DAS KARTENHAUS
Viktor Weluhn half uns beim Transport des trotz zunehmenden Blutverlustes immer schwerer werdenden Hausmeisters. Der stark kurzsichtige Viktor trug zu dem Zeitpunkt noch seine Brille und stolperte nicht auf den Steinstufen im Treppenhaus. Von Beruf war Viktor, was für einen Kurzsichtigen unglaublich klingen mag, Geldbriefträger. Heute nenne ich Viktor, sobald die Rede auf ihn kommt, den armen Viktor. Genau wie meine Mama durch einen Familienspaziergang zur Hafenmole zu meiner armen Mama wurde, wurde der Geldbriefträger Viktor durch den Verlust seiner"
Brille — es spielten auch andere Gründe mit — zum armen, brillenlosen Viktor.
»Hast du den armen Viktor wieder einmal gesehen?« frage ich meinen Freund Vittlar an den Besuchstagen. Doch seit jener Straßenbahnfahrt von Flingern nach Gerresheim — es wird davon noch berichtet werden — ist uns Viktor Weluhn verlorengegangen. Es bleibt nur zu hoffen, daß seine Häscher ihn gleichfalls vergeblich suchen, daß er seine Brille oder eine ihm angemessene Brille wiedergefunden hat und womöglich wie einst, wenn auch nicht mehr im Dienste der Polnischen Post, so doch als Geldbriefträger der Bundespost kurzsichtig, aber bebrillt die Leute mit bunten Scheinen und harten Münzen beglückt.
»Ist das nicht schrecklich«, keuchte Jan, der den Kobyella links gefaßt hatte.
»Und wie mag es ausgehen, wenn die Engländer und Franzosen nicht kommen?« besorgte sich der rechts mit dem Hausmeister beladene Viktor.
»Aber sie werden kommen! Rydz-Smigly hat noch gestern im Rundfunk gesagt: >Wir haben die Garantie: wenn es losgeht, steht ganz Frankreich wie ein Mann auf !<« Jan hatte Mühe, seine Sicherheit bis zum Ende des Satzes beizubehalten, denn der Anblick seines eigenen Blutes auf seinem zerkratzten Handrücken stellte zwar nicht den polnisch-französischen Garantievertrag in Frage, ließ aber die Befürchtung zu, Jan könnte verbluten, noch ehe ganz Frankreich wie ein Mann aufstehe und getreu der gegebenen Garantie den Westwall überrenne.
»Sicher sind sie schon unterwegs. Und die Flotte Englands durchpflügt schon die Ostsee!« Viktor Weluhn liebte starke, nachhallende Ausdrücke, verhielt auf der Treppe, rechts mit dem getroffenen Körper des Hausmeisters behängt, links eine Hand wie auf dem Theater hochwerfend, alle fünf Finger sprechen lassend: »Kommt nur, ihr stolzen Briten!«
Während die beiden langsam, und immer wieder die polnisch-französisch-englischen Beziehungen erwägend, den Kobyella dem Notlazarett zuführten, blätterte Oskar in Gedanken Gretchen Schefflers Bücher nach diesbezüglichen Stellen durch. Keysers Geschichte der Stadt Danzig: »Während des Deutsch-Französischen Krieges anno siebenzigeinundsiebenzig liefen am Nachmittag des einundzwanzigsten August achtzehnhundertsiebenzig vier französische Kriegsschiffe in die Danziger Bucht ein, kreuzten auf der Reede, richteten schon ihre Geschützrohre gegen Hafen und Stadt, da gelang es während der folgenden Nacht der Schraubenkorvette >Nymphe< unter der Führung des Korvettenkapitäns Weickhmann, den im Putziger Wiek ankernden Flottenverband zum Rückzug zu zwingen.«
Kurz bevor wir den Lagerraum für Briefsendungen in der ersten Etage erreichten, rang ich mich zu der später bestätigten Ansicht durch: die Home Fleet lag, während die Polnische Post und das ganze flache Polen bestürmt wurden, mehr oder weniger gut geschützt in irgendeinem Fjord des nördlichen Schottland; Frankreichs große Armee verweilte noch beim Mittagessen und glaubte mit einigen Spähtruppunternehmungen im Vorfeld der Maginotlinie, den polnisch-französischen Garantievertrag erfüllt zu haben.
Vor dem Lagerraum und Notlazarett fing uns Doktor Michon, der immer noch den Stahlhelm trug, auch das Kavaliertaschentüchlein aus der Brusttasche hervorlugen ließ, mit dem Beauftragten aus Warschau, einem gewissen Konrad ab. Sofort setzte in allen Spielarten, schwerste Blessuren vortäuschend, Jan Bronskis Angst ein. Während Viktor Weluhn, der ja unverletzt war und mit seiner Brille ausgerüstet einen brauchbaren Schützen abgeben mochte, hinunter in die Schalterhalle mußte, durften wir in den fensterlosen Raum, den notdürftig Talgkerzen erhellten, weil das Elektrizitätswerk der Stadt Danzig nicht mehr bereit war, die Polnische Post mit Strom zu versorgen.
Der Doktor Michon, der an Jans Verwundungen nicht recht glauben wollte, jedoch auf Jan als kampftüchtigen Verteidiger der Post keinen unbedingten Wert legte, gab seinem Postsekretär den Befehl, als quasi Sanitäter, den Verwundeten aufzupassen und auch auf mich, den er flüchtig, und wie ich zu spüren glaubte, verzweifelt streichelte, ein besorgtes Auge zu werfen, damit das Kind nicht in die Kampfhandlungen gerate.
Einschlag der Feldhaubitze in Höhe der Schalterhalle. Es würfelte uns. Der Stahlhelm Michon, Warschaus Abgesandter Konrad und der Geldbriefträger Weluhn stürzten ihren Gefechtsstellungen entgegen. Jan und ich, wir fanden uns mit sieben oder acht Verwundeten in einem abgeschlossenen, allen Kampflärm dämpfenden Raum. Nicht einmal die Kerzen flackerten besonders, wenn draußen die Haubitze Ernst machte. Still war es trotz der Stöhnenden oder wegen der Stöhnenden. Jan wickelte hastig und ungeschickt in Streifen gerissene Bettlaken um Kobyellas Oberschenkel, wollte sodann sich selbst pflegen; aber Wange und Handrücken des Onkels bluteten nicht mehr. Verkrustet schwiegen die Schnittwunden, mochten jedoch schmerzen und Jans Angst nähren, die in dem niedrig stickigen Raum keinen Auslauf hatte. Fahrig suchte er seine Taschen ab, fand das vollzählige Spiel: Skat! Bis zum Zusammenbruch der Verteidigung spielten wir Skat.
Zweiunddreißig Karten wurden gemischt, abgehoben, verteilt, ausgespielt. Da alle Briefkörbe schon mit Verwundeten belegt waren, setzten wir Kobyella gegen einen Korb, banden ihn endlich, da er von Zeit zu Zeit umsinken wollte, mit den Hosenträgern eines anderen Verwundeten fest, brachten ihm Haltung bei, verboten ihm, seine Karten fallen zu lassen, denn wir brauchten Kobyella. Was hätten wir tun können ohne den dritten fürs Skatspiel notwendigen Mann? Denen in den Briefkörben fiel es schwer, schwarz von rot zu unterscheiden, die wollten keinen Skat mehr spielen. Eigentlich wollte auch Kobyella keinen Skat mehr spielen. Hinlegen wollte er sich. Es drauf ankommen, den Karren laufenlassen wollte der Hausmeister. Mit einmal untätigen Hausmeisterhänden, die Augen wimpernlos schließend, wollte er den letzten Abbrucharbeiten zusehen. Wir aber duldeten diesen Fatalismus nicht, banden ihn fest, zwangen ihn, den dritten Mann abzugeben, während Oskar den zweiten Mann abgab — und niemand wunderte sich, daß der Dreikäsehoch Skat spielen konnte.
Ja, als ich zum erstenmal meine Stimme für die Sprache der Erwachsenen hergab und »Achtzehn!« sagte, blickte mich Jan, aus seinen Karten auftauchend, zwar kurz und unbegreiflich blau an, nickte bejahend, ich darauf: »Zwanzig?« Jan ohne Zögern: »Immer noch.« Ich: »Zwo? Und die drei?
Vierundzwanzig?« Jan bedauerte: »Passe.« Und Kobyella? Der wollte schon wieder trotz der Hosenträger zusammensacken. Aber wir rissen ihn hoch, warteten den Lärm eines draußen, entfernt von unserem Spielzimmer dargebotenen Granateneinschlages ab, bis Jan in die gleich darauf ausbrechende Stille zischen konnte: »Vierundzwanzig, Kobyella! Hörst du nicht, was der Junge gereizt hat?«
Ich weiß nicht, von woher, aus welchen Untiefen der Hausmeister auftauchte. Mit Schraubwinden schien er seine Augenlider heben zu müssen. Endlich irrte sein Blick wäßrig über die zehn Karten, die Jan ihm diskret und ohne jeden Schummelversuch zuvor in die Hand gedrückt hatte.
»Passe«/ sagte Kobyella. Das heißt, wir lasen es seinen Lippen ab, die fürs Sprechen wohl allzusehr ausgetrocknet waren.
Ich spielte einen Kreuz einfach. Um zu den ersten Stichen zu kommen, mußte Jan, der »Contra« gab, den Hausmeister anbrüllen, gutmütig derb in die Seite stoßen, damit er sich zusammennahm und das Bedienen nicht vergaß; denn ich zog den beiden erst mal alle Trümpfe ab, opferte Kreuz König, den Jan mit Pique Junge wegstach, kam aber, da ich Karo blank war, Jans Karo Aß wegstechend, wieder ans Spiel, holte ihm mit Herz Bube die Zehn raus — Kobyella warf Karo neun ab, und stand dann bombensicher mit meiner Herzflöte da: Miteinemspielzweicontradreischneiderviermalkreuzistacht-undvierzigoderzwölfpfennige! Erst als mir beim nächsten Spiel — ich riskierte einen mehr als riskanten Grand ohne Zwein — Kobyella, der beide Jungs gegen hatte, aber nur bis dreiunddreißig gehalten hatte, den Karo Jungen mit Kreuz Bube wegstach, kam etwas Zug ins Spiel. Der Hausmeister, durch seinen Stich wie gestochen, kam mit Karo Aß hinterher, ich mußte bedienen, Jan pfefferte die Zehn rein, Kobyella strich weg, zog den König, ich hätte stechen sollen, stach aber nicht, warf Kreuz Acht ab, Jan talgte, was er konnte, kam sogar ans Spiel mit Pique Zehn, da stach ich und verdammt, Kobyella mit Pique Bube drüber, den hatte ich vergessen oder dachte, den hätte Jan, aber Kobyella hatte, stach drüber und wieherte, natürlich jetzt Pique hinterher, ich mußte abwerfen, Jan talgte, was er konnte, dann endlich kamen sie mir mit Herzen, aber das half alles nix mehr: zwoundfünfzig hatte ich hin und her gezählt: ohnezwein-spieldreimalgrandistsechzigverlorenhundertzwanzigoderdreißigpfenni-ge. Jan pumpte mir zwei Gulden in Kleingeld, ich zahlte, aber der Kobyella war trotz des gewonnenen Spieles schon wieder zusammengesackt, ließ sich nicht auszahlen, und selbst die in jenem Augenblick erstmals im Treppenhaus einschlagende Pakgranate sagte dem Hausmeister gar nichts, obgleich es sein Treppenhaus war, das er seit Jahren zu putzen und wichsen nicht müde geworden war.
Jan jedoch kam wieder die Angst an, als es die Tür unserer Briefkammer rüttelte und die Flämmchen der Talgkerzen nicht wußten, wie ihnen geschah und in welche Richtung sie sich legen sollten. Selbst als im Treppenhaus wieder verhältnismäßige Ruhe herrschte und die nächste Pakgranate an der entlegenen Außenfassade detonierte, tat Jan Bronski wie verrückt beim Kartenmischen, vergab sich zweimal, aber ich sagte nichts mehr. Solange die schössen, war Jan für keinen Zuspruch empfänglich, überreizte sich, bediente falsch, vergaß sogar, den Skat zu drücken, und lauschte immer mit einem seiner kleinen wohldurchgebildeten, sinnlich fleischigen Ohren nach draußen, während wir ungeduldig warteten, daß er dem Spielverlauf nachkomme. Während Jan immer unkonzentrierter das Skatspiel unterstützte, war Kobyella, wenn er nicht gerade zusammensacken wollte und eins in die Seite brauchte, immer da. Der spielte gar nicht so schlecht, wie es um ihn zu stehen schien. Der sackte immer erst zusammen, wenn er sein Spielchen gewonnen oder contragebend Jan oder mir einen Grand verpatzt hatte. Das konnte ihn nicht mehr interessieren: gewonnen oder verloren. Der war nur fürs Spiel selbst. Und wenn wir zählten und nochmal zählten, dann hing er schief in den ausgeliehenen Hosenträgern und erlaubte nur seinem Adamsapfel, schreckhaft ruckend, Lebenszeichen des Hausmeisters Kobyella zu geben.
Auch Oskar strengte dieser Dreimännerskat an. Nicht etwa, daß jene mit der Belagerung und Verteidigung der Post verbundenen Geräusche und Erschütterungen meine Nerven übermäßig belastet hätten. Es war vielmehr dieses erstmalige, plötzliche, und wie ich mir. vornahm, zeitlich begrenzte Fallenlassen aller Verkleidung. Wenn ich mich bis zu jenem Tage nur dem Meister Bebra und seiner somnambulen Dame Roswitha ungeschminkt gegeben hatte, gab ich mich nun meinem Onkel und mutmaßlichen Vater, dazu einem invaliden Hausmeister, also Leuten gegenüber, die später in keinem Fall mehr als Zeugen in Frage kamen, dem Geburtsschein entsprechend als fünfzehnjähriger Halbwüchsiger, der zwar etwas waghalsig, aber nicht ungeschickt Skat spielte. Diese Anstrengungen, die zwar meinem Willen gemäß, meinen gnomenhaften Maßen jedoch alles andere als angemessen waren, zeitigten nach einer knappen Stunde Skatspiels heftigste Glieder-und Kopfschmerzen.
Oskar hatte Lust aufzugeben, hätte auch Gelegenheit genug gefunden, sich etwa zwischen zwei kurz nacheinander das Gebäude schüttelnden Granateinschlägen davonzumachen, wenn ihm nicht ein bisher unbekanntes Gefühl für Verantwortung befohlen hätte, auszuhalten und der Angst des mutmaßlichen Vaters mit dem einzig wirksamen Mittel, dem Skatspiel, zu begegnen.
Wir spielten also und verboten dem Kobyella das Sterben. Er kam nicht dazu. Sorgte ich doch, daß die Karten immer im Umlauf blieben. Und als die Talgkerzen infolge einer Detonation im Treppenhaus umfielen und die Flämmchen aufgaben, war ich es, der geistesgegenwärtig das Nächstliegende tat, der dem Jan das Streichholz aus der Tasche holte, dabei Jans Goldmundstückzigaretten mitzog, der das Licht wieder auf die Welt brachte, Jan eine beruhigende Regatta anzündete und Flämmchen auf Flämmchen in die Dunkelheit setzte, bevor sich Kobyella, die Dunkelheit nutzend, davonmachen konnte.
Zwei Kerzen klebte Oskar auf seine neue Trommel, legte sich die Zigaretten griffbereit, verschmähte jedoch für sich den Tabak, bot vielmehr Jan immer wieder eine an, hängte auch dem Kobyella eine in den verzogenen Mund, und es ging besser, das Spiel lebte auf, der Tabak tröstete, beruhigte, konnte aber nicht verhindern,daß Jan Bronski Spiel für Spiel verlor. Er schwitzte und kitzelte, wie immer, wenn er ganz bei der Sache war, seine Oberlippe mit der Zungenspitze. Dergestalt geriet er in Feuer, daß er mich im Eifer Alfred und Matzerath nannte, im Kobyella meine arme Mama zum Spielgenossen zu haben glaubte. Und als jemand auf dem Korridor schrie: »Den Konrad hat es erwischt!« blickte er mich vorwurfsvoll an und sagte: »Ich bitte dich, Alfred, stell doch das Radio ab.
Man versteht ja sein eigenes Wort nicht!«
Richtig ärgerlich wurde der arme Jan, als die Tür zur Briefkammer aufgerissen und der fix und fertige Konrad hereingeschleppt wurde.
»Tür zu, es zieht!« protestierte er. Es zog wirklich. Die Kerzen flackerten bedenklich und kamen erst wieder zur Ruhe, als die Männer, die den Konrad in eine Ecke geknüllt hatten, die Tür hinter sich zugemacht hatten. Abenteuerlich sahen wir drei aus. Von unten traf uns das Kerzenlicht, gab uns das Aussehen alles vermögender Zauberer. Und als dann Kobyella seinen Herz ohne Zwein ausreizte und siebenundzwanzig, dreißig sagte, nein, gurgelte und dabei ständig die Augen verrutschen ließ und in der rechten Schulter etwas sitzen hatte, das raus wollte, zuckte, ganz unsinnig lebendig tat, endlich schwieg, doch nun den Kobyella vornübersinken ließ und den drangebundenen Wäschekorb voller Briefe mit dem toten Mann ohne Hosenträger drauf ins Rollen brachte, als Jan dann mit einem einzigen Hieb und ganzem Einsatz Kobyella samt Wäschekorb zum Stehen brachte, als Kobyella, so abermals am Fortgang gehindert, endlich »Herzhand« röhrte und Jan sein »Contra« zischen, Kobyella sein »Re« herauspressen konnten, da begriff Oskar, daß die Verteidigung der Polnischen Post geglückt war, daß jene, die da angriffen, den gerade begonnenen Krieg schon verloren hatten; selbst wenn es ihnen gelänge, im Verlauf des Krieges Alaska und Tibet, die Osterinseln und Jerusalem zu besetzen.
Schlimm allein war, daß Jan seinen großen, bombensicheren Grandhand, mit Viern, Schneiderschwarz angesagt, nicht zu Ende spielen konnte.
Er begann mit der Kreuzflöte, nannte mich jetzt Agnes, sah im Kobyella seinen Nebenbuhler Matzerath, zog dann scheinheilig Karo Bube — ich täuschte ihm übrigens lieber meine arme Mama als den Matzerath vor — Herz Bube hinterher — mit Matzerath wollte ich unter keinen Umständen verwechselt werden — Jan wartete ungeduldig, bis jener Matzerath, der in Wirklichkeit Invalide, Hausmeister war und Kobyella hieß, abgeworfen hatte; das brauchte seine Zeit, doch dann knallte Jan Herz Aß auf die Dielen und konnte und wollte nicht begreifen, hatte ja nie recht begreifen können, war immer nur blauäugig, roch nach Kölnisch Wasser, blieb ohne Begriff und verstand deshalb auch nicht, weshalb der Kobyella auf einmal alle Karten fallen ließ, den Wäschekorb mit den Briefen und dem toten Mann drauf auf die Kippe stellte, bis erst der tote Mann, dann eine Lage Briefe und schließlich der ganze sauber geflochtene Korb kippten, uns eine Flut Post zustellten, als seien wir die Empfänger, als sei es jetzt an uns, die Spielkarten zur Seite zu schieben und Episteln zu lesen oder Briefmarken zu sammeln. Aber Jan wollte nicht lesen, wollte nicht sammeln, der hatte als Kind zuviel gesammelt, der wollte spielen, seinen Grandhand zu Ende spielen, gewinnen wollte Jan, siegen. Und er hob den Kobyella auf, stellte den Korb auf die Räder, ließ den toten Mann aber liegen, schaufelte auch nicht die Briefe zurück, beschwerte den Korb also ungenügend und zeigte sich trotzdem erstaunt, als der Kobyella, am leichten beweglichen Korb hängend, kein Sitzfleisch bewies, sich mehr und mehr neigte, bis Jan ihn anschrie: »Alfred, ich bitt dich, sei kein Spielverderber, hörst du? Nur das Spielchen noch und dann gehn wir nach Hause, hör doch!« Oskar erhob sich müde, überwand seine immer stärker werdenden Glieder-und Kopfschmerzen, legte Jan Bronski seine kleinen, zähen Trommlerhände auf die Schultern und zwang sich zum halblauten, aber eindringlichen Sprechen: »Laß ihn doch, Papa. Er ist tot und kann nicht mehr. Wenn du willst, können wir Sechsundsechzig spielen.«
Jan, den ich gerade noch als Vater angesprochen hatte, gab das zurückgebliebene Fleisch des Hausmeisters frei, starrte mich blau und blau überfließend an und weinte neinneinneinneinneinneinei...
Ich streichelte ihn, aber er verneinte immer noch. Ich küßte ihn bedeutungsvoll, aber er dachte nur an seinen nicht zu Ende gespielten Grandhand.
»Ich hätte ihn gewonnen, Agnes. Ganz sicher hätte ich ihn nach Hause gebracht.« So klagte er mir an Stelle meiner armen Mama, und ich — sein Sohn — fand mich in die Rolle, stimmte ihm zu, schwor darauf, daß er gewonnen hätte, daß er im Grunde schon gewonnen habe, er müsse nur fest daran glauben und auf seine Agnes hören. Aber Jan glaubte weder mir noch meiner Mama, weinte erst laut und hoch klagend, dann leise einem unmodulierten Lallen verfallend, kratzte die Skatkarten unter dem erkalteten Berg Kobyella hervor, zwischen den Beinen schürfte er, die Brieflawine gab einige her, nicht Ruhe fand Jan, bis er alle zweiunddreißig beisammen hatte. Und er säuberte sie von jenem klebrigen Saft, der dem Kobyella aus den Hosen sickerte, gab sich Mühe mit jeder Karte und mischte das Spiel, wollte wieder austeilen und begriff endlich hinter seiner wohlgeformten, nicht einmal niedrigen aber wohl doch etwas zu glatten und undurchlässigen Stirnhaut, daß es auf dieser Welt keinen dritten Mann für den Skat mehr gab.
Da wurde es sehr still in dem Lagerraum für Briefsendungen. Auch draußen bequemte man sich zu einer ausgedehnten Gedenkminute für den letzten Skatbruder und dritten Mann. War es Oskar doch, als öffnete sich leise die Tür. Und über die Schulter blickend, allesüberirdisch Mögliche erwartend, sah er Viktor Wehluns merkwürdig blindes und leeres Gesicht. »Ich habe meine Brille verloren, Jan.
Bist du noch da? Wir sollten fliehen. Die Franzosen kommen nicht oder kommen zu spät. Komm mit mir, Jan. Führe mich, ich habe meine Brille verloren!«
Vielleicht dachte der arme Viktor, er habe sich im Raum geirrt. Denn als er weder eine Antwort noch seine Brille, noch Jans fluchtbereiten Arm geboten bekam, zog er sein brillenloses Gesicht zurück, schloß die Tür, und ich hörte noch einige Schritte lang, wie sich Viktor tastend und einen Nebel teilend auf die Flucht machte.
Was mochte in Jans Köpfchen Witziges passiert sein, daß er erst leise, noch unter Tränen, dann jedoch laut und fröhlich dem Lachen verfiel, seine frische, rosa, für allerlei Zärtlichkeiten zugespitzte Zunge spielen ließ, die Skatkarten hochwarf, auffing, und endlich, da es windstill und sonntäglich in der Kammer mit den stummen Männern und Briefen wurde, begann er mit vorsichtigen ausgewogenen Bewegungen, unter angehaltenem Atem ein hochempfindliches Kartenhaus zu bauen: da gaben Pique Sieben und Kreuz Dame das Fundament ab. Die beiden deckte Karo, der König. Da gründete er aus Herz Neun und Pique Aß, mit Kreuz Acht als Deckel drauf, das zweite, neben dem ersten ruhende Fundament. Da verband er die beiden Grundlagen mit weiteren hochkant gestellten Zehnen und Buben, mit quergelegten Damen und Assen, daß sich alles gegenseitig stützte. Da beschloß er, dem zweiten Stockwerk ein drittes draufzusetzen, und tat das mit beschwörenden Händen, die, ähnlichen Zeremonien gehorchend, meine arme Mama gekannt haben mußte. Und als er Herz Dame so gegen den König mit dem roten Herzen lehnte, fiel das Gebäude nicht etwa zusammen; nein, luftig stand es, empfindsam, leicht atmend in jenem Raum voller atemloser Toter und Lebendiger, die den Atem anhielten, und erlaubte uns, die Hände zusammenzulegen, ließ den skeptischen Oskar, der ja das Kartenhaus nach allen Regeln durchschaute, den beizenden Qualm und Gestank vergessen, der sparsam und gewunden durch die Türritzen des Briefraumes schlich und den Eindruck erweckte: das Kämmerlein mit dem Kartenhaus drin grenzt direkt und Tür an Tür an die Hölle.
Die hatten Flammenwerfer eingesetzt, hatten, den Frontalangriff scheuend, beschlossen, die letzten Verteidiger auszuräuchern. Die hatten den Doktor Michon soweit gebracht, daß er den Stahlhelm absetzte, zu einem Bettlaken griff und, da ihm das nicht ausreichte, noch sein Kavaliertüchlein zog und beides schwenkend, die Übergabe der Polnischen Post anbot.
Und sie verließen, an die dreißig halbblinde, versengte Männer, die erhobenen Arme und Hände im Nacken verschränkt, das Postgebäude durch den linken Nebenausgang, stellten sich vor die Hofmauer, warteten auf die langsam heranrückenden Heimwehrleute.
Und später hieß es, während der kurzen Zeitspanne, da die Verteidiger sich im Hof aufstellten und die Angreifer noch nicht da, aber unterwegs waren, seien drei oder vier geflüchtet: über die Postgarage, über die angrenzende Polizeigarage in die leeren, weil geräumten Häuser am Rahm. Dort hätten sie Kleider gefunden, sogar mit Parteiabzeichen, hätten sich gewaschen, fein zum Ausgehen gemacht, hätten sich dann einzeln verdrückt, und von einem hieß es: er habe auf dem Altstädtischen Graben ein Optikergeschäft aufgesucht, habe sich eine Brille verpassen lassen, da seine während der Kampfhandlungen im Postgebäude verlorengegangen war. Frischbebrillt soll sich Viktor Weluhn, denn er war es, sogar am Holzmarkt ein Bier genehmigt haben und noch eines, weil er durstig war wegen der Flammenwerfer, soll sich dann mit der neuen Brille, die den Nebel vor seinem Blick zwar etwas lichtete, aber bei weitem nicht in dem Maße aufhob, wie es die alte Brille getan hatte, auf jene Flucht gemacht haben, die bis zum heutigen Tage anhält; so zäh sind seine Verfolger.
Die anderen aber — und ich sage, es waren an die Dreißig, die sich nicht zur Flucht entschlossen — die standen schon an der Mauer, dem Seitenportal gegenüber, als Jan gerade die Herz Königin gegen den Herz König lehnte und beglückt seine Hände zurückzog.
Was soll ich noch sagen? Sie fanden uns. Sie rissen die Tür auf, schrien »Rausss!«, machten Luft, Wind, ließen das Kartenhaus zusammenfallen. Die hatten keinen Nerv für diese Architektur. Die schworen auf Beton. Die bauten für die Ewigkeit. Die achteten gar nicht auf des Postsekretärs Bronski empörtes, beleidigtes Gesicht. Und als sie ihn rausholten, sahen sie nicht, daß Jan noch einmal in die Karten griff und etwas an sich nahm, daß ich, Oskar, die Kerzenstummel von meiner neugewonnenen Trommel wischte, die Trommel mitgehen ließ, die Kerzenstummel verschmähte, denn Taschenlampen strahlten uns viel zu viele an; doch die merkten nicht, daß ihre Funzeln uns blendeten und kaum die Tür finden ließen. Die schrien hinter Stabtaschenlampen und vorgehaltenen Karabinern: »Rausss!«
Die schrien immer noch »Rausss!«, als Jan und ich schon auf dem Korridor standen. Die meinten den Kobyella mit ihrem »Rausss!« und den Konrad aus Warschau und auch den Bolack und den kleinen Wischnewski, der zu Lebzeiten in der Telegrammannahme gesessen hatte. Das machte denen Angst, daß die nicht gehorchen wollten. Und erst als die von der Heimwehr begriffen, daß sie sich vor Jan und mir lächerlich machten, denn ich lachte laut, wenn die »Rausss!« brüllten, da hörten sie auf mit der Brüllerei, sagten »Ach so« und führten uns zu den Dreißig auf dem Posthof, die die Arme hoch hielten, die Hände im Nacken verschränkten, Durst hatten und von der Wochenschau aufgenommen wurden.
Kaum daß man uns durchs Nebenportal führte, schwenkten die von der Wochenschau ihre auf einem Personenwagen befestigteKamera herum, drehten von uns jenen kurzen Film, der später in allen Kinos gezeigt wurde.
Man trennte mich von dem an der Wand stehenden Haufen. Oskar besann sich seiner Gnomenhaftigkeit, seiner alles entschuldigenden Dreijährigkeit, bekam auch wieder die lästigen Glieder-und Kopfschmerzen, ließ sich mit seiner Trommel fallen, zappelte, einen Anfall halb erleidend, halb markierend, ließ aber auch während des Anfalls die Trommel nicht los. Und als sie ihn packten und in ein Dienstauto der SS-Heimwehr steckten, sah Oskar, als der Wagen losfuhr, ihn in die Städtischen Krankenanstalten bringen wollte, daß Jan, der arme Jan blöde und glückselig vor sich hinlächelte, in den erhobenen Händen einige Skatkarten hielt und links mit einer Karte — ich glaube, es war Herz Dame — dem davonfahrenden Sohn und Oskar nachwinkte.