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Jeder hat vor etwas Angst: Mottephobie ist die Angst vor Motten
Eine Glocke ist nicht einfach nur eine Glocke. Zwar ist sie unbestreitbar aus Metall gefertigt und in erster Linie zum Läuten da, aber das ist noch längst nicht alles. Sie birgt auch den Geschmack von gegrilltem Fleisch, das Gefühl sonnengebräunter Haut nach tagelangem Draußenspielen und den Chlorgeruch frisch gereinigter Schwimmbäder in sich. Sie verheißt Fußballspiele, Übernachtungen bei Freunden und Videospiel-Wettkämpfe, und all das ohne Unterbrechung durch Hausaufgaben. Kurz und knapp: Die Glocke ist das Tor zum Sommer.
In der Brunswick-Schule für Mädchen im piekfeinen Londoner Stadtteil Kensington wartete eine Gruppe von zwanzig Schülerinnen in Uniform auf das Zeichen, dass endlich das Schuljahr zu Ende war. Mit Verzweiflung in den Augen starrten die Mädchen auf die Uhr und sehnten das Läuten herbei. Viele kleine dunkelblaue Schuhe schlugen voller Ungeduld gegen die abgenutzten Stühle und übertönten die Stimme der Lehrerin.
Die Lehrerin zu missachten war ja nun keine neue Masche, aber an diesem besonderen Tag machten die Mädchen das so gekonnt wie die Garde vor dem Buckingham-Palast, jene Männer mit den flauschigen Bärenfellmützen, die unter keinen Umständen zu einer Reaktion zu bewegen sind. Immer frustrierter fragten sich die Mädchen, ob die Glocke vielleicht in Urlaub gegangen war. Angeblich hatte sie das schon öfter getan, vor allem während Prüfungen, Referaten und anderen lästigen schulischen Pflichten.
Unfug spukte neunzehn der zwanzig Mädchen im Kopf herum, aber in der letzten Reihe saß ein Mädchen, das seine ganze Willenskraft darauf richtete, dass die Glocke nicht läuten möge. Madeleine Masterson mit den rabenschwarzen Haaren hatte ihren Platz gezielt so gewählt, dass sie weder die Uhr noch die Glocke sehen konnte. Ihre blauen Augen huschten nervös hin und her, und sie murmelte unablässig zwei einfache Worte vor sich hin: »Läute nicht.«
Zum ersten Mal in ihrem kurzen Leben erfüllte sie der Beginn der Sommerferien mit nichts als Zittern und Zagen. Normalerweise genoss Madeleine die vielen ruhigen Sommernachmittage, die sie mit einem Buch, einem Puzzle oder einem Laptop mit Internetzugang im Wohnzimmer verbrachte. Madeleine war stolz darauf, dass sie sich überdurchschnittlich gut in der Weltpolitik auskannte. Die meisten Schülerinnen wussten nicht, wie der norwegische Premierminister hieß, nämlich Jens Stoltenberg, aber Madeleine wohl. Sie wusste auch die Namen des grönländischen Premierministers, Hans Enoksen, des isländischen Premiers, Geir Haarde, des mauretanischen Präsidenten, Sidi Ould Cheikh Abdallahi, des Präsidenten von Benin, Yayi Boni, und so weiter und konnte sie obendrein auch noch aussprechen. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass alle einhundertzweiundneunzig Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen ihr Interesse verdienten.
Madeleine hätte den Sommer liebend gerne in der Brunswick-Schule verbracht, hätte sie damit dem Plan ihrer Eltern für sie entrinnen können. Sie würde ihren Durst einfach am Trinkbrunnen löschen und ihre Nahrung aus dem Automaten holen. Sie musste nur dafür sorgen, dass sie genügend Kleingeld hatte. Die Idee nahm allmählich Gestalt an: Madeleine konnte die Bibliothek plündern, ganze Arme voll Bücher verschlingen, durch die Flure hüpfen und in der makellos sauberen Krankenstation schlafen. Ein Sommer in der Brunswick-Schule wäre rundum herrlich!
Leider wurde Madeleines inständige Bitte, die Glocke möge nicht läuten, nicht erhört, wie sich um genau 15 Uhr zeigte. Ein durchdringender Ton schrillte durch die weiten Räume der Brunswick-Schule und löste eine Massenflucht von Mädchen in schicken blau-weißen Uniformen aus. Ganz ähnlich wie die Stierhatz von Pamplona war dieses wilde Hinausstürmen aus der Schule eine gefährliche Sache. Zum Glück war das für die zwölfjährige Madeleine kein Thema. Schon seit Langem bestand sie darauf, zehn Minuten zu warten, bis die Kinder, Kindermädchen und Eltern vor der Schule das Feld geräumt hatten, ehe sie von ihrem Stuhl aufstand.
An diesem speziellen Tag fühlte sich Madeleine derart von Furcht überwältigt, dass sie noch ganze fünfundvierzig Minuten im Klassenzimmer blieb, ehe sie hinausging. Um sich die Zeit zu vertreiben, brachte sie im Geiste die Namensliste der Delegierten bei den Vereinten Nationen in alphabetische Ordnung. Madeleine wusste, dass ihre Mutter und der Chauffeur auf sie warteten, aber sie musste erst noch den Mut aufbringen, sich diesen Sommerferien zu stellen. Betrüblicherweise können nur wenige ihren Mut mit der gleichen Schnelligkeit mobilisieren, mit der sie ihre Angst wecken können. Und Madeleine war da keine Ausnahme.
Mrs Masterson, die ein gutes Gespür für ihre Tochter hatte, war auf die Verspätung gefasst gewesen und hatte sich die Herald Tribune zum Lesen mitgebracht. Zum Glück fand sie den feudalen Innenraum ihres Range Rovers, den der Chauffeur fuhr, erheblich bequemer als das Sofa in ihrem Wohnzimmer. Als sie alle wichtigen Artikel gelesen hatte, faltete Mrs Masterson die Zeitung gerade rechtzeitig zusammen, um mitzubekommen, wie Madeleine sich dem Hauptausgang des viktorianischen Schulgebäudes näherte. Mrs Masterson stieg aus, als ihre Tochter aus dem Halbdunkel hervortrat. Madeleine trug einen netzartigen Schleier vor dem Gesicht und war mit einem Spraydosen-Gürtel um die Taille bewaffnet. Während das Mädchen rasch auf seine Mutter zulief, sprühte es wild um sich.
»Hallo, Schatz, wie war es in der Schule?«
»Sehr gut, Mummy, danke der Nachfrage. Darf ich mich erkundigen, ob das Auto heute ausgesprüht worden ist?«
»Selbstverständlich, Maddie.«
»Ich hoffe, du schwindelst nicht, Mummy. Ich merke den Unterschied nämlich. Mein Geruchssinn ist sehr fein.«
»Schwindeln? Das ist ja lächerlich. Ich versichere dir, das Auto wurde heute schon gründlich ausgesprüht.«
»Vielen Dank, Mummy. Fragst du mich denn nicht, warum ich so spät komme?«
»Nein, Schätzchen.«
»Also, wenn du nichts dagegen hast, wäre ich sehr für einen Streit und anschließenden Hausarrest zu haben. Vielleicht einen, der den ganzen Sommer über dauert, oder falls nötig auch noch länger.«
»Hab keine Angst, Maddie, es ist wie ein Ferienlager«, sagte Mrs Masterson fröhlich.
»Das kenne ich aus dem Kino, Mummy! In Ferienlagern gibt es schlecht isolierte Hütten mit Spinnen, Tausendfüßlern und Kakerlaken, die überall auf mir herumkrabbeln. Ich kann den Sommer unmöglich in einer so verwahrlosten Umgebung verbringen!«
Madeleines heftige, zwanghafte Angst vor Spinnen, Käfern und Insekten aller Art machte ihren Eltern große Sorgen. Es war eine Angst, die sämtliche Bereiche von Madeleines Leben beeinträchtigte, von der Schule bis zu ihrer Nachtruhe. Am Abend betete Madeleine um eine spinnenfreie Nacht, ehe sie unter einen dichten Baldachin aus Moskitonetzen kroch. Sie war schon von Haus aus schüchtern. Und ihre Angst vor Spinnen und Käfern baute eine zusätzliche Barriere gegen freundschaftliche Kontakte auf.
Madeleine blieb oft zu Hause, weil sie nicht bereit war, sich in einem Gebäude aufzuhalten, das nicht jüngst von einem Kammerjäger ausgeräuchert worden war. Die Anwesenheit des Kammerjägers schenkten ihr das Gefühl von Wärme und Aufregung, mit dem die meisten Kinder nur Geburtstagsgeschenke und Ferienüberraschungen begrüßen. Leider waren nur wenige Eltern von Brunswick-Schülerinnen bereit, die kostspieligen und zeitaufwendigen Forderungen des Mädchens mit dem Schleier zu erfüllen.
Die Mastersons hatten sich bemüht, den Ursprung für Madeleines Ängste herauszufinden und zerbrachen sich den Kopf über mögliche traumatische Ereignisse, die mit Spinnen oder Käfern zu tun hatten. Aber sie fanden nie etwas heraus. Sie erinnerten sich, dass Madeleine schon an ihrem ersten Geburtstag beim Anblick eines Weberknechts bitterlich geweint hatte. Mit den Jahren wurde Madeleines Angst immer extremer und hysterischer, bis die Mastersons sich nicht mehr einreden konnten, sie sei eine ganz normale Entwicklungsphase der Kindheit.
Als Madeleine sechs war, steigerte sie sich in eine Panik mit wildem Herzrasen hinein, nachdem sie beobachtet hatte, wie ein Grashüpfer durch die Haustür hereingewitscht war. Sie hatte die fixe Idee, das zirpende Geschöpf würde ihr im Schlaf übers Gesicht kriechen. Der bloße Gedanke daran genügte, dass das Mädchen mit seinem ohnehin schwachen Magen vor Übelkeit umkippte. Innerhalb von Minuten stellte Madeleine ihren Eltern ein Ultimatum: entweder ausziehen oder Wilbur, den bewährten Kammerjäger, rufen.
Wilbur hatte schon so viele Nächte bei den Mastersons verbracht, dass sie nicht nur seine Telefonnummer auswendig kannten, sondern dass sie ihm auch Urlaubskarten schrieben. Er war wie ein Familienmitglied und der einzige Mensch auf der Welt, der Madeleines Angst etwas Positives abgewinnen konnte. Es war sehr fraglich, ob er sich ohne Madeleine jedes Jahr Urlaub auf der Insel Bora-Bora hätte leisten können. Als daher die Mastersons wegen des Grashüpfers anriefen, kam er bereitwillig. Es war eine schrecklich teure Angelegenheit, einen einzigen, armseligen Grashüpfer zu entfernen, aber Madeleine bestand darauf.
 
Vor der Brunswick-Schule machte sich Madeleine gerade bereit, ins Auto einzusteigen, als ihr ein Schauder über den Rücken lief. Instinktiv packte sie ihr Insektenspray und wollte abdrücken.
»Nicht schießen!«, bat eine schockierte Klassenkameradin und hob die Hände in Ich-ergebe-mich-Haltung über den Kopf.
»Tut mir leid, Samantha, ich wusste nicht, wer hinter mir ist«, antwortete Madeleine und senkte ihre Dose.
»Wann hat dir denn zuletzt eine Spinne auf die Schulter getippt? Also, wirklich, Madeleine!«, sagte Samantha entnervt. »Ich gebe morgen Nachmittag eine Party und wollte fragen, ob du vielleicht kommen möchtest.«
»Würde es dir schrecklich viel ausmachen, die Party bei mir zu Hause zu geben?«
»Wie bitte?«
»Könnten wir sie bei mir machen?«
»Dann denken alle, es sei deine Party.«
»Das stimmt wahrscheinlich. Wurde euer Haus in letzter Zeit ausgeräuchert?«
»Tut mir leid, Mum sagt, sie lässt es nicht noch einmal ausräuchern. Kannst du wenigstens auf ein Stück Pizza vorbeikommen?«
»Es tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass das klug wäre. Außerdem mag deine Mum ja den Geruch von Insektenspray nichts besonders.«
Mrs Masterson hörte den beiden zu und ihr Herz wurde bleischwer. Sie konnte nur hoffen, dass Madeleines Problem nach dem Sommer nicht mehr vorhanden war. So intelligent, höflich und freundlich Madeleine sonst auch war, wenn es um Spinnen oder Insekten ging, rastete sie aus.
Vor einigen Monaten war Mrs Masterson gezwungen gewesen, sich Madeleines Tick zu stellen, als sie um eine Entschuldigung bat, die sie vom Turnunterricht in der Schule befreien sollte.
»Mummy, bitte schreib einen Brief an Mrs Anderson und erkläre ihr, dass ich nicht im Freien spielen kann, weil ich mir ein fleischfressendes Virus zugezogen habe.«
»Im Haus ist das Virus kein Problem? Nur draußen?«, fragte Mrs Masterson amüsiert.
»Mummy, das Virus ernährt sich von den UV-Strahlen der Sonne.«
»Du musst dir doch bestimmt keine so extreme Krankheit aussuchen, um zu verhindern, dass du draußen spielen musst. Wie wäre es mit so was wie einer Erkältung? Ich will nicht, dass die Schule wieder das Gesundheitsamt anruft.«
»Mummy, musst du das unbedingt noch mal zur Sprache bringen? Ich hatte keine Ahnung, dass es Maul- und Klauenseuche wirklich gibt. Ich wurde in die Enge getrieben und es fiel mir einfach so ein.«
»Fleischfressende Viren gibt es auch in Wirklichkeit, Maddie.«
»Ja, Mummy, aber Mrs Anderson hat mir keine andere Wahl gelassen. Sie sagte, wenn ich nicht gerade einen fleischfressenden Virus hätte, müsste ich draußen spielen.«
»Maddie, meinst du nicht, es wäre einfacher, draußen zu spielen?«
»Mummy, ich will nicht frech sein, aber ich hätte wirklich lieber einen fleischfressenden Virus, als ins Freie zu gehen.«
Mr und Mrs Masterson hatten es mit herkömmlicher Therapie und Hypnose versucht, um Madeleines stärker werdende Ängste zu besiegen, aber beides blieb erfolglos. Der Therpeut und der Hypnotiseur glaubten, Madeleines Angst vor Spinnen hätte sich schon in eine Phobie verwandelt, in Arachnophobie. Aber die Angst mit einem Namen zu versehen, trug natürlich nicht dazu bei, sie zu lindern.
Als Mrs Anderson Madeleine verbot, mit ihrem Schleier und ihren Sprühdosen in die Schule zu kommen, inszenierte Madeleine ihre eigene Entführung.
Eine Stunde nach der Entdeckung der Lösegeldforderung in der Küche fand Mrs Masterson Madeleine fest in Moskitonetze eingewickelt auf dem Boden ihres Wandschranks.
»Madeleine, was machst du denn da unten?«
»Mummy, ich bin entführt worden. Würde es dir etwas ausmachen, später wiederzukommen?«
»Wie bitte, Schatz? Wer genau hat dich entführt?«
»Es war niemand da, deshalb musste ich mich selbst entführen.«
Mrs Masterson nickte und fragte dann: »Gibt es einen speziellen Grund für die Entführung?«
»Diese verrückte, übergeschnappte Mrs Anderson will mich zwingen, ohne meinen Schleier und meine Sprühdosen in die Schule zu kommen. Das ist eine grausame und unübliche Strafe. Ich glaube, ich sollte einen Anwalt konsultieren«, sagte Madeleine.
»Also ehrlich, Schatz, es gibt in ganz England keinen Anwalt, der deinen Fall übernehmen würde. Nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass du ernsthaft geplant haben solltest, rechtliche Schritte einzuleiten.«
»Mummy, ich habe keine Zeit, darüber zu diskutieren: Ich bin entführt worden.«
»Wenn ich mit Mrs Anderson spreche und sie dazu bewege, dass du deinen Schleier und deine Insektenabwehrmittel behalten darfst, erklärst du die Entführung dann für beendet?«
»Hm, vielleicht schon. Aber du musst trotzdem noch das Lösegeld bezahlen. Es beträgt fünf Pfund.«
»Die habe ich jetzt nicht bei mir, aber ich kann sie unten bei deinem Vater holen. Kommst du jetzt im Vertrauen darauf heraus?«
Kurz nach dem großen Schrecken über die Entführung lud die Schulpsychologin, Mrs Kleiner, Mr und Mrs Masterson zu einem vertraulichen Gepräch in ihr Büro ein. Dort gab es nicht, wie Mr Masterson vorhergesagt hatte, ein bequemes Sofa, sondern vielmehr zwei sehr unbequeme barocke Stühle. Mrs Kleiner machte die Zimmertür zu, schloss sie ab und legte ein Handtuch vor den Spalt am Boden. Mrs Masterson hatte erst einmal gesehen, dass jemand so etwas machte, und zwar um bei einem Brand den Rauch fernzuhalten. Als sie gerade fragen wollte, ob es einen Grund für das Handtuch gebe, schaltete Mrs Kleiner auch noch das Radio ein. Die grauhaarige Psychologin nahm ihre ovale Brille ab und tupfte sich den Schweiß von der Oberlippe, ehe sie etwas sagte.
»Vielen Dank, dass Sie heute hergekommen sind. Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen«, sagte Mrs Kleiner leise.
»Wir freuen uns sehr, dass Sie sich um Maddies Wohlergehen sorgen«, antwortete Mrs Masterson.
Mrs Kleiner nickte nervös, ehe sie ihre Geschichte begann: »Vor ungefähr zwanzig Jahren habe ich meine Nichte, Eugenia, zu einem ungewöhnlichen Kurs angemeldet. Denn immer, wenn sie einem Hund begegnete, wurde sie starr vor Angst. Kam ein Hund in Sicht, fiel sie augenblicklich in Ohnmacht. Sie konnte mitten auf der Straße sein, und bums, lag sie mit dem Gesicht nach unten auf dem Asphalt, während Taxis und Lastwagen auf sie zurasten. Und all das nur, weil in der Ferne ein kleiner weißer Pudel des Weges kam.«
»Wie schrecklich!«, rief Mrs Masterson aus.
»Ich habe mir nie viel aus Pudeln gemacht«, sagte Mr Masterson zerstreut.
Die beiden Frauen entschieden sich, seinen Kommentar zu übergehen und das Gespräch fortzusetzen.
»Wir brauchten etwas Durchschlagendes für Eugenias Phobie, das aber auch nachweislich erfolgreich war, und diese Kombination ist nicht leicht zu finden. Erst nach langen Nachforschungen haben wir genau das gefunden.«
»Das freut mich aber sehr. Was war es?«, fragte Mrs Masterson.
Mrs Kleiner blickte nach rechts und nach links und flüsterte dann: »Das Phobinasium.«
»Das Phobi … was?«, fragte Mr Masterson.
»Psst! Sie dürfen den Namen nicht laut aussprechen. Sie dürfen niemandem sagen, was ich Ihnen gleich offenbaren werde. Es ist von größter Wichtigkeit, dass die Einzelheiten des Programms im Dunkeln bleiben, damit die Schüler die bestmögliche Chance für eine Gesundung haben.«
»Mrs Kleiner, ist das eine Schule oder Scotland Yard?«, fragte Mr Masterson in scherzhaftem Ton.
»Mr Masterson, das ist eine Schule, die anders ist als jede andere und die daher äußerste Diskretion verlangt. Sind Sie beide bereit, Madeleine zuliebe dieses Opfer zu bringen?«, fragte Mrs Kleiner streng. »Denn wenn nicht, stelle ich das Radio ab, nehme das Handtuch vor der Tür weg und höre auf zu flüstern. Zu meiner Partie Backgammon komme ich sowieso schon zu spät. Wenn Ihnen nicht ernstlich an Hilfe für Madeleine gelegen ist, sagen Sie es lieber gleich.«
»Natürlich liegt uns ernstlich daran, unserer Tochter zu helfen«, antwortete Mrs Masterson und blickte dabei beschwörend ihren Mann an. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, welche Sorgen wir uns allein schon um ihre Lungen machen. Das viele Insektenspray kann nicht gesund für sie sein. Sie wacht jede Nacht dreibis fünfmal auf und sprüht nach.«
»Sind Sie ganz sicher, dass Sie schweigen können?«, fragte Mrs Kleiner und starrte ihnen dabei kalt in die Augen.
»Wir sind sicher«, antworteten die Mastersons.
Daraufhin erklärte ihnen Mrs Kleiner: »Das Phobinasium ist eine außerordentlich exklusive Einrichtung, eine Schule gegen Angst, geleitet von der niemals in Erscheinung tretenden Mrs Wellington. Die Auswahl der Schüler ist so streng, dass nur wenige Menschen überhaupt von seiner Existenz wissen. Wenn man einen Briefträger, einen Gemüsehändler, eine Telefonistin oder einen Richter nach dem Phobinasium fragt, können sie einem nichts sagen. Die Öffentlichkeit hat keine Ahnung, dass es einen solchen Ort gibt, weil die handverlesene Gruppe der eingeweihten Eltern, Ärzte und Lehrer sorgsam darüber wacht, dass die Anonymität der Institution gewahrt bleibt. Diese Gruppe hat das Recht, nach eigenem Ermessen Kandidaten vorzuschlagen, da Mrs Wellington ein persönliches Empfehlungsschreiben verlangt, um die Zulassung eines Schülers auch nur zu erwägen.
Ebenfalls im Geheimen, wie es der Natur der Schule entspricht, wird der Hintergrund der Kandidaten und ihrer Familien gründlich ausgeleuchtet. Es werden so umfassende Erkundigungen eingezogen, dass Mrs Wellington häufig Dinge erfährt, die man kaum für denkbar hält: angefangen beim heimlichen Teignaschen im Vorschulalter bis hin zum falschen Buchstabieren des eigenen Nachnamens in der zweiten Klasse.
Hat Mrs Wellington alle wichtigen Informationen über den Bewerber und seine Familie erhalten, verlangt sie einen Bericht von nicht weniger als tausend Wörtern Länge, in dem die Ängste des Kindes in allen Einzelheiten geschildert werden sowie die herkömmlichen Behandlungsmethoden aufgelistet sind, die nicht geholfen haben. Für Grammatikfehler, Rechtschreibfehler und unleserliche Schrift werden Punkte abgezogen. In dem Antrag steht ausdrücklich, dass alle Berichte von Hand geschrieben werden müssen, da Mrs Wellington von zweifelhaften technischen Hilfsmitteln wie Schreibmaschinen und Computern nichts hält.«
Einen solchen Papierkrieg hatten die Mastersons bisher nur beim Wechseln ihrer Krankenversicherung erlebt. Es wurden Fingerabdrücke genommen und umfangreiche Tests mit befremdlichen Namen gemacht, wie etwa »Standardisierter Test auf Geisteskrankheit im Kindesalter« und »Untersuchung auf Persönlichkeitsstörungen«.
Es war ein ziemlicher Kraftakt, alles zusammenzutragen, was der ausgeklügelte Antrag verlangte, wenn man bedenkt, dass alles mit der Post erledigt werden musste. Mrs Wellington wollte die Identität ihrer Angestellten nicht vor einer Aufnahme der Schüler bekanntgeben. Während die Bewerber über Mrs Wellington im Dunkeln gelassen wurden, sorgte sie mithilfe ihrer Privatdetektive dafür, dass nichts ihrer Aufmerksamkeit entging.
Erfuhr Mrs Wellington während des Antragsverfahrens, dass Bewerber nicht dichthielten, wurden sie augenblicklich disqualifiziert und bekamen eine strenge Verwarnung von Mrs Wellingtons persönlichem Anwalt bei Munchhauser & Sohn. Wie allseits bekannt war, machte mit Munchhauser niemand Mätzchen, wirklich niemand.
Viele ehemalige Schüler wurden zu angesehenen Mitgliedern der Gesellschaft, ohne je ein einziges Wort über ihre Tage im Phobinasium verlauten zu lassen. Das Schweigegelöbnis ruhte auf zwei Pfeilern: auf höchster Loyalität gegenüber Mrs Wellington und der Angst vor dem Zorn des berüchtigten Munchhausers.
Leonard Munchhauser senior war bekannt für seine Bösartigkeit, seine Gnadenlosigkeit und sein kaltes Herz - auch gegenüber seiner eigenen Familie. Man erzählte sich, er hätte einmal seinem Sohn Haar für Haar die Augenbrauen ausgerissen, als Strafe dafür, dass er Milch verschüttet hatte. Das Schlimmste daran war, dass Munchhauser juniors Augenbrauen dadurch dauerhaften Schaden nahmen und nur noch büschelweise und unregelmäßig nachwuchsen. So grausam das auch gewesen sein mochte, verblasste es doch im Vergleich mit den niederträchtign Taktiken, mit denen Munchhauser senior seine Klienten schützte. Und kein Klient war ihm wichtiger als Mrs Wellington und das Phobinasium.