28
Jeder hat vor etwas Angst: Phobophobie ist die Angst vor der Angst
Als vier Kinder in nassen, schmutzigen, fleckigen und übel riechenden Kleidern zusammen mit Mrs Wellingtons Hund ins Büro des Sheriffs stürmten, fragte er sich, ob ihm etwa seine Frau einen Streich spielte.
»Was um alles in der Welt …?«
»Mrs Wellington ist gestorben und hat alles Makkaroni hinterlassen, weil sie dachte, Schmidty wäre schon tot, aber das ist er gar nicht, deshalb hat ihr Rechtsanwalt Munchhauser Makkaroni gestohlen und wir mussten ihn verfolgen. Makkaroni haben wir wiederbekommen, aber Munchhauser konnten wir nicht fangen«, sprudelte Theo blitzartig heraus.
»Habt ihr gesagt, Mrs Wellington sei tot?«, fragte der Sheriff und seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Ich fürchte leider, ja«, sagte Madeleine ruhig.
»Ich kenne sie schon, seit ich ein kleiner Junge war. Sie war es, die mich von meiner Flugangst befreit hat«, sagte der Sheriff und tupfte sich die Augen mit einem Taschentuch. »Ich musste immer auf der Queen Mary reisen, um meine Großtante Melba in Liverpool zu besuchen. Und ich wurde unterwegs seekrank. Aber dann schritt Mrs Wellington ein und änderte mein Leben und meine Einstellung.«
»Sheriff, ich würde später gerne darauf zurückkommen und hören, wie sie Ihnen geholfen hat, aber jetzt müssen wir unbedingt nach Summerstone zurückkehren. Ich mache mir Sorgen um Schmidty«, sagte Garrison traurig.
»Keine Sorge, Junge. Ich hole den Van«, sagte der Sheriff und setzte seinen Hut auf.
»Der Kran ist kaputt«, sagte Lulu. »Schmidty hat gesagt, Munchhauser hätte ihn unbrauchbar gemacht.«
»Und das heißt, wir müssen den Tunnel nehmen«, sagte Garrison niedergeschlagen. »Noch einmal.«
»Ich glaube nicht«, sagte der Sheriff zuversichtlich, als er zur Tür ging.
Der Sheriff konnte Captain Huckleford, den Chef der Feuerwehr von Farmington, dazu überreden, die ganze Gruppe an den Fuß des Felsens zu bringen. Die Leiter des Fahrzeugs ließ sich auf beinahe 75 Meter ausfahren, sodass die vier nicht mehr durch den gefürchteten Tunnel mussten.
Während Captain Huckleford fuhr, starrten die Schüler aus dem Fenster und überdachten alles, was geschehen war. Sie hatten sich vor nicht einmal einer Woche von ihren Familien verabschiedet, aber sie hatten das Gefühl, so viel erlebt zu haben, wie sonst in mehreren Jahren. Und keines der Kinder hätte auch nur im Traum damit gerechnet, ein Abenteuer wie das gerade hinter ihnen liegende bestehen zu können.
Es kam ihnen vor wie eine Ewigkeit, bis der Feuerwehrwagen am Fuß des Berges ankam. Captain Huckleford rief alle nach draußen und begann die Leiter auszufahren.
»Der Sheriff klettert hinauf und sieht nach, ob mit Schmidty alles in Ordnung ist«, erklärte Captain Huckleford den Kindern.
»Wir klettern auch hinauf«, sagte Theo mit nassen Handflächen.
»Es ist sehr hoch. Seid ihr sicher, dass ihr das wollt?«, fragte Captain Huckleford.
»Wir sind sicher«, sagte Theo wagemutig für die Gruppe.
Theo, Madeleine, Lulu, Garrison und der Sheriff erklommen die Leiter mit überraschender Leichtigkeit und Schnelligkeit. Aber als sie oben waren, schaute Theo nach unten, und ihm wurde schwummrig.
»Ich denke, nach unten nehme ich den Tunnel, wenn ihr nichts dagegen habt«, platzte er heraus.
»Los, kommt!«, rief der Sheriff und rannte auf Summerstone zu.
Sobald die Kinder die Eingangshalle betraten, begannen sie Schmidtys Namen zu rufen.
»Schmidty! Schmidty!«
»Wo sind Sie?«
»Hallo! Hallo, Schmidty!«
Ein leises Stimmchen war durch das Geschrei hindurch zu hören.
»Ich bin im Speisezimmer.«
Schmidtys Stimme war schwächer als sonst, was bestimmt kein gutes Zeichen war. Sie rannten an den vertrauten Türen vorbei, angefangen bei der mit der Uhr bis zu der mit dem Bronzeknauf, und blieben dann vor der Tür mit der Tafel stehen, die zum Speisezimmer führte. Als der Sheriff die Tür öffnen wollte, schob sich Garrison nach vorn und betrat den Raum als Erster. Lulu, Madeleine, Theo und schließlich der Sheriff folgten ihm rasch.
Am wunderschön gedeckten Tisch saßen Mrs Wellington, Schmidty und Munchhauser. Während die vier Kinder stocksteif vor Schreck dastanden, lachte der Sheriff und nahm am Tisch Platz.
Theo näherte sich als Erster Mrs Wellington und hob seine kleine Hand an ihr dick mit Make-up bedecktes Gesicht.
»Sind Sie wirklich lebendig?«, fragte Theo ernsthaft.
»Ja, Theo«, antwortete Mrs Wellington mit weicher Stimme.
Theo schlang die Arme um ihren Hals und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich möchte Sie so vieles fragen, aber zuallererst das: Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was wir durchgemacht haben?«
»Sie sind nicht nur nicht tot, sondern Sie essen auch noch mit dem Feind!«, schrie Lulu und zeigte auf Munchhauser.
»Es wäre gut, jemand würde mal etwas erklären«, meinte Garrison und bemühte sich, ruhig zu bleiben.
»Herzlichen Glückwunsch, ihr habt den Kurs gegen Angst erfolgreich bestanden«, sagte Mrs Wellington in ihrem gewohnten, steifen Ton. »Und mit Glanz und Gloria, darf ich hinzufügen. Wir sind alle sehr stolz auf euch.«
»Ich bin ganz durcheinander und sehr aufgewühlt«, sagte Madeleine. »Ich fühle mich ein wenig von meinen Emotionen überwältigt.«
»Es war also alles nur eine Täuschung?«, beschwerte sich Theo zornig. »Die ganze Geschichte war von vorne bis hinten gestellt?«
»Nicht ganz. Munchhausers Auftauchen war nicht geplant. Aber da Abernathy im Wald war, hielt ich es für das Beste, zu improvisieren, damit er euch in die Stadt begleiten konnte. Es war das erste Mal, dass Munchhauser an einem Abenteuer beteiligt war, normalerweise versuchen wir, ihn aus offensichtlichen Gründen von den Schülern fernzuhalten. Er hat nicht die besten Manieren und wie ihr vielleicht gemerkt habt, hegt er eine Vorliebe für Wetten.«
»Ich hätte nicht geglaubt, dass es auch nur einer von euch schafft. Ich habe mit Schmidty um einen Dollar gewettet und verloren«, brummte Munchhauser wenig höflich. »Kann mir jemand einen Dollar leihen?«
»Ich wäre in diesem Tunnel fast gestorben, Mrs Wellington«, sagte Lulu zornig, »ist Ihnen das klar?«
»Keine Sorge, Lulu. Wir haben das Ganze Schritt für Schritt mit einer internen Videoanlage beobachtet. Jeder Zentimeter der Tunnel und der Straße, selbst das Haus der Knapps, wird von Kameras überwacht.«
»Garrison wäre in dem Schwimmbecken ertrunken, wenn ich ihn nicht heldenhaft herausgezogen hätte«, sagte Theo stolz zu Mrs Wellington.
»Die Knapps sind geprüfte Rettungsschwimmer, mein schwimmendes Pummelchen. Er war nie ernsthaft in Gefahr.«
»Aber wenn wir in den Wald gegangen wären?«, fragte Madeleine. »Dann hätten wir wirklich zu Schaden kommen können.«
»Ach meine liebe, ehemalige Imkerin, hätte tatsächlich einer von euch Anstalten gemacht, den Wald zu betreten, hätte ich die Lautsprecheranlage benutzt, um euch davon abzuhalten.«
»Und Abernathy?«, fragte Lulu misstrauisch. »Hat der auch mitgemacht?«
»Ich fürchte«, sagte Mrs Wellington, »dass dieser Teil der Geschichte wahr ist. Er ist mein einziger Fehlschlag und noch dazu ein sehr schmerzhafter.«
Als Mrs Wellington sich bei der Erwähnung von Abernathy so wand, näherte sich ihr Theo mit ernster Miene.
»Heißt das, dass wir endlich nach Hause dürfen? Oder müssen wir trotzdem noch den restlichen Sommer über hierbleiben?«
»Eure Familien erwarten euch morgen zu Hause. Ihr werdet mutiger und unendlich viel stärker heimfahren. Sie werden sehr stolz sein, dass ihr eure Ängste überwunden habt.«
»Ich möchte Sie ja nicht enttäuschen, aber ich habe immer noch Angst vor dem Tod. So ein bisschen«, flüsterte Theo. »Ein winziges bisschen.«
»Und ich bin immer noch nicht scharf auf Spinnen«, fügte Madeleine hinzu.
»Es ist ein Prozess, liebe Teilnehmer, ein Prozess der ständigen Herausforderung eurer selbst. Nachdem ihr jetzt hier die ersten Schritte gemacht habt, werdet ihr jeden Sommer weitere Fortschritte machen, und bald werdet ihr euch nicht einmal mehr daran erinnern, dass ihr je solche Ängste hattet.«
»Verzeihung, Mrs Wellington, aber haben Sie gerade gesagt ›jeden Sommer‹?«, fragte Madeleine.
»Selbstverständlich, Madeleine. Ich bin sicher, ihr habt alle das Kleingedruckte in der Broschüre über das Programm gelesen.«
Die verdatterten vier waren viel zu erschöpft, um auf die Information zu reagieren, die sie gerade erhalten hatten. Nach einem für Leib und Seele so anstrengenden Tag konnten sie sich kaum vorstellen, noch einmal so eine Erfahrung durchzumachen, die sie so durchrüttelte.
»Bitte alle setzen, das Essen wird doch kalt«, wies Schmidty die Gruppe an.
»Fiona, Errol, Annabelle, Ratty«, rief Mrs Wellington den Katzen zu, »die Teilnehmer müssen sich die Hände waschen.«
Die vier Katzen trotteten ins Zimmer, in schwarzgrau-schwarz-grau-Formation. Eine nach der anderen sprang auf den Tisch und ließ eine dampfende heiße Serviette auf je ein Gedeck für die Kinder fallen.
»Sie sind also doch dressiert?«, fragte Theo ungläubig.
»Ja, selbstverständlich sind sie dressiert!«, sagte Mrs Wellington selbstzufrieden. »Sagt bloß nicht, dass ihr mich nach alledem immer noch unterschätzt.«
Die vier starrten fasziniert Mrs Wellington an und versuchten, die vielen Facetten dieser seltsamen Frau zu erfassen.
»Sie sind wirklich teuflisch clever«, sagte Lulu mit offener Bewunderung.
»Danke«, sagte Mrs Wellington mit wissendem Nicken.
»Und Ihre Entschlossenheit bringt nichts ins Wanken«, ergänzte Madeleine mit aufkeimender Ehrfurcht.
»Es kommt mir irgendwie komisch vor, das zu sagen, aber Sie wissen haargenau, was Sie tun«, sagte Garrison überrascht.
»Danke, Sportsfreund.« Dann wandte sich Mrs Wellington erwartungsvoll Theo zu.
»Ich finde, Sie sollten ernsthaft überdenken, ob Sie Schmidty weiterhin Ihr Make-up auflegen lassen.«
»Theo!«, schrien Madeleine, Lulu und Garrison auf, als Mrs Wellingtons Lippen so rot wie ein Feuerwehrauto wurden, dann aber wehmütig lächelten.
»Vielleicht hast du recht, mein beleibter Freund.«