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Jeder hat vor etwas Angst: Logiozomechanophobie ist die Angst vor Computern
Madeleine wünschte sich, ihr hübsch eingerichtetes Zimmer mit einer runden Lampe und einem Schaukelstuhl vor sich zu sehen, wenn sie die Augen öffnete. Ein solches Zimmer würde nämlich bedeuten, dass die Schritte, die im Flur zu hören waren, die ihrer Mutter waren, und dass das Phobinasium nur ein bizarrer Traum gewesen war. Aber sie wusste auch, dass selbst das winzigste Fleckchen Rosa bedeutete, dass die Schule Wirklichkeit war. Madeleine holte tief Luft und zwang sich dann, die Augen zu öffnen. Ein brennender Schmerz durchzuckte sie, als ihre Hoffnung starb und sie sah, dass sie immer noch in dem rosaroten Palast war.
Ein paar Meter weiter lagen Lulus rotblonde Haarsträhnen über ihrem Gesicht, während sie tief ein- und ausatmete. Eine bekannte Stimme drang durch die rosafarbene Tür und riss Lulu aus dem Schlaf und Madeleine aus ihren Gedanken an zu Hause.
»Madeleine, Lulu, ihr habt fünfzehn Minuten Zeit, um euch zu waschen und anzuziehen, dann gibt es Frühstück. Achtet dabei besonders auf eure Zähne. Ich empfehle euch auch, Mundwasser zu benutzen, denn Mrs Wellington kann schlechten Atem nicht ausstehen. Beim geringsten Hinweis auf schlechten Atem wird sie euch den Mund mit Backpulver und Essig ausschrubben.«
»Verstanden, Schmidty!«, rief Lulu von ihrem Bett aus und wandte sich dann der tief deprimierten Madeleine zu. »Sie hat Angst vor morgendlichem Mundgeruch? Na, super. Ich habe Angst vor ihrem kahlen Kopf.«
»Ach komm, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Du bist doch ihr Liebling.«
In dem gelben Badezimmer mit grünen Farbakzenten stieß Lulu auf zwei benommene Jungen im Schlafanzug und Makkaroni. Noch im Halbschlaf putzten sich Theo und Garrison ganz gründlich die Zähne.
»Was hat der Hund hier zu suchen?«, fragte Lulu. »Und warum hat er einen Schlafanzug an?«
»Also, ich weiß nur, dass ich ihn beim Aufwachen an mich drückte«, sagte Theo, wobei ihm ein ganzer Schwall Zahnpasta aus dem Mund kam. »Oder vielmehr drückte Makkaroni sich an mich.«
»Hör auf zu reden und putz dir die Zähne«, ermahnte Garrison Lulu. »Hey, Maddie, komm schon rein, wir müssen in weniger als fünf Minuten unten sein.«
Dass Garrison sie ›Maddie‹ nannte, beflügelte sie. Sie kam zu den anderen ins Bad. Vier kleine Gesichter erschienen im Spiegel und das Geräusch von eifrigem Bürsten erfüllte den Raum.
Die unterschiedlichen Arten des Bürstens entsprachen dem jeweiligen Temperament der Kinder: Madeleine bevorzugte eine langsame und gründliche Technik, bei der sie jeden Zahn einzeln von vorn und von hinten schrubbte, ehe sie zum nächsten überging. Lulu war weniger systematisch und fuhr sich hastig kreuz und quer mit der Bürste im Mund herum. Garrison bürstete sich als Zeichen seiner Stärke kräftig die Zunge und musste seinen Würgereflex unterdrücken. Theo gab alle paar Sekunden neue Zahnpasta auf seine Bürste. Offenkundig war ihm die empfohlene Erbsengröße viel zu wenig.
Minuten später saßen alle vier mit sichtlich hastig übergezogenen Kleidern am Tisch des Speisezimmers und hörten die Krähen achtmal krächzen. Sie wölbten die Handflächen vor dem Mund und versuchten, so gut es ging, ihren eigenen Atem zu riechen. Leider ist das beinahe unmöglich.
Da Lulu nicht wusste, was am zweiten Tag auf sie alle zukommen würde, begann es, hinter ihrem linken Auge leicht zu pulsieren, was immer vor dem Zucken kam. Sie rieb sich so heftig die Augen, dass sie Lichtfunken vor sich sah, als sie sie wieder öffnete. Lulu drehte das Gesicht zum Fenster und schnappte nach Luft. Ein Mann. Ein abstoßend hässlicher Mann spähte durch das Fenster. Noch ehe Lulu etwas sagen konnte, huschte ein Lichtfleck durch ihr Blickfeld und sie konnte das Gesicht des Mannes nicht mehr erkennen.
Beunruhigt schloss Lulu die Augen und zählte bis zehn. Als sie im Geiste der Zehn näher kam, merkte sie, dass ihr in jedem Fall unlieb war, was sie sehen würde. War er noch da, würde sie in Panik verfallen. Und war er weg, hieß das, dass sie fantasiert hatte, was genauso beängstigend war. Langsam öffnete sie die Augen und bemerkte sofort eine Topfpflanze genau an der Stelle, an der sie das entstellte Gesicht gesehen hatte. War es möglich, dass sie die Topfpflanze mit dem verunstalteten Gesicht eines Mannes verwechselt hatte?
»Ich … ich habe …«, stotterte Lulu, aber dann wurde ihr bewusst, wie verrückt ihre Worte klingen würden. »Ich, äh, ich habe überlegt, ob vielleicht jemand meinen Atem prüfen könnte.«
»Auf keinen Fall«, erwiderte Garrison.
»Wenn es unbedingt sein muss, aber lieber nicht«, antwortete Madeleine diplomatisch.
»Beug dich rüber, ich schnuppere mal«, bot Theo großmütig an.
»Ach, lass nur«, sagte Lulu und starrte Theo an.
In Wahrheit wollte sie gar nicht, dass jemand ihren Atem prüfte, es war nur das Erste gewesen, was ihr eingefallen war.
»Was? Bin ich dir nicht gut genug, um deinen Atem zu prüfen?«
Lulu schnitt Theo eine Grimasse, und er formte unhörbar mit den Lippen das Wort »gemein«.
»Ich sehe, ihr seid über den morgendlichen Atemtest informiert worden«, sagte Mrs Wellington vom Flur her. Sie trug ein ärmelloses Kleid aus Seersuckerstoff mit einem Petticoat darunter und einem dazu passenden kleinen runden Pillbox-Hütchen auf dem Kopf.
Mrs Wellington umrundete einmal den Tisch und beugte sich dann über Garrison. »Weit aufmachen«, sagte sie ruhig.
Garrison legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund. Er atmete Mrs Wellington keine Luft ins Gesicht, sondern ließ sie reglos riechen. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er fürchtete, er sei mit der Zahnbürste nicht weit genug auf der Zunge nach hinten gekommen. Die Sache war heikel, denn wenn man zu weit nach hinten kam, konnte der Brechreiz siegen - und das war auf keinen Fall gut für reinen Atem.
Mrs Wellington drehte den Kopf von Garrison weg und atmete langsam durch die Nase ein. Die Zeit schien stillzustehen, während sie seinen Atem begutachtete wie ein Wissenschaftler einen Laborbefund.
Schließlich nickte die alte Dame. Sie rückte ihr kleines Seersucker-Hütchen zurecht und ging zu Madeleine weiter. Obwohl der Geruch ihres Atems leicht durch den Schleier drang, hob ihn Madeleine über ihren Mund. Mrs Wellington nickte rasch und überprüfte dann Lulu und Theo. Bei beiden nickte sie zu deren Erleichterung zufrieden.
»Sehr gut, Teilnehmer. Eine Schönheitskönigin ist nämlich nicht nur allzeit bereit, sondern sie unterhält sich auch nicht mit Leuten mit schlechtem Atem«, sagte Mrs Wellington, als Schmidty und Makkaroni mit einer Platte Rührei, Muffins und Orangensaft hereinkamen. »Machen Sie den Mund auf, Alterchen.«
»Gnädige Frau, ich bin kein Schüler dieser Einrichtung. Ich muss mich solchen Tests ja wohl kaum unterziehen.«
»Sie sind vielleicht kein Teilnehmer, aber ich bin eine Schönheitskönigin. Und was sage ich immer?«
»Man fragt eine Schönheitskönigin nie nach ihrem Alter?«
»Nein«, antwortete Mrs Wellington kurz.
»Nimm stets eine Ersatzperücke mit?«
»Nein.«
»Stimme deinen Lidschatten auf deine Kleidung ab?«
»Hören Sie, Alterchen, Sie wissen ganz genau, dass ich immer sage, eine Schönheitskönigin unterhält sich nicht mit Leuten mit schlechtem Atem.«
»Wie Sie meinen, gnädige Frau.«
»Also, jetzt machen Sie den Mund weit auf.«
»Also gut, gnädige Frau. Aber ich glaube, Sie sollten wissen, dass ich bereits die Inschrift für Ihren Grabstein bestellt habe: ›Stets so stilvoll wie verrückt.‹«
»Guter Mann, planen Sie bereits meine Beerdigung?«
»Schon seit dem Tag, an dem wir uns kennengelernt haben.«
»Ich habe stets Ihren Weitblick bewundert.«
Schmidty saß inzwischen am Tisch, hielt mit einer Hand seine Turbanfrisur fest und beugte sich nach hinten.
»Denken Sie daran, schlechter Atem ist ein Zeichen dafür, dass noch Bakterien da sind, und das ist keineswegs wünschenswert.«
Mit zuckersüßem Lächeln beschnupperte Mrs Wellington das Innere von Schmidtys Mund und nickte.
»Seht ihr, wie viel ihr schon gelernt habt!«, sagte Mrs Wellington.
»Was denn? Unsere Zähne zu putzen?«, höhnte Lulu.
»Es tut mir leid, dass ich stören muss, aber ich glaube, ich sollte meine Familie anrufen und hören, ob alles in Ordnung ist. Es könnten inzwischen eine Menge schrecklicher, fürchterlicher und grässlicher Dinge passiert sein. Kann ich bitte telefonieren?«
Garrison begann plötzlich wegen seiner Lüge vom Abend vorher zu schwitzen. Es war vollkommen logisch, anzunehmen, dass ein Telefon im Haus war. Warum raste dann nur sein Herz so?
»Natürlich, Pummelchen. Du kannst in deiner Vorstellung telefonieren, sooft du willst«, sagte Mrs Wellington mit einem Lächeln. »Ich weiß, dass viele Teilnehmer sehr gerne plaudern.«
Garrison atmete erleichtert auf, bis ihm bewusst wurde, dass Mrs Wellington gesagt hatte in der Vorstellung.
»Was meinen Sie mit in deiner Vorstellung?«, fragte Garrison und schwitzte noch mehr.
»Es gibt hier oben keinen Telefonanschluss, deshalb können Telefongespräche nur in der Vorstellung stattfinden.«
»Aber es gibt doch Telefone im Haus?«, stieß Garrison nervös hervor.
»Oh ja«, antwortete Mrs Wellington.
»Warum haben Sie Telefone, wenn es keine Anschlüsse gibt?«, wollte Theo wissen.
»Mir gefällt der Anblick von Telefonen«, sagte Mrs Wellington. »Und gelegentlich rufe ich mich an und frage nach, wie es mir geht.«
Garrison starrte die wunderliche alte Dame an.
»Haben Sie wenigstens einen Computer oder einen PDA? Also so was wie einen BlackBerry? Oder Sidekick? Irgendetwas in der Art?«, fragte Theo verzweifelt.
»Nichts dergleichen! Kein Fernsehen, keine Computer, keine Telefone! Die einzigen Zugeständnisse an die moderne Zeit sind fließendes Wasser und Elektrizität, und auch die habe ich nur installieren lassen, weil mir Ersteres erlaubt, meine Perücken zu waschen und Letzteres, sie zu trocknen. Also, meine Lieben«, fuhr sie fort, ohne die verdrossenen Gesichter der Kinder zu beachten, »solange ihr hier seid, möchte ich euch gut beschäftigt halten und mich zugleich damit vergnügen, dass wir so viel Zeit wie möglich im Angstlabor verbringen. Dafür sind wir ja schließlich hier, nicht wahr, Teilnehmer?«