SONDERMELDUNGEN
Auf dem weißen Rund meiner Trommel läßt sich schlecht experimentieren. Das hätte ich wissen müssen. Mein Blech verlangt immer dasselbe Holz. Es will schlagend befragt werden, schlagende Antworten geben oder unterm Wirbel zwanglos plaudernd Frage und Antwort offenlassen. Meine Trommel ist also weder eine Bratpfanne, die künstlich erhitzt rohes Fleisch erschrecken läßt, noch eine Tanzfläche für Paare, die nicht wissen, ob sie zusammengehören. Deshalb hat Oskar auch nie, selbst während einsamster Stunden nicht, Brausepulver auf seine Trommel gestreut, seinen Speichel dazugemengt und ein Schauspiel veranstaltet, das er seit Jahren nicht mehr gesehen hat, das ich sehr vermisse. Zwar konnte sich Oskar einen Versuch mit besagtem Pulver nicht ganz verkneifen, doch ging er direkter vor, ließ die Trommel aus dem Spiel; ich stellte mich also bloß, denn ohne meine Trommel bin ich immer der Bloßgestellte.
Zunächst war es schwierig, Brausepulver zu bekommen. Ich schickte Bruno in alle Kolonialwarengeschäfte Grafenbergs, ließ ihn mit der Straßenbahn nach Gerresheim fahren. Auch bat ich ihn, es in der Stadt zu versuchen, doch selbst in Erfrischungsbuden jener Art, wie man sie an den Endstationen der Straßenbahnlinien findet, konnte Bruno kein Brausepulver bekommen. Jüngere Verkäuferinnen kannten es überhaupt nicht, ältere Budenbesitzer erinnerten sich wortreich, rieben — wie Bruno berichtete — versonnen ihre Stirnen, sagten: »Mann, was woll'n Se? Brausepulver? Das is aber schon lange her, dass es das gab. Unter Wilhelm und ganz zu Anfang noch, unter Adolf, da war das im Handel.
Das war'n noch Zeiten! Doch wenn Se ne Limonade haben wollen oder ne Coca?«
Mein Pfleger trank also auf meine Kosten mehrere Flaschen Limonade und Coca-Cola, verschaffte mir jedoch nicht, wonach ich verlangte, und dennoch konnte Oskar geholfen werden. Bruno zeigte sich unermüdlich: gestern brachte er mir ein weißes, unbeschriftetes Tütchen; die Laborantin der Heil-und Pflegeanstalt, ein gewisses Fräulein Klein, hatte sich verständnisvoll bereit erklärt, ihre Dosen, Schubladen und Nachschlagwerke zu öffnen, einige Gramm hiervon, wenige Gramm davon zu nehmen und schließlich nach mehreren Versuchen ein Brausepulver zu mixen, von dem Bruno zu berichten wußte: es könne brausen, prickeln, grün werden und ganz behutsam nach Waldmeister schmecken.
Und heute war Besuchstag. Es kam Maria. Doch zuerst kam Klepp. Wir lachten zusammen etwa eine Dreiviertelstunde lang über etwas Vergessenswertes. Ich schonte Klepp und Klepps leninistische Gefühle, brachte das Gespräch nicht auf Aktuelles, erwähnte also nichts von jener Sondermeldung, die mir aus meinem kleinen Kofferradio — Maria schenkte es mir vor Wochen — von Stalins Tod berichtete. Klepp schien dennoch Bescheid zu wissen, denn an seinem braun-karierten Mantelärmel spannte sich, unsachgemäß angenäht, ein Trauerflor. Dann stand Klepp auf, und Vittlar trat ein. Die beiden Freunde scheinen wieder einmal Streit zu haben, denn Vittlar begrüßte Klepp lachend und mit den Fingern Teufelshörner machend: »Stalins Tod überraschte mich heute früh beim Rasieren!« höhnte er und half Klepp in den Mantel. Mit speckglänzender Pietät im breiten Gesicht lüftete Klepp den schwarzen Stoff an seinem Mantelärmel. »Deswegen trage ich Trauer«, seufzte er und intonierte, Armstrongs Trompete imitierend, die ersten Begräbnistakte aus New Orleans Function: trrrah trahdada traah dada dadada — dann schob er sich durch die Tür.
Vittlar jedoch blieb, wollte sich nicht setzen, tänzelte vielmehr vor dem Spiegel, und wir lächelten uns beide etwa ein Viertelstündchen verständnisvoll an, ohne Stalin zu meinen.
Ich weiß nicht, wollte ich ihn zu meinem Vertrauten machen oder lag es in meiner Absicht, Vittlar zu vertreiben. Ans Bett winkte ich ihn, winkte sein Ohr heran und flüsterte in seinen großlappigen Löffel:
»Brausepulver? Ist dir das ein Begriff, Gottfried?« Ein entsetzter Sprung trug Vittlar von meinem Gitterbett fort; zu Pathos und ihm geläufiger Theatralik griff er, ließ mir einen Zeigerfinger entgegenwachsen und zischte: »Warum willst du Satan mich mit Brausepulver verführen? Weißt du noch immer nicht, daß ich ein Engel bin?«
Und gleich einem Engel flügelte Vittlar, nicht ohne zuvor noch einmal den Spiegel über dem Waschbecken zu befragen, davon. Die jungen Leute außerhalb der Heil-und Pflegeanstalt sind wirklich merkwürdig und neigen zur Manieriertheit.
Und dann kam Maria. Sie hat sich ein neues Frühjahrskostüm schneidern lassen, trägt dazu einen eleganten mausgrauen Hut mit raffiniert sparsam strohgelber Dekoration und nimmt dieses Gebilde selbst in meinem Zimmer nicht ab. Flüchtig begrüßte sie mich, hielt mir die Wange hin, stellte sogleich jenes Kofferradio an, das sie zwar mir schenkte, dennoch für den eigenen Gebrauch bestimmt zu haben scheint; denn der scheußliche Kunststoffkasten muß einen Teil unserer Gespräche während der Besuchstage ersetzen. »Haste die Meldung heute früh mitbekommen? Is doch doll. Oder nich?«
»Ja, Maria«, gab ich geduldig zurück. »Auch mir hat man Stalins Tod nicht verheimlichen wollen, doch bitte, stell nun das Radio ab.«
Maria gehorchte wortlos, setzte sich, immer noch mit Hut, und wir sprachen wie gewöhnlich über Kurtchen.
»Stell dir vor Oskar, da Bengel will kaine langen Strümpfe mehr tragen, dabai is März, und es soll noch kälter werden, harn se im Radio jewußt.« Ich überhörte die Radiomeldung, ergriff aber Kurtchens Partei in Sachen lange Strümpfe. »Der Junge ist jetzt zwölf, Maria, er schämt sich der wollenen Strümpfe wegen vor seinen Schulkameraden.«
»Na mir is saine Jesundhait lieber, und die Strümpfe trächter bis Ostern.«
Dieser Termin wurde so bestimmt geäußert, daß ich behutsam einzulenken versuchte: »Dann solltest du ihm Skihosen kaufen, denn die langen Wollstrümpfe sind wirklich häßlich. Denk mal zurück, als du so alt warst. Auf unserem Hof im Labesweg? Was haben sie mit Klein-Käschen gemacht, der auch immer lange Strümpfe bis Ostern tragen mußte? Nuchy Eyke, der auf Kreta blieb, Axel Mischke, der noch kurz vor Schluß in Holland hopsging, und Harry Schlager, was haben die gemacht mit KleinKäschen? Die langen Wollstrümpfe haben sie ihm mit Teer beschmiert, daß die kleben blieben, und Klein-Käschen mußte in die Krankenanstalten eingeliefert werden.«
»Das war vor allem Susi Kater, die hat Schuld jehabt und nich de Strümpfe!« Maria stieß das wütend hervor. Obgleich Susi Kater schon zu Anfang des Krieges zu den Blitzmädchen ging und später nach Bayern geheiratet haben soll, trug Maria der einige Jahre älteren Susi so ausdauernd einen Groll nach, wie eben nur Frauen ihre Antipathien aus der Jugendzeit bis in die Großmutterzeit zu bewahren wissen. Dennoch zeigte der Hinweis auf Klein-Käschens teerbeschmierte Wollstrümpfe einige Wirkungen. Maria versprach, Kurtchen Skihosen zu kaufen. Wir konnten dem Gespräch eine andere Wendung geben. Es gab Lobenswertes über unser Kurtchen zu berichten. Studienrat Könnemann hatte sich bei der letzten Elternversammlung anerkennend geäußert. »Nu stell dir vor. Da Zweitbeste isser in seine Klasse. Und im Jesschäft hilft er mir, ich kann dir nich sagen, wie.«
So nickte ich anerkennend, ließ mir noch die neuesten Anschaffungen fürs Feinkostgeschäft beschreiben. Ermutigte Maria, eine Filiale in Oberkassel zu begründen. Die Zeit sei günstig, sagte ich, die Konjunktur halte an — das hatte ich übrigens aus dem Radio aufgeschnappt — und dann fand ich es an der Zeit, Bruno zu klingeln. Der kam und reichte mir das weiße Tütchen mit dem Brausepulver.
Oskars Plan war durchdacht. Ohne jede Erklärung erbat ich mir Marias linke Hand. Zuerst wollte sie mir die Rechte geben, verbesserte sich dann, bot mir den linken Handrücken kopfschüttelnd und lachend, erwartete womöglich einen Handkuß. Erstaunt zeigte sie sich erst, als ich mir den Handteller zudrehte und zwischen Mondberg und Venusberg das Pulver aus dem Tütchen häufte. Sie erlaubte das aber und erschrak erst, als Oskar sich über ihre Hand beugte und seinen Speichel reichlich über dem Brausepulverberg ausschied.
»Nu laß doch den Unsinn, Oskar!« entrüstete sie sich, sprang auf, nahm Abstand und starrte entsetzt auf das brausende, grün schäumende Pulver. Von der Stirn abwärts errötete Maria. Schon wollte ich hoffen, da war sie mit drei Schritten beim Waschbecken, ließ Wasser, ekelhaftes Wasser, erst kaltes, dann warmes Wasser über unser Brausepulver fließen und wusch sich danach die Hände mit meiner Seife.
»Du bist manchmal wirklich unausstehlich, Oskar. Was soll bloß der Heir Münsterberg von uns denken?« Um Nachsicht für mich bittend, blickte sie Bruno an, der während meines Versuches am Fußende des Bettes Aufstellung genommen hatte. Damit sich Maria nicht weiterhin genieren mußte, schickte ich den Pfleger aus dem Zimmer und bat mir, sobald der die Tür ins Schloß gedrückt hatte, Maria abermals ans Bett: »Erinnerst du dich nicht? Bitte, erinnere dich doch. Brausepulver! Drei Pfennige kostete das Tütchen! Denk mal zurück: Waldmeister, Himbeeren, wie schön das schäumte, aufbrauste und das Gefühl, Maria, das Gefühl!«
Maria erinnerte sich nicht. Törichte Angst hatte sie vor mir, zitterte ein wenig, verbarg ihre linke Hand, versuchte krampfhaft, ein anderes Gesprächsthema zu finden, erzählte mir abermals von Kurtchens Schulerfolgen, von Stalins Tod, von dem neuen Eisschrank im Feinkostgeschäft Matzerath, von der geplanten Filialengründung in Oberkassel. Ich jedoch hielt dem Brausepulver die Treue, sagte Brausepulver, sie stand auf, Brausepulver, bettelte ich, sie verabschiedete sich hastig, zupfte an ihrem Hut, wußte nicht, ob sie gehen sollte, drehte am Radioapparat, der knarrte, ich überschrie ihn:
»Brausepulver, Maria, erinnere dich!«
Da stand sie in der Tür, weinte, schüttelte den Kopf, ließ mich mit dem knarrenden, pfeifenden Kofferradio alleine, indem sie die Tür so vorsichtig schloß, als verließe sie einen Sterbenden.
Maria kann sich also nicht mehr an das Brausepulver erinnern. Mir jedoch wird, solange ich atmen und trommeln mag, das Brausepulver nicht aufhören zu schäumen; denn mein Speichel war es, der im Spätsommer des Jahres vierzig Waldmeister und Himbeeren belebte, der Gefühle weckte, der mein Fleisch auf die Suche schickte, der mich zum Sammler von Pfifferlingen, Morcheln und anderen, mir unbekannten, doch gleichwohl genießbaren Pilzen ausbildete, der mich zum Vater machte, jawohl, Vater, blutjungen Vater, vom Speichel zum Vater, Gefühl weckend, Vater, sammelnd und zeugend; denn Anfang November bestand kein Zweifel mehr, Maria war schwanger, Maria war im zweiten Monat und ich, Oskar, war der Vater.
Das glaub ich noch heute, denn die Geschichte mit Matzerath passierte erst viel später, zwei Wochen, nein, zehn Tage nachdem ich die schlafende Maria im Bett ihres narbenreichen Bruders Herbert, angesichts der Feldpostkarten ihres jüngeren Bruders, des Obergefreiten, im dunklen Zimmer dann, zwischen Wänden und Verdunklungspapier geschwängert hatte, fand ich die nicht mehr schlafende, vielmehr betriebsam nach Luft schnappende Maria auf unserer Chaiselongue; unter dem Matzerath lag sie, und Matzerath lag auf ihr drauf.
Oskar trat, aus dem Hausflur, vom Dachboden kommend, wo er nachgedacht hatte, mit seiner Trommel im Wohnzimmer ein. Die beiden bemerkten mich nicht. Hatten die Köpfe in Richtung Kachelofen. Hatten sich nicht einmal richtig ausgezogen. Dem Matzerath hing die Unterhose in den Kniekehlen. Seine Hose häufte sich auf dem Teppich. Marias Kleid und Unterrock hatten sich über den Büstenhalter bis vor die Achseln gerollt. Die Schlüpfer schlingerten ihr am rechten Fuß, der mit dem Bein, häßlich verdreht, von der Chaiselongue hing. Das linke Bein lag abgeknickt, wie unbeteiligt, auf den Rückpolstern. Zwischen den Beinen Matzerath. Mit der rechten Hand drehte er ihr den Kopf weg, die andere Hand weitete ihre Öffnung und half ihm auf die Spur. Zwischen Matzeraths gespreizten Fingern hindurch stierte Maria seitwärts auf den Teppich, schien dort das Muster bis unter den Tisch zu verfolgen. Er hatte sich in ein Kissen mit Sammetbezug verbissen, ließ von dem Sammet nur ab, wenn sie miteinander sprachen. Denn manchmal sprachen sie, ohne die Arbeit dabei zu unterbrechen. Nur als die Uhr dreiviertel schlug, stockten beide, solange das Läutwerk seine Pflicht tat, und er sagte, wie vor dem Läuten wieder gegen sie arbeitend: »Jetzt is dreiviertel.« Und dann wollte er von ihr wissen, ob es so gut sei, wie er es mache. Sie bejahte die Frage mehrmals und bat ihn, vorsichtig zu sein. Er versprach ihr, ganz bestimmt vorsichtig zu sein. Sie befahl ihm, nein, legte ihm ans Herz, diesmal besonders aufzupassen. Dann erkundigte er sich, ob es bei ihr bald soweit sei.
Und sie sagte: gleich ist soweit. Da hatte sie wohl einen Krampf in jenem Fuß, der ihr von der Chaiselongue hing, denn sie stieß den in die Zimmerluft, doch die Schlüpfer blieben dran hängen. Da biß er wieder ins Sammetkissen, und sie schrie: geh weg, und er wollte auch weg, doch dann konnte er nicht mehr weg, weil Oskar drauf war auf den Beiden, bevor er weg war, weil ich ihm die Trommel ins Kreuz und die Stöcke aufs Blech schlug, weil ich das nicht mehr hören konnte: weg und geh weg, weil mein Blech lauter war als ihr weg, weil ich das nicht duldete, daß er weg ging, genau wie Jan Bronski immer von Mama weggegangen war; denn Mama hatte auch immer weg gesagt, zu Jan, weg, zu Matzerath, weg. Und dann waren sie auseinandergefallen, und den Rotz ließen sie irgendwohin klatschen, auf ein Tuch extra dafür, oder wenn das nicht greifbar, auf die Chaiselongue, auf den Teppich womöglich. Ich aber konnte das nicht ansehen. Schließlich war ja auch ich nicht weggegangen. Und ich war der erste, der nicht wegging, deshalb bin ich der Vater und nicht jener Matzerath, der immer und bis zuletzt glaubte, er sei mein Vater. Dabei war das Jan Bronski. Und das hab ich von Jan geerbt, daß. ich vor dem Matzerath nicht wegging, daß ich drinnenblieb, drinnenließ; und was rauskam, das war mein Sohn, nicht sein Sohn! Der hatte überhaupt keinen Sohn! Das war gar kein richtiger Vater! Auch wenn er zehnmal die arme Mama geheiratet hat, und auch Maria geheiratet hat, weil sie schwanger war. Und er dachte, die Leute im Haus und auf der Straße, die denken sicher.
Natürlich dachten die, der Matzerath habe die Maria dickgemacht und heirate sie jetzt, wo sie siebzehneinhalb ist, und er ist an die fünfundvierzig. Aber sie ist ja tüchtig für ihr Alter, und was den kleinen Oskar angeht, der kann sich freuen über die Stiefmutter, denn die Maria ist nicht wie eine Stiefmutter zu dem armen Kind, sondern wie eine richtige Mutter, obgleich das Oskarchen nicht ganz klar im Kopf ist und eigentlich nach Silberhammer gehört oder nach Tapiau in die Anstalt.
Matzerath entschloß sich auf Gretchen Schefflers Zureden hin, meine Geliebte zu heiraten. Wenn ich also ihn, meinen mutmaßlichen Vater, als Vater bezeichne, muß ich feststellen: mein Vater heiratete meine zukünftige Frau, nannte später meinen Sohn Kurt seinen Sohn Kurt, verlangte also von mir, daß ich in seinem Enkelkind meinen Halbbruder anerkannte und meine geliebte, nach Vanille duftende Maria als Stiefmutter in seinem nach Fischlaich stinkenden Bett duldete. Wenn ich mir aber bestätigte: dieser Matzerath ist nicht einmal dein mutmaßlicher Vater,er ist ein wildfremder, weder sympathischer noch deine Abneigung verdienender Mensch, der gut kochen kann, der gut kochend bisher schlecht und recht an Vaters Statt für dich sorgte, weil deine arme Mama ihn dir hinterlassen hat, der dir nun vor allen Leuten die allerbeste Frau wegschnappt, dich zum Zeugen einer Hochzeit, fünf Monate später einer Kindstaufe macht, zum Gast zweier Familienfeste also, die zu veranstalten viel mehr dir zukäme, denn du hättest Maria zum Standesamt fuhren sollen, an dir wäre es gewesen, die Taufpaten zu bestimmen,wenn ich mir also die Hauptrollen dieser Tragödie ansah und bemerken mußte, daß die Aufführung des Stückes unter einer falschen Besetzung der Hauptrollen litt, verzweifelte ich am Theater: denn Oskar, dem wahren Charakterdarsteller, hatte man eine Statistenrolle eingeräumt, die genau so gut hätte gestrichen werden können.
Bevor ich meinem Sohn den Namen Kurt gebe, ihn so nenne, wie er nie hätte heißen sollen — denn ich hätte den Knaben nach seinem wahren Großvater Vinzent Bronski benannt — bevor ich mich also mit Kurt abfinde, will Oskar nicht verschweigen, wie er sich während Marias Schwangerschaft gegen die zu erwartende Geburt wehrte.
Noch am selben Abend jenes Tages, da ich die beiden auf der Chaiselongue überraschte, trommelnd auf Matzeraths schweißnassem Rücken hockte und die von Maria geforderte Vorsicht verhinderte, unternahm ich einen verzweifelten Versuch, meine Geliebte zurückzugewinnen.
Es gelang Matzerath, mich abzuschütteln, als es schon zu spät war. Deswegen schlug er mich. Maria nahm Oskar in Schutz und machte Matzerath Vorwürfe, weil es ihm nicht gelungen war, vorsichtig zu sein. Matzerath verteidigte sich wie ein alter Mann. Maria sei Schuld, redete er sich heraus, sie hätte mit einmal zufrieden sein sollen, aber sie könne wohl nicht genug bekommen. Daraufhin weinte Maria, sagte, bei ihr gehe das nicht so schnell mit reinraus und fertig, da müsse er sich eine andere suchen, sie sei zwar unerfahren, aber ihre Schwester Guste, die ja im »Eden« sei, wisse Bescheid und habe ihr gesagt, so fix gehe das nicht, aufpassen sollte Maria, es gebe Männer, die seien nur darauf aus, ihren Rotz loszuwerden, und er, Matzerath, sei wohl auch so einer, aber das mache sie nicht mehr mit, bei ihr müsse es gleichfalls klingeln wie eben. Aber deshalb hätte er trotzdem aufpassen müssen, das sei er ihr wohl schuldig, dieses bißchen Rücksichtnahme. Dann weinte sie und saß immer noch auf der Chaiselongue. Und Matzerath schrie in Unterhosen, er könne das Geheule nicht mehr anhören; dann tat ihm sein Zornesausbruch leid, und er vergriff sich wieder an Maria, das heißt, er versuchte, sie unterm Kleid, wo sie noch blank war, zu streicheln, und das machte Maria wütend.
Oskar hatte sie noch nie so gesehen. Rote Flecken bekam sie im Gesicht, und die grauen Augen wurden immer dunkler. Einen Schlappschwanz nannte sie Matzerath, der sich daraufhin die Hose langte, hineinstieg und sich zuknöpfte. Er könne ruhig abhauen, schrie Maria, zu seinen Zellenleitern, das seien auch so Schnellspritzer. Und Matzerath griff sich sein Jackett, dann den Türdrücker und versicherte, er werde jetzt andere Saiten aufziehen, den Weiberkram habe er restlos satt; wenn sie so geil sei, solle sie sich doch einen Fremdarbeiter angeln, den Franzos, der das Bier bringe, der könne es sicher besser.
Er, Matzerath, stelle sich unter Liebe etwas anderes vor als nur Sauereien, er gehe jetzt seinen Skat dreschen, da wisse er, was ihn erwarte.
Da war ich mit Maria alleine im Wohnzimmer. Sie weinte nicht mehr, sondern zog sich nachdenklich und nur ganz sparsam pfeifend ihre Schlüpfer an. Längere Zeit lang strich sie ihr Kleid glatt, das auf der Chaiselongue gelitten hatte. Dann stellte sie das Radio an, bemühte sich zuzuhören, als die Wasserstandsmeldungen der Weichsel und Nogat durchgegeben wurden, zog sich, als nach der Verkündung des Pegelstandes der unteren Mottlau Walzerklänge angekündigt wurden und auch zu Gehör kamen, plötzlich und unvermittelt die Schlüpfer wieder aus, ging in die Küche, ließ eine Schüssel klappern, Wasser laufen, das Gas hörte ich puffen und vermutete: Maria hat sich zu einem Sitzbad entschlossen.
Um dieser etwas peinlichen Vorstellung zu entgehen, konzentrierte Oskar sich auf die Walzerklänge.
Wenn ich mich recht erinnere, trommelte ich sogar einige Takte Straußmusik und fand Gefallen daran.
Dann wurden die Walzerklänge vom Rundfunkgebäude aus unterbrochen und eine Sondermeldung angekündigt. Oskar tippte auf eine Meldung vom Atlantik und sollte sich nicht getäuscht haben.
Mehreren U-Booten war es gelungen, westlich von Irland sieben oder acht Schiffe mit soundsoviel tausend Bruttoregistertonnen zu versenken. Darüber hinaus war es anderen Unterseebooten gelungen, im Atlantik fast genau soviel Bruttoregistertonnen in den Grund zu bohren. Und besonders hervorgetan hatte sich ein U-Boot unter Kapitänleutnant Schepke — es kann aber auch Kapitänleutnant Kretschmar gewesen sein — jedenfalls einer von den beiden oder ein dritter berühmter Kapitänleutnant hatte am meisten Bruttoregistertonnen und obendrein oder darüber hinaus noch einen englischen Zerstörer der XY-Klasse versenkt.
Während ich auf meiner Trommel das der Sondermeldung folgende Englandlied variierte und fast in einen Walzer verwandelte, trat Maria mit einem Frottierhandtuch überm Arm im Wohnzimmer ein.
Halblaut sagte sie: »Haste jehert, Oskarchen, schon wieder ne Sondermeldung! Wenn die so weitermachen ...« Ohne Oskar zu verraten, was dann passieren würde, wenn es gelänge, so weiterzumachen, setzte sie sich auf einen Stuhl, über dessen Lehne Matzerath sein Jackett zu hängen pflegte. Maria drehte das feuchte Frottierhandtuch zu einer Wurst und pfiff ziemlich laut und auch richtig das Englandlied mit. Den Schluß wiederholte sie noch einmal, als die im Radio schon aufgehört hatten, knipste dann den Kasten auf dem Büfett aus, sobald wieder unvergängliche Walzerklänge laut wurden. Die Handtuchwurst ließ sie auf dem Tisch liegen, setzte sich und legte ihre Patschhände auf die Oberschenkel.
Da wurde es sehr still in unserem Wohnzimmer, nur die Standuhr sprach immer lauter, und Maria schien zu überlegen, ob es nichtbesser wäre, den Radioapparat wieder anzuschalten. Dann faßte sie aber einen anderen Entschluß. Sie schmiegte den Kopf gegen die Handtuchwurst auf der Tischplatte, ließ die Arme an den Knien vorbei gegen den Teppich hängen und weinte lautlos und regelmäßig.
Oskar fragte sich, ob Maria sich schämte, weil ich sie in solch peinlicher Situation überrascht hatte.
Ich beschloß, sie aufzuheitern, schlich mich aus dem Wohnzimmer und fand im dunklen Laden neben den Puddingpäckchen und dem Gelatinepapier ein Tütchen, das sich im halbdunklen Korridor als ein Tütchen Brausepulver mit Waldmeistergeschmack auswies. Oskar war froh über seinen Griff, denn zeitweilig glaubte ich erkannt zu haben, daß Maria Waldmeister allen anderen Geschmacksrichtungen vorzog. ;
Als ich das Wohnzimmer betrat, lag Marias rechte Wange immer noch auf dem zur Wurst gedrehten Frottierhandtuch. Auch hingen ihre Arme nach wie vor hilflos pendelnd zwischen den Oberschenkeln.
Oskar näherte sich von links und war enttäuscht, als er ihre Augen geschlossen und tränenlos fand.
Geduldig wartete ich, bis sie die Lider mit etwas verklebten Wimpern hob, hielt ihr das Tütchen hin, doch sie bemerkte den Waldmeister nicht, schien durch das Tütchen und Oskar hindurchzusehen.
Sie wird tränenblind sein, entschuldigte ich Maria und entschloß mich nach kurzer innerer Beratung, direkter vorzugehen. Unter den Tisch kletterte Oskar, kauerte sich zu Marias leicht nach innen verdrehten Füßen, griff ihre linke, mit den Fingerspitzen fast den Teppich berührende Hand, drehte die, bis ich den Handteller einsehen konnte, riß mit den Zähnen das Tütchen auf, streute den halben Inhalt des Papiers in die mir willenlos überlassene Schüssel, gab meinen Speichel dazu, beobachtete noch das erste Aufbrausen und erhielt dann von Maria einen recht schmerzhaften Fußtritt gegen die Brust, der Oskar auf den Teppich bis unter die Mitte des Wohnzimmertisches warf.
Trotz des Schmerzes war ich sofort wieder auf den Beinen und unter dem Tisch hervor. Maria stand gleichfalls. Wir standen uns atmend gegenüber. Maria griff das Frottierhandtuch, wischte sich die linke Hand blank, schleuderte mir den Wisch vor die Füße und nannte mich eine verfluchte Drecksau, einen Giftzwerg, einen übergeschnappten Gnom, den man in die Klappsmühle stecken müsse. Dann packte sie mich, klatschte meinen Hinterkopf, beschimpfte meine arme Mama, die einen Balg wie mich in die Welt gesetzt habe, und stopfte mir, als ich schreien wollte, es auf alles Glas im Wohnzimmer und in der ganzen Welt abgesehen hatte, den Mund mit jenem Frottierhandtuch, das, wenn man hineinbiß, zäher als Rindfleisch war.
Erst als es Oskar gelang, rot bis blau anzulaufen, gab sie mich frei. Ich hätte jetzt mühelos alle Gläser, Fensterscheiben und abermals den Glasdeckel vor dem Zifferblatt der Standuhr zerschreien können. Ich schrie aber nicht, sondern erlaubte einem Haß, von mir Besitz zu ergreifen, der so seßhaft ist, daß ich ihn heute noch, sobald Maria mein Zimmer betritt, wie jenes Frottiertuch zwischen den Zähnen spüre.
Launisch wie Maria sein konnte, ließ sie von mir ab, lachte gutmütig, stellte mit einem einzigen Griff das Radio wieder an, kam, den Walzer mitpfeifend, auf mich zu, um mir, wie ich es eigentlich gerne hatte, versöhnlich das Haar zu streicheln.
Ganz nah ließ Oskar sie herankommen und schlug ihr dann mit beiden Fäusten von unten nach oben genau da hin, wo sie den Matzerath eingelassen hatte. Und als sie mir die Fäuste vor dem zweiten Schlag abfing, biß ich mich fest an derselben verdammten Stelle, und fiel, immer noch in Maria verbissen, mit ihr auf die Chaiselongue, hörte zwar, wie die im Radio eine weitere Sondermeldung ankündigten, doch das wollte Oskar nicht hören; und so verschweigt er Ihnen, wer was und wieviel versenkte, denn ein heftiger Weinkrampf lockerte mir die Zähne, und ich lag bewegungslos auf Maria, die vor Schmerz weinte, während Oskar aus Haß weinte und aus Liebe, die sich in bleierne Ohnmacht verwandelte und dennoch nicht aufhören konnte.
DIE OHNMACHT ZU FRAU GREFF TRAGEN
Ihn, Greff, mochte ich nicht. Er, Greff, mochte mich nicht. Ich habe auch später, als Greff mir die Trommelmaschine baute, Greff nicht gemocht. Selbst heute, da Oskar für solch anhaltende Antipathien kaum die Kraft aufbringt, mag ich Greff nicht besonders, auch wenn es ihn gar nicht mehr gibt.
Greff war Gemüsehändler. Doch lassen Sie sich nicht täuschen. Weder an Kartoffeln glaubte er noch an Wirsingkohl, besaß aber dennoch umfassende Kenntnisse im Gemüseanbau, gab sich gerne als Gärtner, Naturfreund, Vegetarier. Doch gerade weil Greff kein Fleisch aß, war er kein echter Gemüsehändler. Es war ihm unmöglich, von Feldfrüchten wie von Feldfrüchten zu sprechen.
»Betrachten Sie bitte diese außergewöhnliche Kartoffel«, hörte ich ihn oftmals zu seinen Kunden sagen. »Dieses schwellende, strotzende, immer wieder neue Formen erdenkende und dennoch so keusche Fruchtfleisch. Ich liebe die Kartoffel, weil sie zu mir spricht!« Natürlich darf ein echter Gemüsehändler niemals so sprechen und die Kundschaft in Verlegenheit bringen. Meine Großmutter Anna Koljaiczek, die ja zwischen Kartoffeläckern alt wurde, hat selbst während der besten Kartoffeljahre nie mehr über die Lippen gebracht als ein Sätzchen wie dieses: »Na dies Jahr sind de Bulven ahn beßchen greßer als vorjes Jahr.« Dabei waren Anna Koljaiczek und ihr Bruder Vinzent Bronski viel mehr auf die Kartoffelernte angewiesen als der GemüsehändlerGreff, dem ein gutes Pflaumenjahr ein schlechtes Kartoffeljahr wettzumachen pflegte.
Alles an Greff war übertrieben. Mußte er unbedingt eine grüne Schürze im Laden tragen? Welch eine Anmaßung, den spinatgrünen Latz der Kundschaft gegenüber lächelnd und weise tuend »Des lieben Gottes grüne Gärtnerschürze« zu nennen. Dazu kam, daß er die Pfadfinderei nicht lassen konnte. Zwar hatte er achtunddreißig schon seinen Verein auflösen müssen — den Bengels hatte man braune Hemden und die kleidsamen schwarzen Winteruniformen verpaßt — dennoch kamen die ehemaligen Pfadfinderiche in Zivil oder in neuer Uniform häufig und regelmäßig zu ihrem ehemaligen Oberpfadfinder, um mit jenem, der vor seiner, vom lieben Gott geliehenen Gärtnerschürze eine Gitarre zupfte, Morgenlieder, Abendlieder, Wanderlieder, Landsknechtlieder, Erntelieder, Marienlieder, inund ausländische Volkslieder zu singen. Da Greff noch rechtzeitig Mitglied des NSKK geworden war und sich ab einundvierzig nicht nur Gemüsehändler, sondern auch Luftschutzwart nannte, sich außerdem auf zwei ehemalige Pfadfinder berufen durfte, die es inzwischen im Jungvolk zu etwas gebracht hatten, Fähnleinführer und Stammführer waren, konnte man von der HJ-Gebietsleitung aus die Liederabende in Greffs Kartoffelkeller als erlaubt bezeichnen. Auch wurde Greff vom Gauschulungsleiter Löbsack aufgefordert, während Gebietsschulungskursen in der Gauschulungsburg Jenkau Liederabende zu veranstalten. Mit einem Volksschullehrer zusammen erhielt Greff Anfang Vierzig den Auftrag, für den Reichsgau Danzig - Westpreußen ein Jugendliederbuch unter dem Motto »Sing mit!« zusammenzustellen. Das Buch wurde sehr gut. Der Gemüsehändler erhielt einen Brief aus Berlin, der vom Reichsjugendführer signiert war, und wurde nach Berlin zu einem Singleitertreffen eingeladen.
Greff war also ein patenter Mann. Nicht nur, daß er von allen Liedern auch alle Strophen wußte; Zelte konnte er bauen, Lagerfeuer so entfachen und löschen, daß keine Waldbrände entstanden, er marschierte zielstrebig nach dem Kompaß, nannte alle sichtbaren Sterne beim Vornamen, schnurrte lustige und abenteuerliche Geschichten herunter, kannte die Sagen des Weichsellandes, hielt Heimabende unter dem Titel »Danzig und die Hanse«, zählte alle Hochmeister des Ritterordens mit den dazu gehörenden Daten auf, begnügte sich aber nicht damit, sondern wußte auch allerlei über die Sendung des Deutschtums im Ordensland zu berichten und flocht nur ganz selten ein markantes Pfadfindersprüchlein in seine Vorträge.
Greff liebte die Jugend. Er liebte die Knaben mehr als die Mädchen. Eigentlich liebte er die Mädchen überhaupt nicht, liebte nur die Knaben. Oftmals liebte er die Knaben mehr, als es sich durch das Absingen von Liedern ausdrücken ließ. Mag sein, daß ihn seine Frau, die Greffsche, eine Schlampe mit immer speckigem Büstenhalter und durchlöcherten Schlüpfern zwang, zwischen drahtigen und blitzsauberen Buben der Liebe reineres Maß zu suchen. Es konnte aber auch eine andere Wurzel jenes Baumes gegraben werden, an dessen Zweigen zu jeder Jahreszeit Frau Greffs dreckige Wäsche blühte.
Ich meine: die Greffsche verschlampte, weil der Gemüsehändler und Luftschutzwart nicht den rechten Blick für ihre unbekümmerte und etwas stupide Üppigkeit hatte.
Greff liebte das Straffe, das Muskulöse, das Abgehärtete. Wenn er Natur sagte, meinte er gleichzeitig Askese. Wenn er Askese sagte, meinte er eine besondere Art von Körperpflege. Greff verstand sich auf seinen Körper. Er pflegte ihn umständlich, setzte ihn der Hitze und besonders erfindungsreich der Kälte aus. Während Oskar Glas nah-und fernwirkend zersang, gelegentlich Eisblumen vor den Scheiben auftaute, Eiszapfen schmelzen und klirren ließ, war der Gemüsehändler ein Mann, der mit handlichem Werkzeug dem Eis zu Leibe rückte.
Greff schlug Löcher ins Eis. Im Dezember, Januar, Februar schlug er mit einem Beil Löcher ins Eis.
Das Fahrrad holte er früh, noch bei Dunkelheit aus dem Keller, wickelte das Eisbeil in einen Zwiebelsack, fuhr über Saspe nach Brösen, von Brösen auf der verschneiten Strandpromenade in Richtung Glettkau, stieg zwischen Brösen und Glettkau ab und schob, während es langsam heller wurde, das Fahrrad mit Beil im Zwiebelsack über den vereisten Strand, dann zwei-bis dreihundert Meter weit über die zugefrorene Ostsee. Küstennebel herrschte dort. Niemand hätte vom Strand aus sehen können, wie Greff das Fahrrad ablegte, das Beil aus dem Zwiebelsack wickelte, eine Weile still und andächtig stand, den Nebelhörnern der eingefrorenen Frachtdampfer auf der Reede zuhörte, dann die Joppe fallen ließ, ein bißchen turnte und schließlich kräftig und gleichmäßig zuschlagend begann, der Ostsee ein kreisrundes Loch zu hacken.
Eine gute Dreiviertelstunde brauchte Greff für sein Loch. Fragen Sie mich bitte nicht, woher ich das weiß. Oskar wußte damals so ziemlich alles. So wußte ich auch, wie lange Greff für sein Loch in der Eisdecke brauchte. Er schwitzte und sein Schweiß sprang von hoher buckliger Stirn salzig in den Schnee. Er machte das geschickt, trieb die Spur satt und kreisrund, ließ sie ihren Anfang finden und hob dann ohne Handschuhe die etwa zwanzig Zentimeter dicke Scholle aus der weiten und, wie man annehmen darf, bis Heia oder gar Schweden reichenden Eisfläche. Uralt und grau, mit gefrorener Grütze versetzt, stand das Wasser in dem Loch. Es dampfte ein wenig und war dennoch keine heiße Quelle. Das Loch zog die Fische an. Das heißt, man sagt Löchern im Eis nach, daß sie die Fische anziehen. Greff hätte jetzt Neunaugen oder einen zwanzigpfündigen Dorsch angeln können. Er angelte aber nicht, begann sich vielmehr auszuziehen, nackt auszuziehen; denn wenn Greff sich auszog, zog er sich nackt aus.Oskar will Ihnen keine winterlichen Schauer über den Rücken jagen. Kurz sei berichtet: der Gemüsehändler Greif nahm während der Wintermonate zweimal in der Woche ein Bad in der Ostsee. Mittwochs badete er alleine am frühesten Morgen. Um sechs fuhr er los, war um halb sieben da, hackte bis viertel nach sieben das Loch, riß sich mit raschen, übertriebenen Bewegungen die Kleider vom Leib, sprang in das Loch, nachdem er sich zuvor mit Schnee abgerieben hatte, schrie in dem Loch, singen hörte ich ihn manchmal: »Wildgänse rauschen durch die Nacht«, oder: »Wir lieben die Stürme...« sang er, badete, schrie zwei, höchstens drei Minuten lang, war mit einem Sprung schrecklich deutlich auf der Eisdecke: ein dampfendes krebsrotes Fleisch, das um das Loch herum hetzte, immer noch schrie, nachglühte, endlich zurück in die Kleider und aufs Fahrrad fand. Kurz vor acht war Greff wieder im Labesweg und öffnete pünktlich seinen Gemüseladen.
Das zweite Bad nahm Greff am Sonntag in Begleitung mehrerer Knaben. Oskar will das nie gesehen haben, hat es auch nicht gesehen. Das erzählten später die Leute. Der Musiker Meyn wußte Geschichten über den Gemüsehändler, trompetete die durchs ganze Quartier, und eine dieser Trompetergeschichten besagte: An jedem Sonntag während der strengsten Wintermonate badete der Greff in Begleitung mehrer Knaben. Doch selbst Meyn behauptete nicht, daß der Gemüsehändler die Knaben gezwungen habe, gleich ihm nackt in das Eisloch zu springen. Er soll schon zufrieden gewesen sein, wenn die als Halbnackedeis oder Fastnackedeis sehnig und zäh auf dem Eis rumtollten und sich gegenseitig mit Schnee abrieben. Ja, soviel Freude machten die Knaben im Schnee dem Greff, daß er vor oder nach seinem Bad oftmals mittollte, mithalf, den einen oder anderen Knaben abzureiben, auch der ganzen Horde erlaubte, ihn abzureiben; so will der Musiker Meyn von der Glettkauer Strandpromenade aus trotz des Küstennebels gesehen haben, wie der schrecklich nackte, singende, schreiende Greff zwei seiner nackten Zöglinge an sich riß, hob und nackt mit nackt beladen, ein schreiend entfesseltes Dreigespann über die dichte Eisdecke der Ostsee tobte.
Man kann sich denken, daß Greff kein Fischerssohn war, obgleich es in Brösen und Neufahrwasser viele Fischer gab, die Greff hießen. Greff, der Gemüsehändler, kam aus Tiegenhof, jedoch hatte Lina Greff, eine geborene Bartsch, ihren Mann in Praust kennengelernt. Er half dort einem jungen unternehmungslustigen Vikar bei der Betreuung des katholischen Gesellenvereins, und Lina ging des gleichen Vikars wegen jeden Sonnabend ins Gemeindehaus. Einem Foto nach, das die Greffsche mir geschenkt haben muß, denn es klebt heute noch in meinem Fotoalbum, war die zwanzigjährige Lina damals kräftig, rund, lustig, gutmütig, leichtsinnig, dumm. Ihr Vater hatte eine größere Gärtnerei in Sankt Albrecht. Sie heiratete als Zweiundzwanzig-jährige, wie sie später immer wieder beteuerte, vollkommen unerfahren, auf Anraten des Vikars hin, den Greff und machte mit dem Geld ihres Vaters den Gemüseladen in Langfuhr auf. Da sie einen großen Teil ihrer Waren, so fast alles Obst aus der väterlichen Gärtnerei billig bezogen, ging das Geschäft gut, fast von alleine, und Greff konnte nicht viel verderben.
Ja, hätte der Gemüsehändler nicht diesen kindischen Zug zur Bastelei gehabt, wäre es nicht schwer gewesen, aus dem Laden, der so günstig, fern aller Konkurrenz in dem kinderreichen Vorort lag, eine Goldgrube zu machen. Doch als zum dritten und vierten Male der Beamte vom Eichamt erschien und die Gemüsewaage kontrollierte, die Gewichte beschlagnahmte, auch die Waage sperrte und Greff mit kleineren und größeren Bußen .belegte, ging ein Teil der Stammkundschaft davon, kaufte auf dem Wochenmarkt ein, und es hieß: die Ware bei Greff ist zwar immer erste Qualität, gar nicht mal teuer, aber es geht dort wohl nicht reell zu; die Leute vom Eichamt waren schon wieder da.
Dabei bin ich sicher, Greff wollte nicht betrügen. War es doch so, daß die große Kartoffelwaage zu Greffs Ungunsten wog, nachdem der Gemüsehändler einige Änderungen vorgenommen hatte. So baute er kurz vor Kriegsanfang gerade jener Waage ein Glockenspiel ein, das je nach Gewicht der gewogenen Kartoffeln ein Liedchen hören ließ. Bei zwanzig Pfund Kartoffeln bekam die Kundschaft, als Zugabe sozusagen, »An der Saale hellem Strande« zu hören, fünfzig Pfund Kartoffeln lösten »Üb immer Treu und Redlichkeit« aus, ein Zentner Winterkartoffeln entlockte dem Glockenspiel die naiv betörenden Töne des Liedchens »Ännchen von Tharau«.
Wenn ich auch einsah, daß dem Eichamt diese musikalischen Scherze nicht gefallen konnten, Oskar selbst hatte einen Sinn für des Gemüsehändlers Marotten. Auch Lina Greff sah ihrem Gatten diese Absonderlichkeiten nach, weil, nun weil die Greffsche Ehe eben darin bestand, daß beide Ehepartner sich gegenseitig alle Absonderlichkeiten nachsahen. So kann man sagen, die Greffsche Ehe war eine gute Ehe. Der Gemüsehändler schlug seine Frau nicht, betrog sie niemals mit anderen Frauen, war weder ein Trinker noch ein Prasser, war vielmehr ein lustiger, solide gekleideter Mann, der nicht nur bei der Jugend, sondern auch bei jenem Teil der Kundschaft, der dem Händler mit den Kartoffeln die Musik abnahm, wegen seiner geselligen, hilfsbereiten Natur beliebt war.
So sah auch Greff ruhig und nachsichtig zu, wie seine Lina von Jahr zu Jahr zu einer immer übler riechenden Schlampe wurde. Lächeln sah ich ihn, wenn Leute, die es gut mit ihm meinten, die Schlampe beim Namen nannten. Seine eigenen, trotz der Kartoffeln gepflegten Hände anhauchend und reibend, hörte ich ihn manchmal zu Matzerath, der an der Greff sehen Anstoß nahm, sagen: »Natürlich hast du vollkommen recht, Alfred. Sie ist ein wenig nachlässig, die gute Lina. Aber du und ich, sind wir denn ohne Fehl?« Wenn Matzerath nicht locker ließ, beschloß Greff solche Diskussionen bestimmt und dennoch freundlich: »Du magst hier und da richtig sehen, dennoch hat sie ein gutes Herz. Ich kenne doch meine Lina.«
Es mag sein, daß er sie gekannt hat. Sie jedoch kannte ihn kaum. Genau wie die Nachbarn und Kunden hätte sie in den Beziehungen Greff s zu jenen Knaben und Jünglingen, die oft genug den Händler besuchten, nie etwas anderes sehen können als die Begeisterung junger Menschen für einen zwar laienhaften, aber passionierten Freund und Erzieher der Jugend.
Mich konnte Greff weder begeistern noch erziehen. Auch war Oskar nicht sein Typ. Hätte ich mich zum Wachstum entschließen können, wäre ich vielleicht zu seinem Typ geworden; denn mein Sohn Kurt, der jetzt etwa dreizehn Jahre zählt, verkörpert in all seiner knochigen Schlaksigkeit genau Greffs Typ, auch wenn er ganz nach Maria schlägt, von mir nur wenig hat und von Matzerath gar nichts.
Greff war mit Fritz Truczinski, der Heimaturlaub bekommen hatte, Trauzeuge jener Ehe, die zwischen Maria Truczinski und Alfred Matzerath geschlossen wurde. Da Maria genau wie ihr Gatte protestantischer Konfession war, ging man nur aufs Standesamt. Das war Mitte Dezember. Matzerath sagte in Parteiuniform sein Ja. Maria war im dritten Monat.
Je dicker meine Geliebte wurde, um so mehr steigerte sich Oskars Haß. Dabei hatte ich nichts gegen die Schwangerschaft einzuwenden. Nur daß die von mir gezeugte Frucht eines Tages den Namen Matzerath tragen sollte, nahm mir alle Freude an dem zu erwartenden Stammhalter. So unternahm ich, als Maria im fünften Monat war, freilich viel zu spät, den ersten Abtreibungsversuch. Das war um die Faschingszeit. Maria wollte an jener Messingstange über dem Ladentisch, an der Würste und Speck hingen, einige Papierschlangen, auch zwei Clownsmasken mit Knollennasen befestigen. Die Leiter, die sonst an den Regalen einen guten Halt hatte, stand wackelig gegen den Ladentisch gelehnt. Maria hoch oben, mit den Händen zwischen Papierschlangen, Oskar tief unten am Leiterfuß. Meine Trommelstöcke als Hebel benutzend, mit der Schulter und festestem Vorsatz nachhelfend, drückte ich den Tritt hoch, dann zur Seite: zwischen Papierschlangen und Clownsmasken schrie Maria leise und schreckhaft auf, schon schwankte die Leiter, Oskar sprang zur Seite . und dicht neben ihm kam Maria, buntes Papier, Wurst und Masken mitreißend, zu Fall.
Das sah schlimmer aus, als es war. Sie hatte sich nur den Fuß verstaucht, mußte sich legen und schonen, hatte sonst aber keinen Schaden genommen, wurde weiterhin immer unförmiger und erzählte nicht einmal dem Matzerath, wer ihr zu dem verstauchten Fuß verholfen hatte.
Erst als ich im Mai des folgenden Jahres, etwa drei Wochen vor der zu erwartenden Niederkunft, den zweiten Abtreibungsversuch unternahm, sprach sie, ohne die volle Wahrheit zu sagen, mit ihrem Gatten Matzerath. Beim Essen, in meiner Gegenwart, sagte sie: »Oskarchen is in da letzte Zeit so wild baim Spielen und Schlacht mä manchmal jegen dem Bauch. Vleicht mechten wä ihm bis nache Jeburt bai main Muttchen unterbringen, wo Platz is.«
Das hörte sich Matzerath an und glaubte es auch. In Wirklichkeit hatte mir ein mörderischer Anfall zu einer ganz anderen Begegnung mit Maria verhelfen.
Sie hatte sich während der Mittagspause auf die Chaiselongue gelegt. Matzerath war im Laden und dekorierte, nachdem er das Geschirr vom Mittagessen abgewaschen hatte, das Schaufenster. Still war es im Wohnzimmer. Vielleicht eine Fliege, die Uhr wie gewöhnlich, im Radio ein leise gestellter Bericht über die Erfolge der Fallschirmjäger auf Kreta. Ich horchte nur auf, als sie den großen Boxer Max Schmeling sprechen ließen. Der hatte sich, soviel ich verstehen konnte, beim Absprang und Landen auf Kretas felsigem Boden den Weltmeisterfuß verknaxt, mußte jetzt liegen und sich schonen; ähnlich wie Maria, die nach dem Sturz von der Leiter das Bett hüten mußte. Schmeling sprach ruhig, bescheiden, dann erzählten Fallschirmjäger, die weniger prominent waren, und Oskar hörte nicht mehr zu: Stille, vielleicht eine Fliege, die Uhr wie gewöhnlich, ganz leise das Radio.
Ich saß vor dem Fenster auf meinem Bänkchen und beobachtete Marias Leib auf der Chaiselongue.
Sie atmete schwer und hielt die Augen geschlossen. Ab und zu schlug ich mürrisch auf mein Blech ein. Aber sie rührte sich nicht und zwang mich dennoch, mit ihrem Bauch in einem Zimmer atmen zu müssen. Gewiß, da gab es noch die Uhr, die Fliege zwischen Scheibe und Gardine und das Radio mit der steinigen Insel Kreta im Hintergrund. Das alles ging mir nach kürzester Zeit unter, ich sah nur noch den Bauch, wußte weder, in welchem Zimmer sich dieser Bauch rundete, noch wem er gehörte, wußte kaum noch, wer jenen Bauch so dick gemacht hatte, kannte nur einen Wunsch: er muß weg, der Bauch, das ist ein Irrtum, das versperrt dir die Aussicht, du mußt aufstehen und etwas tun! So stand ich auf. Du mußt sehen, was sich da machen läßt. So ging ich hin zum Bauch und nahm etwas mit beim Hingehen. Du solltest da ein bißchen Luft machen, das ist eine üble Blähung. Da hob ich, was ich beim Hingehen mitgenommen hatte, suchte mir eine Stelle zwischen Marias auf dem Bauch mitatmenden Patschhänden. Du solltest jetzt endlich zum Entschluß kommen, Oskar, sonst öffnet Maria die Augen. Da fühlte ich mich auch schon beobachtet, blickte aber weiterhin auf Marias leicht zitternde linke Hand, bemerkte zwar, daß sie die rechte Hand wegzog, daß die rechte Hand etwas vorhatte, und war auch nicht sonderlich erstaunt, als Maria mit der rechten Hand die Schere aus Oskars Faust drehte. Vielleicht blieb ich noch einige Sekunden lang mit erhobenem, aber leerem Griff stehen, hörte die Uhr, die Fliege, die Stimme des Ansagers im Radio, der das Ende des Kretaberichtes meldete, machte dann kehrt und verließ, bevor die neue Sendung — muntere Weisen von zwei bis drei — beginnen konnte, unser Wohnzimmer, das mir angesichts eines raumfüllenden Leibes zu eng geworden war.
Zwei Tage später wurde ich von Maria mit einer neuen Trommel versorgt und zu Mutter Truczinski in die nach Kaffee-Ersatz und Bratkartoffeln riechende Wohnung in der zweiten Etage gebracht. Zuerst schlief ich auf dem Sofa, da Oskar sich weigerte, in Herberts ehemaligem Bett zu schlafen, das, wie ich fürchten mußte, immer noch Marias Vanilleduft an sich haben mochte. Nach einer Woche schleppte der alte Heilandt mein hölzernes Kinderbett die Treppe hoch. Ich erlaubte, daß das Gestell neben jenem Lager aufgestellt wurde, das unter mir, Maria und unserem gemeinsamen Brausepulver stillgehalten hatte.
Oskar wurde ruhiger oder gleichgültiger bei Mutter Truczinski. Sah ich doch jetzt den Bauch nicht mehr, denn Maria scheute das Treppensteigen. Ich vermied die Wohnung im Parterre, das Geschäft, die Straße, selbst den Hof des Mietshauses, auf dem wegen der immer schwieriger werdenden Ernährungslage wieder Kaninchen gehalten wurden.
Meistens saß Oskar vor den Postkarten, die der Unteroffizier Fritz Truczinski aus Paris geschickt oder mitgebracht hatte. Dieses und jenes stellte ich mir unter der Stadt Paris vor und begann, als Mutter Truczinski mir eine Ansichtspostkarte des Eiffelturmes reichte, auf die Eisenkonstruktion des kühnen Bauwerkes eingehend, Paris zu trommeln, eine Musette zu trommeln, ohne jemals vorher eine Musette gehört zu haben.
Am zwölften Juni, nach meinen Berechnungen vierzehn Tage zu früh, im Zeichen Zwillinge — und nicht wie ich errechnet hatte, im Sternzeichen Krebs — wurde mein Sohn Kurt geboren. Der Vater in einem Jupiterjahr, der Sohn in einem Venusjahr. Der Vater vom Merkur in der Jungfrau beherrscht, was skeptisch und einfallsreich macht; der Sohn gleichfalls vom Merkur, aber im Zeichen der Zwillinge mit kaltem, strebendem Verstand bedacht. Was bei mir die Venus des Zeichens Waage im Hause des Aszendenten milderte, verschlimmerte der Widder im gleichen Haus meines Sohnes; ich sollte seinen Mars noch zu spüren bekommen.
Mutter Truczinski teilte mir aufgeregt und wie eine Maus tuend die Neuigkeit mit: »Nu stell dich vor, Oskarchen, hattä doch da Klapperstorch ain Briederchen jebracht. Un ech 'hab schon jedacht, na, wennes man nur nech ne Marjell is, wo später Kummer macht!« Kaum daß ich mein Trommeln vor der Eiffelturmvorlage und der frisch dazugekommenen Ansicht des Triumphbogens unterbrach.
Mutter Truczinski schien auch als Großmutter Truczinski keinen Glückwunsch von mir zu erwarten.
Obgleich nicht Sonntag war, entschloß sie sich, etwas Rot aufzulegen, griff nach dem oft bewährten Zichorienpapier, rieb sich schminkend die Wangen, verließ frischfarbig die Wohnung, um unten, im Parterre, dem angeblichen Vater Matzerath beizustehen.
Es war, wie gesagt, Juni. Ein trügerischer Monat. Erfolge an allen Fronten — wenn man Erfolge auf dem Balkan als Erfolge bezeichnen will — dafür aber stand man vor noch größeren Erfolgen im Osten. Da marschierte ein riesiges Heer auf. Die Eisenbahn hatte zu tun. Auch Fritz Truczinski, der es bislang in Paris so unterhaltsam gehabt hatte, mußte in östliche Richtung eine Reise antreten, die so bald nicht aufhören sollte und mit keiner Fronturlauberreise zu verwechseln war. Oskar jedoch saß ruhig vor den blanken Postkarten, weilte im milden, frühsommerlichen Paris, trommelte leichthin »Trois jeunes tambours«, hatte nichts mit der deutschen Besatzungsarmee gemein, mußte also auch keine Partisanen fürchten, die ihn von Seinebrücken herabzustürzen gedachten. Nein, ganz in Zivil bestieg ich mit meiner Trommel den Eiffelturm, genoß von oben, wie es sich gehört, den weiten Blick, befand mich so wohl und trotz der verlockenden Höhe frei von bittersüßen Selbstmordgedanken, daß mir erst nach dem Abstieg, als ich vierundneunzig Zentimeter groß am Fuße des Eiffelturmes stand, die Geburt meines Sohnes wieder bewußt wurde.
Voila, ein Sohn! dachte ich mir. Er soll, wenn er drei Jahre alt ist, eine Blechtrommel bekommen. Wir wollen doch einmal sehen, wer hier der Vater ist — jener Herr Matzerath oder ich, Oskar Bronski.
Im heißen Monat August — ich glaube, es wurde gerade wieder einmal der erfolgreiche Abschluß einer Kesselschlacht, jener von Smolensk gemeldet — da wurde mein Sohn Kurt getauft. Wie aber kam es dazu, daß meine Großmutter Anna Koljaiczek und ihr Bruder Vinzent Bronski zur Taufe eingeladen wurden? Wenn ich mich wieder zu jener Version entschließe, die den Jan Bronski zu meinem Vater, den stillen und immer wunderlicheren Vinzent zu meinem Großvater väterlicherseits macht, gäbe es Gründe genug für die Einladung. Schließlich waren meine Großeltern die Urgroßeltern meines Sohnes Kurt.
Diese Beweisführung fiel natürlich niemals dem Matzerath ein, der ja die Einladung ausgesprochen hatte. Der sah sich selbst während zweifelhaftester Momente, etwa nach einem haushoch verlorenen Skatspiel, als doppelten Erzeuger, Vater und Ernährer. Oskar sah seine Großeltern aus anderen Gründen wieder. Man hatte die beiden alten Leutchen eingedeutscht. Sie waren keine Polen mehr und träumten nur noch kaschubisch. Volksdeutsche nannte man sie, Volksgruppe drei. Dazu kam, daß Hedwig Bronski, Jans Witwe, einen Baltendeutschen, der in Ramkau Ortsbauernführer war, geheiratet hatte.Schon liefen Anträge, nach deren Bewilligung Marga und Stephan Bronski den Namen ihres Stiefvaters Ehlers übernehmen sollten. Der siebzehnjährige Stephan hatte sich freiwillig gemeldet, befand sich auf dem Truppenübungsplatz Groß-Boschpol in der Infanterieausbildung und hatte alle Aussichten, die Kriegsschauplätze Europas besuchen zu dürfen, während Oskar, der auch bald ins wehrtaugliche Alter kam, hinter seiner Trommel warten mußte, bis es beim Heer oder bei der Marine, eventuell bei der Luftwaffe eine Verwendungsmöglichkeit für einen dreijährigen Blechtrommler gäbe.
Der Ortsbauernführer Ehlers machte den Anfang. Vierzehn Tage vor der Taufe fuhr er mit Hedwig neben sich auf dem Bock zweispännig im Labesweg vor. Er hatte O-Beine, war magenkrank und mit Jan Bronski gar nicht zu vergleichen. Einen ganzen Kopf kleiner saß er neben der kuhäugigen Hedwig am Wohnzimmertisch. Seine Erscheinung überraschte selbst Matzerath. Es wollte kein Gespräch aufkommen. Vom Wetter sprach man, man stellte fest, daß im Osten allerlei los sei, daß es da stramm vorwärts gehe, viel zügiger als anno fünfzehn, erinnerte sich Matzerath, der anno fünfzehn dabeigewesen war. Es gaben sich alle Mühe, nicht von Jan Bronski zu sprechen, bis ich ihnen einen Strich durch die schweigsame Rechnung machte und mit kindlich drolliger Mundstellung laut und mehrmals nach Oskars Onkel Jan rief. Matzerath gab sich einen Ruck, sagte etwas Freundliches und etwas Besinnliches über seinen ehemaligen Freund und Nebenbuhler. Ehlers stimmte sofort und wortreich zu, obgleich er seinen Vorgänger nie gesehen hatte. Hedwig fand dann sogar einige echte und ganz langsam kullernde Tränen und schließlich das Schlußwort zum Thema Jan: »Ain guter Mansch warrer ja. Und könnt kaine Flieje nich ain Haarchen krümmen. Wä hält jedacht, dasser mißt so zu Grund jähen, wo ä doch ängstlich war und könnt sich verfeiern vor nuscht un wieder nuscht.«
Nach solchen Worten bat Matzerath die hinter ihm stehende Maria, Flaschenbier zu holen, und den Ehlers fragte er, ob er Skat spielen könne. Ehlers konnte nicht, bedauerte das sehr, aber Matzerath war großzügig genug, dem Ortsbauernführer den kleinen Fehler nachzusehen. Sogar die Schulter klopfte er ihm und versicherte, als schon das Bier in den Gläsern stand, daß das nichts mache, wenn er vom Skat nichts verstehe; man könne ja trotzdem gut Freund bleiben.
So fand also Hedwig Bronski als Hedwig Ehlers wieder in unsere Wohnung und brachte zur Taufe meines Sohnes Kurt außer ihrem Ortsbauernführer ihren ehemaligen Schwiegervater Vinzent Bronski und dessen Schwester Anna mit. Matzerath schien Bescheid zu wissen, begrüßte die beiden alten Leutchen laut und herzlich auf der Straße unter den Fenstern der Nachbarn und sagte im Wohnzimmer, als meine Großmutter unter die vier Röcke griff und das Taufgeschenk, eine ausgereifte Gans, hervorholte: »Das war nun aber nicht nötich jewesen, Muttchen. Ich freu mich auch, wenn de nix bringst und trotzdem kommst.« Das war wieder meiner Großmutter nicht recht, die wissen wollte, was ihre Gans wert war. Auf den fetten Vogel klatschte sie mit flacher Hand und protestierte: »Nu hab da man nich so, Alfrädchen. Das is ja keine kaschubsdie Gans nicht, das is nu ne Volksdeitsche und schmeckt dech jenau so wie vorm Kriech!«
Damit waren alle völkischen Probleme gelöst, und nur vor der Taufe gab es noch einige Schwierigkeiten, als Oskar sich weigerte, die protestantische Kirche zu betreten. Auch als sie meine Trommel aus dem Taxi holten, mich mit dem Blech köderten und immer wieder versicherten, in protestantische Kirchen könne man sogar Trommeln offen mitnehmen, blieb ich weiterhin schwärzester Katholik und hätte mich eher zu einer kurzen, zusammenfassenden Beichte in Hochwürden Wiehnkes Priesterohr entschlossen als zum Anhören einer protestantischen Taufpredigt.
Matzerath gab nach. Wahrscheinlich fürchtete er meine Stimme und die mit ihr verbundenen Schadenersatzansprüche. So blieb ich, während in der Kirche getauft wurde, im Taxi, betrachtete den Hinterkopf des Chauffeurs, musterte Oskars Antlitz im Rückspiegel, gedachte meiner eigenen, schon Jahre zurückliegenden Taufe und aller Versuche Hochwürden Wiehnkes, die Satan aus dem Täufling Oskar vertreiben sollten.
Nach der Taufe wurde gegessen. Man hatte zwei Tische aneinandergeschoben und begann mit der Mockturtlesuppe. Löffel und Tellerrand. Die vom Lande schlürften. Greff spreizte den kleinen Finger weg. Gretchen Scheffler biß die Suppe. Guste lächelte breit über dem Löffel. Ehlers sprach über den Löffel hinweg. Vinzent suchte zitternd neben dem Löffel. Nur die alten Frauen, die Großmutter Anna und Mutter Truczinski, waren ganz und gar den Löffeln ergeben, während Oskar sozusagen aus dem Löffel fiel, sich davonmachte, während die noch löffelten, und im Schlafzimmer die Wiege seines Sohnes suchte, denn er wollte über seinen Sohn nachdenken, während die anderen hinter den Löffeln immer gedankenloser und leergelöffelter schrumpften, wenn sie auch die Löffelsuppe in sich hineinschütteten.
Hellblauer Tüllhimmel über dem Körbchen auf Rädern. Da der Korbrand zu hoch war, erspähte ich zuerst nur etwas rotblau Verkniffenes. Meine Trommel stellte ich mir unter und konnte dann meinen schlafenden, im Schlaf nervös zuckenden Sohn betrachten. Oh, Vaterstolz, der immer nach großen Worten sucht! Da mir angesichts des Säuglings nichts einfiel als der kurze Satz: Wenn er drei Jahre alt ist, soll er eine Trommel bekommen — da mir mein Sohn keinen Aufschluß über seine Gedankenwelt gab, da ich nur hoffen konnte, er möge gleich mir zu den hellhörigen Säuglingen gehören, versprach ich ihm nochmals und immer wieder die Blechtrommel zu seinem dritten Geburtstag, stieg dann von meinem Blech und versuchte es wieder mit den Erwachsenen im Wohnzimmer.Dort machten sie gerade Schluß mit der Mockturtlesuppe. Maria brachte die grünen, süßen Büchsenerbsen in Butter.
Matzerath, der für den Schweinebraten verantwortlich war, servierte die Platte eigenhändig, ließ das Jackett von sich fallen, schnitt hemdsärmelig Scheibe urn Scheibe und machte ein solch zärtlich enthemmtes Gesicht über dem mürb saftigen Fleisch, daß ich wegblicken mußte. Für den Gemüsehändler Greff wurde extra serviert. Büchsenspargel, hartgekochte Eier und Sahne mit Rettich bekam er, weil Vegetarier kein Fleisch essen. Jedoch nahm er wie alle anderen einen Klacks von den Stampfkartoffeln, begoß die aber nicht mit der Bratensoße, sondern mit gebräunter Butter, die die aufmerksame Maria ihm in einem zischenden Pfännchen aus der Küche brachte. Während die anderen Bier tranken, hatte Greff Süßmost im Glas. Man sprach von der Kesselschlacht bei Kijew, zählte an den Fingern die Gefangenenzahlen zusammen. Der Balte Ehlers zeigte sich dabei besonders fix, ließ bei jedem Hunderttausend einen Finger hochschnellen, um dann, als seine beiden gespreizten Hände eine Million umfaßten, weiterzählend einen Finger nach dem anderen zu köpfen. Als man das Thema russische Kriegsgefangene, die durch die wachsende Summe immer wertloser und uninteressanter wurden, erschöpft hatte, erzählte Scheffler von den U-Booten in Gotenhafen, und Matzerath flüsterte meiner Großmutter Anna ins Ohr, daß bei Schichau jede Woche zwei Unterseeboote vom Stapel zu laufen hätten. Hierauf erklärte der Gemüsehändler Greff allen Taufgästen, warum Unterseeboote mit der Breitseite und nicht mit dem Heck zuerst vom Stapel laufen müßten. Er wollte es anschaulich bringen, hatte für alles Handbewegungen, die ein Teil der Gäste, die vom U-Bootbau fasziniert waren, aufmerksam und ungeschickt nachmachten. Vinzent Bronski warf, als seine linke Hand einem tauchenden U-Boot gleichen wollte, sein Bierglas um. Meine Großmutter wollte deswegen mit ihm schimpfen. Aber Maria beschwichtigte sie, sagte, das mache nichts, das Tischtuch komme sowieso morgen in die Wäsche; daß es beim Taufessen Flecken gebe, sei doch natürlich. Da kam auch schon Mutter Truczinski mit einem Lappen, tupfte die Bierlache weg und hielt links die große Kristallschüssel voller Schokoladenpudding mit Mandelsplittern.
Oh, hätte es doch eine andere Soße oder überhaupt keine Soße zu dem Schokoladenpudding gegeben!
Aber es gab Vanillesoße. Dickflüssig, gelbflüssig: Vanillesoße. Eine ganz banale, gewöhnliche und dennoch einzigartige Vanillesoße. Es gibt wohl nichts Fröhlicheres, aber auch nichts Trauriges auf dieser Welt als eine Vanillesoße. Sanft roch die Vanille vor sich hin und umgab mich mehr und mehr mit Maria, so daß ich sie, die aller Vanille Anstifterin war, die neben dem Matzerath saß, die dessen Hand mit ihrer Hand hielt, nicht mehr sehen und ertragen konnte.
Von seinem Kinderstühlchen rutschte Oskar, hielt sich dabei am Rock der Greffschen fest, blieb ihr, die oben löffelte, zu Füßen liegen und genoß zum erstenmal jene, der Lina Greff eigene Ausdünstung, die jede Vanille sofort überschrie, verschluckte, tötete.
So säuerlich es mich auch ankam, verharrte ich dennoch in der neuen Geruchsrichtung, bis mir alle mit der Vanille zusammenhängenden Erinnerungen betäubt zu sein schienen. Langsam, lautlos und krampflos überkam mich ein befreiender Brechreiz. Während mir die Mockturtlesuppe, stückweise der Schweinebraten, nahezu unversehrt die grünen Büchsenerbsen und jene paar Löffelchen Schokoladenpudding mit Vanillesoße entfielen, begriff ich meine Ohnmacht, schwamm ich in meiner Ohnmacht, breitete sich Oskars Ohnmacht zu Füßen der Lina Greff aus — und ich beschloß von nun an und tagtäglich, meine Ohnmacht zu Frau Greff zu tragen.
FÜNFUNDSIEBENZIG KILO
Vjazma und Brjansk; dann setzte die Schlammperiode ein. Auch Oskar begann, Mitte Oktober einundvierzig kräftig im Schlamm zu wühlen. Man mag mir nachsehen, daß ich den Schlammerfolgen der Heeresgruppe Mitte meine Erfolge im unwegsamen und gleichfalls recht schlammigen Gelände der Frau Lina Greff gegenüberstelle. Ähnlich wie sich dort, kurz vor Moskau, Panzer und LKW's festfuhren, fuhr ich mich fest; zwar drehten sich dort noch die Räder, wühlten den Schlamm auf, zwar gab auch ich nicht nach — es gelang mir wortwörtlich im Greffschen Schlamm Schaum zu schlagen — aber von Geländegewinn konnte weder kurz vor Moskau noch im Schlafzimmer der Greffschen Wohnung gesprochen werden.
Immer noch nicht mag ich diesen Vergleich aufgeben: wie künftige Strategen damals aus den verfahrenen Schlammoperationen ihre Lehre gezogen haben werden, zog auch ich aus dem Kampf gegen das Greffsche Naturereignis meine Schlüsse. Man soll die Unternehmungen an der Heimatfront des letzten Weltkrieges nicht unterschätzen. Oskar war damals siebzehn Jahre alt und wurde trotz seiner Jugend im tückisch unübersichtlichen Übungsgelände der Lina Greff zum Manne herangebildet.
Die militärischen Vergleiche aufgebend, messe ich jetzt Oskars Fortschritte mit künstlerischen Begriffen, sage also: Wenn mir Maria im naiv betörenden Vanillenebel die kleine Form nahelegte, mich mit Lyrismen wie Brausepulver und Pilzsuche vertraut machte, kam ich im streng säuerlichen, vielfach gewobenen Dunstkreis der Greffschen zu jenem breit epischen Atem, der mir heute erlaubt, Fronterfolge und Betterfolge in einem Satz zu nennen. Musik! Von Marias kindlich sentimentaler und dennoch so süßer Mundharmonika direkt aufs Dirigentenpult; denn Lina Greff bot mir ein Orchester, so breit und tief gestaffelt, wie man es allenfalls in Bayreuth oder Salzburg finden kann. Da lernte ich das Blasen, Klimpern, Pusten, Zupfen, Streichen, ob Generalbaß oder Kontrapunkt,ob es sich um Zwölftöner, Neutöner handelte, der Einsatz beim Scherzo, das Tempo beim Andante, mein Pathos war streng trocken und weich flutend zugleich; Oskar holte das Letzte aus der Greffschen heraus und blieb dennoch unzufrieden, wenn nicht unbefriedigt, wie es sich für einen echten Künstler gehört.
Von unserem Kolonialwarengeschäft zur Greffschen Gemüsehandlung brauchte es zwanzig Schrittchen. Der Laden lag schräg gegenüber, lag günstig, weit günstiger lag er als die Bäckermeisterwohnung Alexander Scheffler im Kleinhammerweg. An dieser günstigeren Lage mag es gelegen haben, daß ich es im Studium der weiblichen Anatomie etwas weiter brachte als im Studium meiner Meister Goethe und Rasputin. Vielleicht läßt sich dieser bis heute klaffende Bildungsunterschied durch die Verschiedenheit meiner beiden Lehrerinnen erklären und womöglich entschuldigen. Während mich Lina Greif gar nicht unterrichten wollte, sondern mir schlicht und passiv ihren Reichtum als Anschauungs-und Versuchsmaterial zur Verfügung stellte, nahm Gretchen Scheffler ihren Lehrberuf allzu ernst. Erfolge wollte sie sehen, wollte mich laut lesen hören, wollte meinen schönschreibenden Trommlerfingern zugucken, wollte mich mit der holden Grammatika befreunden und zugleich selbst von dieser Freundschaft profitieren. Als Oskar ihr jedoch alle sichtbaren Zeichen eines Erfolges verweigerte, verlor Gretchen Scheffler die Geduld, wandte sich kurz nach dem Tod meiner armen Mama, nach immerhin sieben Jahren Unterricht, wieder ihrer Strickerei zu und beglückte mich, da die Bäckerehe weiterhin kinderlos blieb, nur noch dann und wann, vor allem an großen Feiertagen, mit selbstgestrickten Pullovern, Strümpfen und Fausthandschuhen. Von Goethe und Rasputin war zwischen uns nicht mehr die Rede, und nur jenen Auszügen aus den Werken beider Meister, die ich immer noch, mal hier, mal da, zumeist auf dem Trockenboden des Mietshauses aufbewahrte, hatte es Oskar zu verdanken, daß dieser Teil seiner Studien nicht ganz und gar versandete; ich bildete mich selbst und kam zu eigenem Urteil.
Die kränkliche Lina Greff jedoch war ans Bett gebunden, konnte mir nicht ausweichen, mich nicht verlassen, denn ihre Krankheit war zwar langwierig, doch nicht ernsthaft genug, als daß der Tod mir die Lehrerin Lina hätte vorzeitig nehmen können. Da aber auf diesem Stern nichts von Dauer ist, war es Oskar, der die Bettlägerige in dem Augenblick verließ, da er seine Studien als abgeschlossen betrachten konnte.
Sie werden sagen: in welch begrenzter Welt mußte sich der junge Mensch heranbilden! Zwischen einem Kolonialwarengeschäft, einer Bäckerei und einer Gemüsehandlung mußte er sein Rüstzeug fürs spätere, mannhafte Leben zusammenlesen. Wenn ich auch zugeben muß, daß Oskar seine ersten, so wichtigen Eindrücke in recht muffig kleinbürgerlicher Umgebung sammelte, gab es schließlich noch einen dritten Lehrer. Ihm blieb es überlassen, Oskar die Welt zu öffnen und ihn zu dem zu machen, was er heute ist, zu einer Person, die ich mangels einer besseren Bezeichnung mit dem unzulänglichen Titel Kosmopolit behänge.
Ich spreche, wie die Aufmerksamsten unter Ihnen gemerkt haben werden, von meinem Lehrer und Meister Bebra, von dem direkten Nachkommen des Prinzen Eugen, vom Sproß aus dem Stamme Ludwigs des Vierzehnten, von dem Liliputaner und Musikalclown Bebra. Wenn ich Bebra sage, meine ich natürlich auch die Dame an seiner Seite, die große Somnambule Roswitha Raguna, die zeitlose Schöne, an die ich oft während jener dunklen Jahre, da Matzerath mir meine Maria wegnahm, denken mußte. Wie alt wird sie sein, die Signora? fragte ich mich. Ist sie ein blühendes zwanzigjähriges, wenn nicht neunzehnjähriges Mädchen? Oder ist sie jene grazile neunundneunzigjährige Greisin, die noch in hundert Jahren unverwüstlich das Kleinformat ewiger Jugend verkörpern wird?
Wenn ich mich recht erinnere, begegnete ich den beiden mir so verwandten Menschen kurz nach dem Tod meiner armen Mama. Wir tranken im Cafe Vierjahreszeiten gemeinsam unseren Mokka, dann trennten sich unsere Wege. Es gab leichte, doch nicht unerhebliche politische Differenzen; Bebra stand dem Reichspropagandaministerium nahe, trat, wie ich seinen Andeutungen unschwer entnehmen konnte, in den Privatgemächern der Herren Goebbels und Göring auf und versuchte mir diese Entgleisung auf verschiedenste Art zu erklären und zu entschuldigen. Da erzählte er von den einflußreichen Stellungen der Hofnarren im Mittelalter, zeigte mir Reproduktionen nach Bildern spanischer Maler, die irgendeinen Philipp oder Carlos mit Hofstaat zeigten; und inmitten dieser steifen Gesellschaften ließen sich einige kraus, spitzig und gepludert gekleidete Narren erkennen, die in etwa Bebras, womöglich auch meine, Oskars Proportionen aufwiesen. Gerade weil mir diese Bildchen gefielen — denn heute darf ich mich einen glühenden Bewunderer des genialen Malers Diego Velazquez nennen — wollte ich es Bebra nicht so leicht machen. Er ließ dann auch davon ab, das Zwergenwesen am Hofe des vierten spanischen Philipp mit seiner Stellung in der Nähe des rheinischen Emporkömmlings Joseph Goebbels zu vergleichen. Von den schwierigen Zeiten sprach er, von den Schwachen, die zeitweilig ausweichen müßten, vom Widerstand, der im verborgenen blühe, kurz es fiel damals das Wörtchen »Innere Emigration«, und deswegen trennten sich Oskars und Bebras Wege.
Nicht daß ich dem Meister grollte. An allen Plakatsäulen suchte ich während der folgenden Jahre die Anschläge der Varietes und Cirkusse nach Bebras Namen ab, fand ihn auch zweimal mit der Signora Raguna angeführt, unternahm dennoch nichts, das zu einem Treffen mit den Freunden hätte führen können.
Auf einen Zufall ließ ich es ankommen, doch der Zufall versagte sich, denn hätten sich Bebras und meine Wege im Herbst zweiundvierzig schon gekreuzt und nicht erst im folgenden Jahr, Oskar wäre nie zum Schüler der Lina Greff, sondern zum Jünger des Meisters Bebra geworden. So aber überquerte ich tagtäglich, oftmals schon am frühen Vormittag den Labesweg, betrat den Gemüseladen, hielt mich zuerst anstandshalber ein halbes Stündchen in der Nähe des immer mehr zum kauzigen Bastler werdenden Händlers auf, sah zu, wie er seine schrulligen, bimmelnden, heulenden, kreischenden Maschinen baute, und stieß ihn an, wenn Kundschaft den Laden betrat; denn Greff nahm zu jener Zeit kaum noch Notiz von seiner Umwelt. Was war geschehen? Was machte den einst so offenen, immer zum Scherz bereiten Gärtner und Jugendfreund so stumm, was ließ ihn so vereinsamen, zum Sonderling und etwas nachlässig gepflegten älteren Mann werden?
Die Jugend kam nicht mehr. Was da heranwuchs, kannte ihn nicht. Seine Gefolgschaft aus der Pfadfinderzeit hatte der Krieg an alle Fronten zerstreut. Feldpostbriefe trafen ein, dann nur noch Feldpostkarten, und eines Tages erhielt Greff über Umwege die Nachricht, daß sein Liebling, Horst Donath, erst Pfadfinder, dann Fähnleinführer beim Jungvolk, als Leutnant am Donez gefallen war.
Greff alterte von jenem Tage an, gab wenig auf sein Äußeres, verfiel gänzlich der Bastelei, so daß man in dem Gemüseladen mehr Klingelmaschinen und Heulmechaniken sah als etwa Kartoffeln und Kohlköpfe. Freilich tat auch die allgemeine Ernährungslage das ihrige; der Laden wurde nur selten und unregelmäßig beliefert, und Greff war nicht gleich Matzerath in der Lage, auf dem Großmarkt, Beziehungen spielen lassend, einen guten Einkäufer abzugeben.
Traurig sah der Laden aus, und eigentlich hätte man froh sein müssen, daß Greffs sinnlose Lärmapparate den Raum zwar auf skurrile, dennoch dekorative Weise schmückten und füllten. Mir gefielen die Produkte, die Greffs immer krauser werdendem Bastlerhirn entsprangen. Wenn ich mir heute die Bindfadenknotengeburten meines Pflegers Bruno ansehe, fühle ich mich an Greffs Ausstellung erinnert. Und genau wie Bruno mein gleichviel lächelndes wie ernstes Interesse an seinen künstlichen Spielereien genießt, freute sich Greff auf seine zerstreute Art, wenn er bemerkte, daß mir die eine oder andere Musikmaschine Vergnügen bereitete. Er, der sich jahrelang nicht um mich gekümmert hatte, zeigte sich enttäuscht, wenn ich nach einem halben Stündchen seinen zur Werkstatt gewandelten Laden verließ und seine Frau, Lina Greff, aufsuchte.
Was soll ich Ihnen viel von jenen Besuchen bei der Bettlägerigen erzählen, die meistens zwei bis zweieinhalb Stunden dauerten. Trat Oskar ein, winkte sie vom Bett her: »Ach du best es, Oskarchen.
Na komm beßchen näher und wenn de willst inne Federn, weil kalt is inne Stube und der Greff nur janz mies jehaizt hat!« So schlüpfte ich zu ihr unter das Federbett, ließ meine Trommel und jene beiden Stöcke, die gerade im Gebrauch waren, vor dem Bett liegen und erlaubte nur einem dritten, abgenutzten und etwas faserigen Trommelstock, mit mir der Lina einen Besuch abzustatten.
Nicht etwa, daß ich mich entkleidete, bevor ich bei Lina zu Bett ging. In Wolle, in Sammet und in Lederschuhen stieg ich ein und fand nach geraumer Zeit, trotz anstrengend einheizender Arbeit, in derselben, fast unverrückten Kleidung aus den verfilzten Federn heraus.
Nachdem ich den Gemüsehändler mehrmals kurz nach dem Verlassen des Linabettes, noch mit den Ausdünstungen seiner Frau behaftet, besucht hatte, bürgerte sich ein Brauchtum ein, dem ich allzugerne nachkam. Noch während ich im Bett der Greffschen weilte und meine letzten Übungen praktizierte, betrat der Gemüsehändler das Schlafzimmer mit einer Schüssel voller warmem Wasser, stellte die auf ein Schemelchen, legte Handtuch und Seife dazu und verließ wortlos, ohne das Bett mit einem einzigen Blick zu belasten, den Raum.
Oskar riß sich zumeist schnell von der ihm gebotenen Nestwärme los, fand zu der Waschschüssel und unterwarf sich und jenen im Bett wirkungsvollen ehemaligen Trommelstock einer gründlichen Reinigung; konnte ich doch verstehen, daß dem Greff der Geruch seiner Frau, selbst wenn der ihm aus zweiter Hand entgegenschlug, unerträglich war.
So aber, frisch gewaschen, war ich dem Bastler willkommen. All seine Maschinen und ihre verschiedenen Geräusche führte er mir vor, und es wundert mich heute noch, daß es zwischen Oskar und Greff trotz dieser späten Vertraulichkeit zu keiner Freundschaft kam, daß mir Greff weiterhin fremd blieb und allenfalls meine Anteilnahme, aber nie meine Sympathie erweckte.
Im September zweiundvierzig — ich hatte gerade sang-und klanglos meinen achtzehnten Geburtstag hinter mich gebracht, im Radio eroberte die sechste Armee Stalingrad — baute Greff die Trommelmaschine. In ein hölzernes Gerüst hängte er zwei ins Gleichgewicht gebrachte, mit Kartoffeln gefüllte Schalen, nahm sodann eine Kartoffel aus der linken Schale: die Waage schlug aus und löste eine "Sperre, die den auf dem Gerüst installierten Trommelmechanismus freigab: das wirbelte, bumste, knatterte, schnarrte, Becken schlugen zusammen, der Gong dröhnte, und alles zusammen fand ein endliches schepperndes, tragisch mißtönendes Finale.
Mir gefiel die Maschine. Immer wieder ließ ich sie mir von Greff demonstrieren. Glaubte Oskar doch, der bastelnde Gemüsehändler habe sie seinetwegen, für ihn erfunden und erbaut. Bald darauf wurde mir allzu deutlich mein Irrtum offenbar. Greff hatte vielleicht von mir Anregungen erhalten, die Maschine jedoch war für ihn bestimmt; denn ihr Finale war auch sein Finale.
Es war ein früher, reinlicher Oktobermorgen, wie ihn nur der Nordostwind frei vors Haus liefert.
Zeitig hatte ich Mutter Truczinskis Wohnung verlassen, trat auf die Straße, als gerade Matzerath den Rolladen vor der Ladentür hochzog. Neben ihn stellte ich mich, als er die grüngestrichenen Latten hochklappern ließ, bekam zuerst eine Wolke Kolonialwarenladengeruch geboten, der sich während der Nacht im Inneren des Geschäftes angespeichert hatte, und nahm dann den Morgenkuß von Matzerath in Empfang. Noch bevor sich Maria sehen ließ, überquerte ich den Labesweg, warf gen Westen einen langen Schatten über das Kopfsteinpflaster; denn rechts, im Osten, über dem Max-Halbe-Platz, zog sich aus eigener Kraft die Sonne hoch und benutzte dabei denselben Trick, den auch der Baron Münchhausen angewandt haben muß, als er sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf lüpfte.
Wer den Gemüsehändler Greff gleich mir gekannt hätte, wäre gleichfalls erstaunt gewesen, Schaufenster und Tür seines Ladens um jene Zeit noch verhängt und verschlossen zu finden. Zwar hatten die letzten Jahre den Greff zu einem mehr und mehr absonderlichen Greff gemacht. Dennoch hatte er sich bisher pünktlich an die Geschäftszeit zu halten gewußt. Womöglich ist er krank, dachte Oskar und verwarf sogleich wieder den Gedanken. Denn wie konnte Greff, der noch im letzten Winter, zwar nicht mehr so regelmäßig wie in früheren Jahren, der Ostsee Löcher ins Eis gehackt hatte, um ein Vollbad zu nehmen, wie sollte dieser Naturmensch, trotz einiger Alterserscheinungen, von einem Tag auf den anderen erkranken können. Das Vorrecht des Betthütens übte fleißig genug die Greffsche aus; auch wußte ich, daß Greff weiche Betten verachtete, daß er vorzugsweise auf Feldbetten und harten Pritschen schlief. Es konnte gar keine Krankheit geben, die den Gemüsehändler ans Bett hätte fesseln können.
Ich stellte mich vor die verschlossene Gemüsehandlung, blickte zu unserem Geschäft zurück, bemerkte, daß sich Matzerath im Inneren des Ladens befand; dann erst wirbelte ich vorsichtig, auf das empfindliche Ohr der Greffschen hoffend, meiner Blechtrommel einige Takte ab. Es brauchte nur wenigen Lärm, und schon öffnete sich das zweite Fenster rechts neben der Ladentür. Die Greffsche im Nachthemd, den Kopf voller Lockenwickler, ein Kopfkissen vor der Brust haltend, zeigte sich über dem Kasten mit den Eisblumen. »Na komm doch rain, Oskarchen. Worauf warteste noch, wo's draußen so fresch is!«
Erklärend schlug ich mit einem Trommelstock gegen den Blechladen vor dem Schaufenster.
»Albrecht!« rief sie, »Albrecht, wo biste? Was is denn nu los?« Weiterhin ihren Gatten rufend, räumte sie das Fenster. Zimmertüren schlugen, im Laden hörte ich sie klappern, und gleich darauf begann sie mit ihrem Geschrei. Sie schrie im Keller, doch konnte ich nicht sehen, warum sie schrie, denn die Kellerluke, durch die an den Liefertagen, in den Kriegsjahren immer seltener, die Kartoffeln geschüttet wurden, war gleichfalls versperrt. Als ich ein Auge an die geteerten Bohlen vor der Luke preßte, sah ich, daß im Keller das elektrische Licht brannte. Auch das obere Stück der Kellertreppe, auf dem etwas Weißes lag, wahrscheinlich das Kopfkissen der Greffschen, konnte ich ausmachen.
Sie mußte das Kissen auf der Treppe verloren haben, denn im Keller war sie nicht mehr, sondern schrie schon wieder im Laden und gleich darauf im Schlafzimmer. Den Telefonhörer hob sie ab, schrie und wählte, schrie dann ins Telefon; aber Oskar verstand nicht, worum es ging, nur Unfall schnappte er auf, und die Adresse, Labesweg 24, wiederholte sie mehrmals und schreiend, hängte dann ein und füllte gleich darauf in ihrem Nachthemd, ohne Kissen, doch mit den Lockenwicklern, schreiend das Fenster, goß sich und ihren ganzen, mir wohlbekannten doppelten Vorrat in den Kasten auf die Eisblumen, schlug beide Hände in die fleischigen, blaßroten Gewächse und schrie oben, daß die Straße eng wurde, daß Oskar schon dachte, jetzt fängt auch die Greffsche mit dem Glaszersingen an; aber es sprang keine Scheibe. Aufgerissen wurden die Fenster, Nachbarschaft zeigte sich, Frauen riefen sich Fragen zu, Männer stürzten, der Uhrmacher Laubschad, erst halb mit den Armen in seinem Jackenärmel, der alte Heilandt, Herr Reißberg, der Schneider Libischewski, Herr Esch aus den zunächst liegenden Haustüren, selbst Probst, nicht der Friseur, der von der Kohlenhandlung, kam mit seinem Sohn. Im weißen Ladenkittel wehte Matzerath heran, während Maria mit Kurtchen auf dem Arm in der Tür des Kolonialwarengeschäftes stehen blieb.
Es fiel mir leicht, in der Versammlung aufgeregter Erwachsener unterzutauchen und Matzerath, der mich suchte, zu entgehen. Er und der Uhrmacher Laubschad, sie waren die ersten, die zur Tat schreiten wollten. Man versuchte, durch das Fenster in die Wohnung zu gelangen. Doch die Greffsche ließ niemand hoch, geschweige denn hinein. Während sie gleichzeitig kratzte, schlug und biß, fand sie dennoch Zeit, immer lauter, teilweise sogar verständlich zu schreien. Erst solle das Unfallkommando kommen, sie habe schon längst telefoniert, niemand brauche mehr zu telefonieren, sie wisse schon, was man zu tun habe, wenn so was passiere. Die sollen sich um ihren eigenen Laden kümmern. Das sei schon schlimm genug hier. Neugierde, nichts als Neugierde, da sehe man wieder mal, wo einem die Freunde bleiben, wenn des Unglück komme. Und mitten in ihrem Lamento mußte sie mich in der Versammlung vor ihrem Fenster entdeckt haben, denn sie rief mich und streckte mir, da sie die Männer inzwischen abgeschüttelt hatte, die bloßen Arme entgegen, und jemand — Oskar glaubt heute noch, daß es der Uhrmacher Laubschad war -der hob mich, wollte mich gegen Matzeraths Willen hineinreichen, und kurz vor dem Eisblumenkasten hätte Matzerath mich auch beinahe erwischt, doch da packte Lina Greff schon zu, drückte mich gegen ihr warmes Hemd und schrie jetzt nicht mehr, weinte nur noch hoch wimmernd, holte hoch wimmernd Luft.
Im gleichen Maße wie das Geschrei der Frau Greif die Nachbarschaft zum erregten und schamlosen Gestikulieren aufgepeitscht hatte, vermochte ihr dünnes, hohes Wimmern den Andrang unter den Eisblumen zu einer stummen, verlegen scharrenden Masse zu machen, die kaum noch wagte, dem Weinen ins Gesicht zu sehen, die all ihr Hoffen, all ihre Neugierde und Anteilnahme dem zu erwartenden Unfallwagen entgegenbrachte.
Auch Oskar war das Winseln der Greffschen nicht angenehm. Ich versuchte, etwas tiefer zu rutschen, um ihren leidvollen Tönen nicht gar so nah sein zu müssen. Es gelang mir auch, den Halt an ihrem Hals aufzugeben, mich halb auf den Blumenkasten zu setzen. Allzusehr fühlte Oskar sich beobachtet, weil Maria mit dem Jungen auf dem Arm in der Ladentür stand. So gab ich auch diesen Sitz auf, begriff die Peinlichkeit meiner Lage, dachte dabei aber nur an Maria — die Nachbarn waren mir gleichgültig — stieß mich ab von der Greffschen Küste, die mir allzusehr zitterte und das Bett bedeutete.
Lina Greff bemerkte meine Flucht nicht, oder sie fand keine Kraft mehr, jenen kleinen Körper aufzuhalten, der ihr die längste Zeit lang fleißig Ersatz geboten hatte. Vielleicht ahnte Lina auch, daß Oskar ihr für immer entglitt, daß mit ihrem Geschrei ein Geräusch zur Welt gekommen war, das einerseits zur Mauer und Geräuschkulisse zwischen der Bettlägerigen und dem Trommler wurde, andererseits eine bestehende Mauer zwischen Maria und mir zum Einsturz brachte.
Ich stand im Schlafzimmer der Greffs. Meine Trommel hing mir schief und unsicher an. Oskar kannte das Zimmer ja, hätte die saftgrüne Tapete der Länge und Breite nach auswendig hersagen können. Da stand auf dem Schemel noch die Waschschüssel mit der grauen Seifenlauge vom Vortage. Alles hatte seinen Platz, und dennoch wollten mir die abgegriffenen, abgesessenen, durchgelegenen und angestoßenen Möbel frisch oder zumindest aufgefrischt vorkommen, als hätte alles, was da steif auf vier Füßen oder Beinen an den Wänden stand, erst das Geschrei und danach das hohe Wimmern der Lina Greff nötig gehabt, um zu neuem, erschreckend kaltem Glanz zu kommen.
Die Tür zum Laden stand offen. Oskar wollte nicht, ließ sich aber dennoch in jenen nach trockener Erde und Zwiebeln riechenden Raum ziehen, den das Tageslicht, das durch Ritzen in den Fensterläden fand, mit staubwimmelnden Streifen aufteilte. So blieben die meisten Lärm-und Musikmaschinen Greffs im Halbdunkel, nur auf einige Details, auf ein Glöckchen, auf Sperrholzstreben, auf den Unterteil der Trommelmaschine deutete das Licht und zeigte mir die im Gleichgewicht verharrenden Kartoffeln.
Jene Falltür, die genau wie in unserem Geschäft hinter dem Ladentisch den Keller abdeckte, stand offen. Nichts stützte den Bohlendeckel, den die Greffsche in ihrer schreienden Hast aufgerissen haben mochte; doch den Haken hatte sie nicht in die Falle am Ladentisch einschnappen lassen. Mit leichtem Stoß hätte Oskar den Deckel zum Kippen bringen, den Keller verschließen können.
Reglos stand ich halb hinter den Staub-und Modergeruch ausatmenden Bohlen, starrte auf jenes grellerleuchtete Geviert, welches einen Teil der Treppe und ein Stück betonierten Kellerboden einrahmte. In dieses Quadrat schob sich von oben rechts der Teil eines stufenbildenden Podestes, das eine neue Anschaffung Greffs sein mußte, denn ich hatte den Kasten bei gelegentlichen Besuchen des Kellers zuvor nie gesehen. Nun hätte Oskar eines Podestes wegen den Blick nicht so lange und so gebannt in den Keller geschickt, wenn sich nicht aus der oberen rechten Ecke des Bildes merkwürdig verkürzt zwei gefüllte Wollstrümpfe in schwarzen Schnürschuhen geschoben hätten. Wenn ich auch nicht die Sohlen der Schuhe einsehen konnte, erkannte ich sie dennoch sofort als Greffs Wanderschuhe. Das kann nicht Greff sein, dachte ich mir, der dort fertig zum Wandern im Keller steht, denn die Schuhe stehen nicht, schweben vielmehr frei über dem Podest; es sei denn, daß es den steil nach unten geneigten Schuhspitzen gelingt, die Bretter kaum, aber doch zu berühren. So stellte ich mir eine Sekunde lang einen auf Schuhspitzen stehenden Greff vor; denn diese komische, aber auch anstrengende Übung war ihm, dem Turner und Naturmenschen zuzutrauen.
Um mich von der Richtigkeit meiner Annahme zu überzeugen, auch um den Gemüsehändler gegebenenfalls gehörig auszulachen, kletterte ich, auf den steilen Stufen alle Vorsicht bewahrend, die Treppe hinunter und trommelte, wenn ich mich recht erinnere, angstmachendes, angstvertreibendes Zeug dabei: »Ist die Schwarze Köchin da? Jajaja!«
Erst als Oskar fest auf dem Betonboden stand, ließ er den Blick auf Umwegen, über Bündel leerer Zwiebelsäcke, gestapelte, gleichfalls leere Obstkisten gleiten, bis er, zuvor nie gesehenes Balkenwerk streifend, sich jener Stelle näherte, an der Greffs Wanderschuhe hängen oder auf der Spitze stehen mußten.
Natürlich wußte ich, daß Greff hing. Die Schuhe hingen, mithin hingen auch die grobgestrickten, dunkelgrünen Socken. Nackte Männerknie über den Strumpfrändern, behaart die Oberschenkel bis zum Hosenrand; da zog sich langsam ein prickelndes Stechen von meinen Geschlechtsteilen, dem Gesäß folgend, den taubwerdenden Rücken hoch, kletterte an der Wirbelsäule entlang, setzte sich im Nacken fest, schlug mich heiß und kalt, prallte mir von dort wieder zwischen die Beine, ließ meinen ohnehin winzigen Beutel schrumpfen, saß mir abermals, den schon gekrümmten Rücken überspringend im Nacken, verengte sich dort — es sticht und würgt Oskar heutzutage noch, wenn jemand in seiner Gegenwart vom Hängen, selbst vom Wäscheaufhängen spricht — nicht nur Greffs Wanderschuhe, Wollstrümpfe, Knie und Kniehosen hingen; der ganze Greif hing am Hals und machte über dem Seil ein angestrengtes Gesicht, das nicht frei von theatralischer Pose war.
Überraschend schnell ließ das Ziehen und Stechen nach. Greffs Anblick normalisierte sich mir; denn im Grunde ist die Körperstellung eines hängenden Mannes genau so normal und natürlich wie etwa der Anblick eines Mannes, der auf den Händen läuft, eines Mannes, der auf dem Kopf steht, eines Mannes, der eine wahrhaft unglückliche Figur macht, indem er auf ein vierbeiniges Roß steigt, um zu reiten.
Dazu kam der Dekor. Erst jetzt begriff Oskar den Aufwand, den Greff mit sich getrieben hatte. Der Rahmen, die Umgebung, in der Greff hing, war ausgesuchtester, fast extravaganter Art. Der Gemüsehändler hatte eine ihm angemessene Form des Todes gesucht, hatte einen ausgewogenen Tod gefunden. Er, der zeit seines Lebens mit den Beamten des Eichamtes Schwierigkeiten und peinlichen Briefwechsel gehabt hatte, er, dem sie die Waage und die Gewichte mehrmals beschlagnahmt hatten, er, der wegen unkorrekten Abwiegens von Obst und Gemüse Bußen hatte zahlen müssen, er wog sich aufs Gramm mit Kartoffeln auf.
Das matt glänzende, wahrscheinlich geseifte Seil lief, auf Rollen geführt, über zwei Balken, die er eigens für seinen letzten Tag einem Gerüst draufgezimmert hatte, das schließlich nur den einen Zweck besaß, sein letztes Gerüst zu sein. Dem Aufwand an bestem Bauholz durfte ich entnehmen, daß der Gemüsehändler nicht hatte sparen wollen. Es mochte schwierig gewesen sein, in jenen an Baumaterialien armen Kriegszeiten die Balken und Bretter zu beschaffen. Greff wird zuvor Tauschhandel getrieben haben; für Obst bekam er Holz. So fehlte es an diesem Gerüst auch nicht an überflüssigen und nur zierenden Verstrebungen. Das dreiteilige, stufenbildende Podest — eine Ecke desselben hatte Oskar vom Laden aus sehen können — hob das gesamte Gestühl in beinahe erhabene Bereiche.
Wie bei der Trommelmaschine, die der Bastler als Modell benutzt haben mochte, hingen Greff und sein Gegengewicht innerhalb des Gerüstes. Recht gegensätzlich zu den weißgekälkten vier Eckbalken stand ein zierliches grünes Leiterchen zwischen ihm und den gleichfalls schwebenden Feldfrüchten.
Die Kartoffelkörbe hatte er mittels eines kunstvollen Knotens, wie ihn die Pfadfinder zu schlagen wissen, dem Hauptseil angeknüpft. Da das Innere des Gerüstes von vier weißgestrichenen, dennoch starkstrahlenden Glühbirnen erleuchtet wurde, konnte Oskar, ohne das feierliche Podest betreten und entweihen zu müssen, einem mit Draht am Pfadfinderknoten befestigten Pappschildchen über den Kartoffelkörben die Aufschrift ablesen: Fünfundsiebenzig Kilo (weniger hundert Gramm).
Greff hing in der Uniform eines Pfadfinderführers. Er hatte an seinem letzten Tag wieder in die Uniform der Vorkriegsjahre zurückgefunden. Sie war ihm eng geworden. Die beiden obersten Knöpfe und den Gurt hatte er nicht schließen können, was seiner sonst adretten Aufmachung einen peinlichen Beigeschmack gab. Zwei Finger der linken Hand hatte Greff nach Pfadfindersitte überkreuz gelegt.
Ans rechte Handgelenk band sich der Erhängte, bevor er sich erhing, den Pfadfinderhut. Auf das Halstuch hatte er verzichten müssen. Da es ihm wie bei der Kniehose auch am Hemdkragen nicht gelungen war, die obersten Knöpfe zu schließen, quoll ihm schwarzkrauses Brusthaar aus dem Stoff.
Da lagen auf den Stufen des Podestes einige Astern, auch, unpassend, Petersilienstengel.
Wahrscheinlich waren ihm beim Streuen die Blumen ausgegangen, da er die meisten Astern, auch einige Rosen zum Bekränzen jener vier Bildchen verschwendet hatte, die an den vier Hauptbalken des Gerüstes hingen. Links vorne hing hinter Glas Sir Baden-Powell, der Gründer der Pfadfinder. Links hinten, ungerahmt, der heilige Sankt Georg. Rechts hinten, ohne Glas, der Kopf des David von Michelangelo. Gerahmt und verglast lächelte am rechten vorderen Pfosten das Foto eines vielleicht sechzehnjährigen, ausdrucksvoll hübschen Knaben. Eine frühe Aufnahme seines Lieblings Horst Donath, der als Leutnant am Donez fiel.
Vielleicht erwähne ich noch die vier Fetzen Papier auf den Podeststufen zwischen Astern und Petersilie. Sie lagen so, daß man sie mühelos zusammensetzen konnte. Das tat Oskar, und er entzifferte eine Vorladung vors Gericht, der man den Stempel der Sittenpolizei mehrmals aufgedrückt hatte.
So bleibt mir noch zu berichten, daß mich damals der aufdringliche Ruf des Unfallwagens aus den Betrachtungen über den Tod eines Gemüsehändlers weckte. Gleich darauf stolperten sie die Treppe herab, das Podest hinauf und legten Hand an den hängenden Greff. Kaum jedoch, daß sie den Händler gelüpft hatten, fielen und stürzten die das Gegengewicht bildenden Kartoffelkörbe: ähnlich wie "bei der Trommelmaschine, begann ein freigewordener Mechanismus zu arbeiten, den Greff geschickt oberhalb des Gerüstes mit Sperrholz verkleidet hatte. Während unten die Kartoffeln übers und vom Podest auf den Betonboden polterten, schlug es oben auf Blech, Holz, Bronze, Glas, hämmerte oben ein entfesseltes Trommlerorchester Albrecht Greffs großes Finale.
Es gehört heute zu Oskars schwierigsten Aufgaben, die Geräusche der Kartoffellawine — an der sich übrigens einige Sanitäter bereicherten — den organisierten Lärm der Greffschen Trommelmaschine auf seinem Blech nachhallen zu lassen. Wahrscheinlich weil meine Trommel die Gestaltung des Greffschen Todes entschieden beeinflußte, gelingt es mir manchmal, ein abgerundetes, Greffs Tod übersetzendes Trommelstück auf Oskars Blech zu legen, das ich, von Freunden und dem Pfleger Bruno nach dem Titel befragt, Fünfundsiebenzig Kilo nenne.