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Jeder hat vor etwas Angst: Ablutophobie ist die Angst vor dem Waschen oder Baden
An dem Abend, an dem die Mastersons aus London auf dem John-F.-Kennedy-Flughafen in New York eintrafen, sorgten sie dort für großes Aufsehen. Wie immer zogen erschöpfte Reisende ihre Koffer hinter sich her, hielten Kinder an der Hand und suchten sich ihren Weg durch das Labyrinth von Flugsteigen. Doch plötzlich blieben sie wie angewurzelt stehen. Mitten im Satz, im Gehen, im Umherblicken, mitten in einem Atemzug hielten sie inne und starrten Madeleine Masterson, ihre Eltern und eine Fahne von Insektenspray an.
Über Madeleines verschleiertem Kopf hing buchstäblich eine Wolke des Sprays und löste bei Unbeteiligten einen heftigen Hustenreiz aus. Madeleine schritt, ohne mit der Wimper zu zucken, durch das Gedränge im Terminal. Sie hatte sich schon längst damit abgefunden, dass der Schutz vor Spinnen seinen Preis hatte.
Die Mastersons eilten durch das Terminal, um ihren Flug nach Pittsfield zu erwischen. Sie hatten schon mit einem kleinen Flugzeug gerechnet, aber dass es so klein sein würde, hatten sie doch nicht gedacht. Es hatte in etwa die Farbe und Größe eines New Yorker Taxis, nur sah es viel heruntergekommener aus. Hätte man die Mastersons nicht eines Besseren belehrt, hätten sie gedacht, es sei auf dem Weg zum Schrottplatz. Die Tragflächen waren schräg und neigten sich stark nach links, die Fensterscheiben waren mit silberfarbenem Isolierband befestigt.
Mr Masterson hatte das Gefühl, sein Magen schlage einen Purzelbaum, als er das Flugzeug näher betrachtete. Er fragte sich, wie ein vernünftiger Mensch keine Angst vor der Maschine haben konnte, aber Madeleine fürchtete sich nicht. Ihr hätte es auch nichts ausgemacht, wenn auf dem Flugzeug »Der sichere Tod« gestanden hätte. Für Madeleine war es viel wichtiger, das Innere der Maschine gründlichst auszusprühen, als sich über eine Kleinigkeit wie Flugsicherheit Gedanken zu machen. Allerdings erlaubte Mrs Masterson Madeleine nur den Gebrauch von nicht brennbarem Insektenspray.
Die ganze Familie schwieg während des gesamten Fluges, der 57 Minuten dauerte. Madeleine hatte viel zu viel Angst, dass man ihr im Phobinasium ihre Spraydosen und ihren Schleier wegnehmen könnte, um sich auf eine zwanglose Plauderei konzentrieren zu können. Schleier und Sprays begleiteten sie schon so lange, dass sie zu ihr gehörten wie ihr eigener Körper. Madeleine war sogar eher bereit, sich ein Leben ohne Arme vorzustellen als eines ohne Insektenspray. Allerdings musste sie sich schon etwas einfallen lassen, wenn sie die Spraydosen ohne Arme einsetzen wollte.
Madeleine dachte über viele grässliche Dinge nach, die sie um ihrer Sprays und ihres Schleiers willen erdulden würde und kümmerte sich überhaupt nicht darum, dass das Flugzeug immer wieder ein Stück absackte und dann erneut hochzog. Mr und Mrs Masterson hing der Magen im Hals, aber Madeleine bekam nichts mit. Sie war völlig von einer Art stillem Handel in Anspruch genommen: War der Schleier eine Zehe wert? Fünf Zehen? Einen Fuß? Eine Hand? Einen Fingernagel? Einen Finger?
Das Flugzeug musste weiterhin heftige Turbulenzen meistern, bis es endlich in Pittsfield landete, was sich eher wie ein Absturz anfühlte. Mr Masterson taumelte vor Übelkeit direkt auf die holprige Landebahn.
»Maddie, bist du sicher, dass du keine Flugangst hast? Ich fliege selbst nicht besonders gern, vor allem nach dieser Erfahrung. Ich reise viel lieber mit dem Auto, dem Bus, dem Zug oder dem Schiff. Es scheint mir wesentlich einfacher zu sein, einen Flug zu umgehen, als zu versuchen, alle Spinnen und Käfer der
Welt auszurotten. Könntest du dir vielleicht vorstellen, deine Insektenangst gegen Flugangst einzutauschen?«, fragte Mr Masterson, als sein Gesicht allmählich wieder Farbe bekam.
»Mummy, bitte sag Vater, er soll still sein«, sagte Madeleine mit leiser, aber energischer Stimme.
»Arthur, bitte. Niemand ist in Stimmung für deine Art von Humor. Oder vielmehr deinen Mangel an Humor.«
Wie es zur üblichen Reiseroutine der Mastersons gehörte, nahmen sie Quartier in einem zuvor gründlich ausgeräucherten Hotel Garni, in diesem Fall im Pretty Pitts Inn. Schon lange hatten sie für alle Unterkünfte auf Reisen die Bedingung eingeführt, dass vor ihrer Ankunft der Kammerjäger kam. Das bedeutete zwar aufwändige Vorbereitungen und beträchtliche Kosten, aber es war unumgänglich, damit Madeleine zumindest den Anschein geistiger Gesundheit aufrechterhalten konnte.
Im blassgrünen Badezimmer des Pretty Pitts Inn putzte sich Madeleine eifrig die Zähne und suchte währenddessen die Wände nach Spinnweben ab. Auf der anderen Seite der Wand untersuchten die Mastersons, denen noch immer übel war, die Bettwäsche samt Kopfkissen, ehe sie ein Moskitonetz anbrachten. Madeleine kam in ihrem rosafarbenen Bademantel mit eingearbeitetem Schleier ins Zimmer, drückte ein paarmal auf den Sprühknopf des Insektenabwehrmittels, kletterte ins Bett und betete still um eine spinnenund käferfreie Nacht.
 
Am nächsten Morgen um halb acht bestieg die müde Familie Masterson den Bus nach Farmington. Der silberfarbene Bus war völlig leer bis auf einen hübschen Jungen namens Garrison Feldman. Er war groß und kräftig für seine dreizehn Jahre und folglich ein Ass in allen Sportarten, von Football über Baseball bis hin zu Fußball. In seiner Schule in Miami war er eine Art Berühmtheit, und zwar nicht nur wegen seiner Leistungen auf dem Spielfeld. Sein blondes Haar, der gebräunte Teint und die blauen Augen bewogen mehr als ein Mädchen, schmachtende Liebesbriefe in sein Schließfach zu stecken. Die Kombination von sportlicher Geschicklichkeit und ausnehmend gutem Aussehen machten Garrison zum beliebtesten Jungen in der Palmetto-Schule.
Aber bei all seinen sportlichen Erfolgen und den vielen errötenden Mädchen auf dem Pausenhof hatte Garrison den Ruf, recht launisch zu sein, weil er oft Klassenkameraden wegen unbedeutender Kleinigkeiten anfuhr.
Nach einem eindrucksvollen Fußballspiel sprachen ihn einmal zwei seiner Kameraden an. Phil und Rick hatten ihre Boogieboards dabei, mit denen man auf dem Bauch liegend in den Wellen surfen kann.
»Hey, du warst toll auf dem Spielfeld«, brach es aus Rick mit einer Begeisterung heraus, die er normalerweise für die Spieler der National Football League reservierte. »Du hast uns wieder zum Sieg geführt!«
Garrison nickte gelassen, denn er wurde regelmäßig für seine Führungsstärke auf dem Platz gelobt.
»Wir haben heute unsere Boogieboards mitgebracht. Komm, wir gehen runter an den Strand und stürzen uns in die Wellen«, schlug Phil vor.
»Nee, ich will nicht«, antwortete Garrison abweisend.
»Ach komm«, mischte sich jetzt auch Rick ein, der unbedingt Garrisons Interesse wecken wollte. »Nie gehst du mit.«
»Ja, die Wellen sind heute richtig hoch«, sagte Phil entzückt. »Sie haben sogar eine Warnung durchgegeben.«
Eine schwache, aber spürbare Brise vom Meer her wehte über Garrisons Gesicht und ließ seine Knie weich werden, während er den Jungen in die Augen starrte. Lichtfünkchen tanzten vor seinen Augen, während er sich bemühte, aufrecht stehen zu bleiben.
»Ich habe gehört, die Wellen seien fast sieben Meter hoch«, ergänzte Rick.
Garrisons Augen begannen zu schielen, aber er rang noch immer darum, aufrecht zu bleiben.
»Mann, was ist denn mit deinem Gesicht los?«, fragte Rick besorgt.
»Wie? Ach, ich hab nur deine Mom nachgemacht«, erwiderte Garrison feindselig.
»Hey, das ist ja hart, Mann«, sagte Rick ernst.
Garrison marschierte vom Spielfeld, verschwand hinter dem Schuppen des Gärtners und sank dort als schuldbewusstes Häufchen Elend zu Boden. Er saß mit schweißnassen Händen im Gras und hoffte, dass Phil und Rick ihn so nicht sahen. Er brauchte einen Moment, um sich wieder zu fangen und alle Gedanken an den Strand und die gigantischen Wellen zu verbannen.
Außer seinen Eltern wusste niemand, dass er panische Angst vor Wasser hatte. Nicht vor Trinkwasser und der Dusche, aber vor jedem größeren Gewässer wie einem Schwimmbad, einem See oder dem Meer. Peinlicherweise brach Garrison sogar der kalte Schweiß aus, wenn er im Fernsehen die Wiederholungen der Serie Baywatch anschaute.
Die Angst vor Wasser, Hydrophobie, passte nicht zu Garrisons Image eines robusten Burschen und das wusste er. Alle Spieler, die er im Baseball, Basketball und Fußball besiegt hatte, würden ihn gnadenlos verspotten, wenn sie je dahinterkamen. Er war sich sicher, dass seine sportlichen Leistungen gewaltig leiden würden, wenn seine Schwäche bekannt würde.
Garrison wusste, dass es höchste Zeit wurde, seine Angst vor dem Wasser anzugehen - ansonsten würde er die Entdeckung riskieren.
Daher schlich er sich eines Morgens um halb fünf aus seinem Zimmer ins Wohnzimmer, wo sein Vater den einzigen Computer der Familie stehen hatte, einen klobigen alten Desktop. Sehr zum Kummer seiner Eltern hatte Garrison seine Familie gezwungen, in dieses heruntergekommene Haus zu ziehen, weil es so weit vom Strand weg war.
Garrison saß mit seinem alten Trainingsanzug bekleidet vor dem Computer und suchte im Internet nach einer Lösung für sein Problem. Seine Fingerspitzen berührten die Tasten nur ganz leicht, damit er seine oft knurrigen Eltern nicht weckte.
Garrison plante, gegen seine Angst anzugehen und so die Anerkennung seines Vaters zu gewinnen. Aber allein der Gedanke daran brachte seinen Magen in Aufruhr. Garrison musste unbedingt eine Methode finden, die funktionierte. Andernfalls würde sein Vater sein Scheitern dazu nutzen, ihn noch mehr herunterzumachen. Garrison durchforstete Websites und kämpfte dabei mit widersprüchlichen Gefühlen. Sein phobischer Anteil wollte dem Wasser aus dem Weg gehen. Sein rationales Denken wollte nichts mehr, als sich damit auseinanderzusetzen und dann zu neuen Ufern aufzubrechen. In Miami konnte ein Junge den Strand nicht unbegrenzt lange meiden, sonst wurden die Leute misstrauisch.
Gegen Morgen wurden Garrisons Augenlider schwer und er musste sich mächtig anstrengen, um nicht einzuschlafen. Frustriert und erschöpft überflog er einen Blog mit dem Titel »Wer hat Angst vor Virginia Woolf oder vor etwas anderem?«. Er las drei Erlebnisberichte und blieb dann bei einem hängen, den ein elfjähriger Junge geschrieben hatte, der seine Sonnenphobie während eines Sommers im Phobinasium überwunden hatte. Die Behandlung hatte bei dem Jungen derart gut angeschlagen, dass er jetzt zu den Nachwuchs-Rettungsschwimmern am Strand gehörte.
Einen Augenblick lang fragte sich Garrison, ob er das Ganze geträumt hatte. Hatte er den Jungen erfunden, der vorher wegen seiner Angst vor der Sonne nur in der Nacht gelebt hatte? Er rieb sich die Augen und schaute noch einmal auf den Bildschirm. Vor ihm erschien eine scharf abgefasste Erklärung der Anwaltskanzlei Munchhauser & Sohn mit der Behauptung, der vorangegangene Erlebnisbericht sei rein fiktiv gewesen.
Garrison fühlte auf einmal einen Klumpen im Magen, weil seine Hoffnung schon wieder geplatzt war. Der Klumpen wuchs von Sekunde zu Sekunde und drückte seine inneren Organe gegen die Haut. Er blickte auf seinen Bauch, als erwartete er fast, dort gleich die Umrisse seiner Milz zu erkennen. Garrison hielt inne und holte tief Luft, sodass ein Fünkchen Verstand zu seinem Hirn vordringen konnte. Warum sollte eine Anwaltskanzlei sich die Mühe machen, wegen der überbordenden Fantasie eines Jungen ein Schreiben ins Netz zu stellen?
Garrison hatte das sichere Gefühl, es sei doch mehr an der Sache. Er suchte überall im Web nach einer weiteren Erwähnung des Phobinasiums, fand aber nichts. Dieser Informationsmangel jedoch unterstützte nur Garrisons Überzeugung, dass er auf etwas Wichtiges gestoßen war. Sein Bauch sagte ihm, dass er das Phobinasium um jeden Preis finden musste.
Inzwischen war die Sonne aufgegangen und Garrison hörte den Wecker seiner Eltern summen. Sein Vater schlurfte in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen, und erspähte im nebenan gelegenen Wohnzimmer sofort den übernächtigten Garrison am Computer.
»Kauf ja nicht irgendwelchen Schrott bei eBay«, warnte Mike Feldman, während er Instantkaffeepulver in einen Henkelbecher kippte.
In einem Anflug von Schwachsinn hatte Garrison einmal die Kreditkarte seines Vaters entwendet, um damit eine nachgedruckte Baseball-Sammlerkarte von Joe DiMaggio zu bezahlen. Er hätte das Geld dafür zwar gehabt, aber er konnte im Internet ja nicht bar bezahlen. Da er nicht klauen wollte, steckte er seinem Dad einen Zwanziger in die Brieftasche und sah die Sache damit als erledigt an. Nur sein Vater betrachtete diese Transaktion in ganz anderem Licht, was nicht weiter überraschte.
Garrison richtete sich auf dem karierten Stuhl auf und überlegte, wie viel er darauf wetten würde, dass das Phobinasium ihm helfen konnte. Glaubte er so fest an das Phobinasium, dass es die Tortur wert war, die er sich zumuten wollte? Noch ehe er sich darüber im Klaren war, sagt er die Worte zu seinem Vater, die seinen Entschluss endgültig machten: »Ich brauche deine Hilfe.«
Nachdem Garrison beide Eltern in die Sache mit dem Phobinasium eingeweiht hatte, wusste er, dass es jetzt kein Zurück mehr gab. Sein Vater verachtete Feiglinge, ob es um Sport, Scrabble oder das Auffinden des rätselhaften Phobinasiums ging. Zu dritt telefonierten sie die Hälfte der Kindertherapeuten durch, die im Telefonbuch von Miami aufgelistet waren, und fragten jeden nach dem Phobinasium.
Manche legten ohne ein Wort wieder auf, andere erklärten, sie hätten noch nie davon gehört. Aber manche polterten und stotterten derart herum, dass die Feldmans immer mehr glaubten, Garrisons Instinkt sei richtig. Es war zufällig Garrison selbst, der an jenem schicksalhaften Mittwochmorgen Dr. Ernestina Franklin anrief. Nachdem er nach dem Phobinasium gefragt hatte, erwartete er entweder das Amtszeichen oder das übliche Dementi, aber stattdessen hörte er etwas ganz anderes.
»Ja.«
»Sie haben tatsächlich schon einmal vom Phobinasium gehört?«, wiederholte er erstaunt.
 
Kaum zwanzig Minuten später hielt die Familie Feldman vor dem malerischen gelben Haus von Dr. Franklin. Als sie die gebrechliche alte Dame an der Tür sahen, war ihnen klar, dass sie sowohl der Senilität als auch dem Tod nahe war. Sie begrüßte Garrison herzlich mit einer Umarmung und einem Kuss auf die Wange. Dieses überschwängliche Verhalten der alten Dame erklärte sich Sekunden später, als sie »Freddy« fragte, warum er denn seine Grandma nicht früher besucht hätte.
Garrison, der verzweifelt Hilfe suchte, lächelte und umarmte seine neu gefundene Grandma. Dann lenkte er die Unterhaltung unauffällig in Richtung des berüchtigten Phobinasiums. Dr. Franklins Verhalten änderte sich, als sie die geheimnisvolle Institution vage erklärte. Garrison nahm ihre Informationen begierig auf und versuchte Fragen zu stellen, aber die Therapeutin beantwortete keine einzige. Sie war jedoch bereit, für »Freddy« - der, wie Mrs Feldman erklärte, lieber bei seinem zweiten Vornamen, Garrison, gerufen wurde - ein Empfehlungsschreiben zu verfassen.
Die Familie war schon mit dem Brief in der Hand auf dem Weg zur Tür, als Dr. Franklin sie noch einmal aufhielt.
»Warten Sie!«, rief die alte Dame und zog die Schublade des kleinen Tischs neben dem Sofa auf.
Sie hielt eine verblasste Fotografie hoch. Die Feldmans näherten sich zögernd, weil sie keine Ahnung hatten, was auf sie zukam. Beim Anblick eines Mannes mit verzerrtem Gesicht schnappte erst Mr Feldman, dann Mrs Feldman und zuletzt Garrison nach Luft. Dicke Knubbel aus schuppigem Fleisch übersäten das grausame Gesicht. Fast noch schlimmer als seine Haut waren seine Augen, die nicht etwa schwarz waren, wie grauenerregende Augen oft sind, sondern bananengelb, was noch viel verstörender war.
»Sobald Sie dieses Empfehlungsschreiben abschicken, wird er Sie beobachten … wo immer Sie hingehen, was immer Sie einkaufen, wen immer Sie anrufen, er wird es wissen. Er weiß alles«, sagte Dr. Franklin unheilverkündend.
»Wer?«, fragte Garrison leise.
»Munchhauser.«