mond und der Kleinkram der Sterne am Himmel. Die Nachtjäger landeten. Sehr entfernt wurde etwas Feuerwehr laut. Da drehte sich Störtebeker, zeigte mir seinen immer verächtlich geschwungenen Mund, machte jene Boxbewegung, die die Armbanduhr unter dem zu langen Regenmantelärmel freigab, nahm sich die Uhr ab, reichte sie mir wortlos, aber schweratmend, wollte etwas sagen, mußte aber die mit der Entwarnung beschäftigten Sirenen abwarten, bis er mir unter dem Beifall seiner Leute gestehen konnte: »Gut Jesus. Wenn du willst, biste aufgenommen und kannst mitmachen. Wir sind die Stäuber, wenn dir das ein Begriff ist!«
Oskar wog die Armbanduhr in der Hand, schenkte das recht raffinierte Ding mit den Leuchtziffern und der Uhrzeit null Uhr dreiundzwanzig dem Bürschchen Kohlenklau. Der sah seinen Chef fragend an.
Störtebeker gab nickend die Einwilligung. Und Oskar sagte, indem er sich die Trommel für den Heimweg bequem rückte: »Jesus geht euch voran. Folget mir nach!«