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Jeder hat vor etwas Angst: Mottephobie ist
die Angst vor Motten
Eine Glocke ist nicht einfach
nur eine Glocke. Zwar ist sie unbestreitbar aus Metall gefertigt
und in erster Linie zum Läuten da, aber das ist noch längst nicht
alles. Sie birgt auch den Geschmack von gegrilltem Fleisch, das
Gefühl sonnengebräunter Haut nach tagelangem Draußenspielen und den
Chlorgeruch frisch gereinigter Schwimmbäder in sich. Sie verheißt
Fußballspiele, Übernachtungen bei Freunden und
Videospiel-Wettkämpfe, und all das ohne Unterbrechung durch
Hausaufgaben. Kurz und knapp: Die Glocke ist das Tor zum
Sommer.
In der Brunswick-Schule für Mädchen im piekfeinen
Londoner Stadtteil Kensington wartete eine Gruppe von zwanzig
Schülerinnen in Uniform auf das Zeichen, dass endlich das Schuljahr
zu Ende war. Mit Verzweiflung in den Augen starrten die Mädchen auf
die Uhr und sehnten das Läuten herbei. Viele kleine dunkelblaue
Schuhe schlugen voller Ungeduld gegen die abgenutzten Stühle und
übertönten die Stimme der Lehrerin.
Die Lehrerin zu missachten war ja nun keine neue
Masche, aber an diesem besonderen Tag machten die Mädchen das so
gekonnt wie die Garde vor dem Buckingham-Palast, jene Männer mit
den flauschigen Bärenfellmützen, die unter keinen Umständen zu
einer Reaktion zu bewegen sind. Immer frustrierter fragten sich die
Mädchen, ob die Glocke vielleicht in Urlaub gegangen war. Angeblich
hatte sie das schon öfter getan, vor allem während Prüfungen,
Referaten und anderen lästigen schulischen Pflichten.
Unfug spukte neunzehn der zwanzig Mädchen im Kopf
herum, aber in der letzten Reihe saß ein Mädchen, das seine ganze
Willenskraft darauf richtete, dass die Glocke nicht läuten
möge. Madeleine Masterson mit den rabenschwarzen Haaren hatte ihren
Platz gezielt so gewählt, dass sie weder die Uhr noch die Glocke
sehen konnte. Ihre blauen Augen huschten nervös hin und her, und
sie murmelte unablässig zwei einfache Worte vor sich hin: »Läute
nicht.«
Zum ersten Mal in ihrem kurzen Leben erfüllte sie
der Beginn der Sommerferien mit nichts als Zittern und Zagen.
Normalerweise genoss Madeleine die vielen ruhigen
Sommernachmittage, die sie mit einem Buch, einem Puzzle oder einem
Laptop mit Internetzugang
im Wohnzimmer verbrachte. Madeleine war stolz darauf, dass sie
sich überdurchschnittlich gut in der Weltpolitik auskannte. Die
meisten Schülerinnen wussten nicht, wie der norwegische
Premierminister hieß, nämlich Jens Stoltenberg, aber Madeleine
wohl. Sie wusste auch die Namen des grönländischen
Premierministers, Hans Enoksen, des isländischen Premiers, Geir
Haarde, des mauretanischen Präsidenten, Sidi Ould Cheikh Abdallahi,
des Präsidenten von Benin, Yayi Boni, und so weiter und konnte sie
obendrein auch noch aussprechen. Sie war felsenfest davon
überzeugt, dass alle einhundertzweiundneunzig Mitgliedsstaaten der
Vereinten Nationen ihr Interesse verdienten.
Madeleine hätte den Sommer liebend gerne in der
Brunswick-Schule verbracht, hätte sie damit dem Plan ihrer Eltern
für sie entrinnen können. Sie würde ihren Durst einfach am
Trinkbrunnen löschen und ihre Nahrung aus dem Automaten holen. Sie
musste nur dafür sorgen, dass sie genügend Kleingeld hatte. Die
Idee nahm allmählich Gestalt an: Madeleine konnte die Bibliothek
plündern, ganze Arme voll Bücher verschlingen, durch die Flure
hüpfen und in der makellos sauberen Krankenstation schlafen. Ein
Sommer in der Brunswick-Schule wäre rundum herrlich!
Leider wurde Madeleines inständige Bitte, die
Glocke möge nicht läuten, nicht erhört, wie sich um genau 15 Uhr
zeigte. Ein durchdringender Ton schrillte durch die
weiten Räume der Brunswick-Schule und löste eine Massenflucht von
Mädchen in schicken blau-weißen Uniformen aus. Ganz ähnlich wie die
Stierhatz von Pamplona war dieses wilde Hinausstürmen aus der
Schule eine gefährliche Sache. Zum Glück war das für die
zwölfjährige Madeleine kein Thema. Schon seit Langem bestand sie
darauf, zehn Minuten zu warten, bis die Kinder, Kindermädchen und
Eltern vor der Schule das Feld geräumt hatten, ehe sie von ihrem
Stuhl aufstand.
An diesem speziellen Tag fühlte sich Madeleine
derart von Furcht überwältigt, dass sie noch ganze fünfundvierzig
Minuten im Klassenzimmer blieb, ehe sie hinausging. Um sich die
Zeit zu vertreiben, brachte sie im Geiste die Namensliste der
Delegierten bei den Vereinten Nationen in alphabetische Ordnung.
Madeleine wusste, dass ihre Mutter und der Chauffeur auf sie
warteten, aber sie musste erst noch den Mut aufbringen, sich diesen
Sommerferien zu stellen. Betrüblicherweise können nur wenige ihren
Mut mit der gleichen Schnelligkeit mobilisieren, mit der sie ihre
Angst wecken können. Und Madeleine war da keine Ausnahme.
Mrs Masterson, die ein gutes Gespür für ihre
Tochter hatte, war auf die Verspätung gefasst gewesen und hatte
sich die Herald Tribune zum Lesen mitgebracht. Zum Glück
fand sie den feudalen Innenraum ihres Range Rovers, den der
Chauffeur fuhr, erheblich bequemer als das Sofa in ihrem
Wohnzimmer. Als sie alle
wichtigen Artikel gelesen hatte, faltete Mrs Masterson die Zeitung
gerade rechtzeitig zusammen, um mitzubekommen, wie Madeleine sich
dem Hauptausgang des viktorianischen Schulgebäudes näherte. Mrs
Masterson stieg aus, als ihre Tochter aus dem Halbdunkel
hervortrat. Madeleine trug einen netzartigen Schleier vor dem
Gesicht und war mit einem Spraydosen-Gürtel um die Taille
bewaffnet. Während das Mädchen rasch auf seine Mutter zulief,
sprühte es wild um sich.
»Hallo, Schatz, wie war es in der Schule?«
»Sehr gut, Mummy, danke der Nachfrage. Darf ich
mich erkundigen, ob das Auto heute ausgesprüht worden ist?«
»Selbstverständlich, Maddie.«
»Ich hoffe, du schwindelst nicht, Mummy. Ich merke
den Unterschied nämlich. Mein Geruchssinn ist sehr fein.«
»Schwindeln? Das ist ja lächerlich. Ich versichere
dir, das Auto wurde heute schon gründlich ausgesprüht.«
»Vielen Dank, Mummy. Fragst du mich denn nicht,
warum ich so spät komme?«
»Nein, Schätzchen.«
»Also, wenn du nichts dagegen hast, wäre ich sehr
für einen Streit und anschließenden Hausarrest zu haben. Vielleicht
einen, der den ganzen Sommer über dauert, oder falls nötig auch
noch länger.«
»Hab keine Angst, Maddie, es ist wie ein
Ferienlager«, sagte Mrs Masterson fröhlich.
»Das kenne ich aus dem Kino, Mummy! In Ferienlagern
gibt es schlecht isolierte Hütten mit Spinnen, Tausendfüßlern und
Kakerlaken, die überall auf mir herumkrabbeln. Ich kann den Sommer
unmöglich in einer so verwahrlosten Umgebung verbringen!«
Madeleines heftige, zwanghafte Angst vor Spinnen,
Käfern und Insekten aller Art machte ihren Eltern große Sorgen. Es
war eine Angst, die sämtliche Bereiche von Madeleines Leben
beeinträchtigte, von der Schule bis zu ihrer Nachtruhe. Am Abend
betete Madeleine um eine spinnenfreie Nacht, ehe sie unter einen
dichten Baldachin aus Moskitonetzen kroch. Sie war schon von Haus
aus schüchtern. Und ihre Angst vor Spinnen und Käfern baute eine
zusätzliche Barriere gegen freundschaftliche Kontakte auf.
Madeleine blieb oft zu Hause, weil sie nicht bereit
war, sich in einem Gebäude aufzuhalten, das nicht jüngst von einem
Kammerjäger ausgeräuchert worden war. Die Anwesenheit des
Kammerjägers schenkten ihr das Gefühl von Wärme und Aufregung, mit
dem die meisten Kinder nur Geburtstagsgeschenke und
Ferienüberraschungen begrüßen. Leider waren nur wenige Eltern von
Brunswick-Schülerinnen bereit, die kostspieligen und
zeitaufwendigen Forderungen des Mädchens mit dem Schleier zu
erfüllen.
Die Mastersons hatten sich bemüht, den Ursprung für
Madeleines Ängste herauszufinden und zerbrachen sich den Kopf über
mögliche traumatische Ereignisse,
die mit Spinnen oder Käfern zu tun hatten. Aber sie fanden nie
etwas heraus. Sie erinnerten sich, dass Madeleine schon an ihrem
ersten Geburtstag beim Anblick eines Weberknechts bitterlich
geweint hatte. Mit den Jahren wurde Madeleines Angst immer extremer
und hysterischer, bis die Mastersons sich nicht mehr einreden
konnten, sie sei eine ganz normale Entwicklungsphase der
Kindheit.
Als Madeleine sechs war, steigerte sie sich in eine
Panik mit wildem Herzrasen hinein, nachdem sie beobachtet hatte,
wie ein Grashüpfer durch die Haustür hereingewitscht war. Sie hatte
die fixe Idee, das zirpende Geschöpf würde ihr im Schlaf übers
Gesicht kriechen. Der bloße Gedanke daran genügte, dass das Mädchen
mit seinem ohnehin schwachen Magen vor Übelkeit umkippte. Innerhalb
von Minuten stellte Madeleine ihren Eltern ein Ultimatum: entweder
ausziehen oder Wilbur, den bewährten Kammerjäger, rufen.
Wilbur hatte schon so viele Nächte bei den
Mastersons verbracht, dass sie nicht nur seine Telefonnummer
auswendig kannten, sondern dass sie ihm auch Urlaubskarten
schrieben. Er war wie ein Familienmitglied und der einzige Mensch
auf der Welt, der Madeleines Angst etwas Positives abgewinnen
konnte. Es war sehr fraglich, ob er sich ohne Madeleine jedes Jahr
Urlaub auf der Insel Bora-Bora hätte leisten können. Als daher die
Mastersons wegen des Grashüpfers
anriefen, kam er bereitwillig. Es war eine schrecklich teure
Angelegenheit, einen einzigen, armseligen Grashüpfer zu entfernen,
aber Madeleine bestand darauf.
Vor der Brunswick-Schule machte sich Madeleine
gerade bereit, ins Auto einzusteigen, als ihr ein Schauder über den
Rücken lief. Instinktiv packte sie ihr Insektenspray und wollte
abdrücken.
»Nicht schießen!«, bat eine schockierte
Klassenkameradin und hob die Hände in Ich-ergebe-mich-Haltung über
den Kopf.
»Tut mir leid, Samantha, ich wusste nicht, wer
hinter mir ist«, antwortete Madeleine und senkte ihre Dose.
»Wann hat dir denn zuletzt eine Spinne auf die
Schulter getippt? Also, wirklich, Madeleine!«, sagte Samantha
entnervt. »Ich gebe morgen Nachmittag eine Party und wollte fragen,
ob du vielleicht kommen möchtest.«
»Würde es dir schrecklich viel ausmachen, die Party
bei mir zu Hause zu geben?«
»Wie bitte?«
»Könnten wir sie bei mir machen?«
»Dann denken alle, es sei deine
Party.«
»Das stimmt wahrscheinlich. Wurde euer Haus in
letzter Zeit ausgeräuchert?«
»Tut mir leid, Mum sagt, sie lässt es nicht noch
einmal ausräuchern. Kannst du wenigstens auf ein Stück Pizza
vorbeikommen?«
»Es tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass das
klug wäre. Außerdem mag deine Mum ja den Geruch von Insektenspray
nichts besonders.«
Mrs Masterson hörte den beiden zu und ihr Herz
wurde bleischwer. Sie konnte nur hoffen, dass Madeleines Problem
nach dem Sommer nicht mehr vorhanden war. So intelligent, höflich
und freundlich Madeleine sonst auch war, wenn es um Spinnen oder
Insekten ging, rastete sie aus.
Vor einigen Monaten war Mrs Masterson gezwungen
gewesen, sich Madeleines Tick zu stellen, als sie um eine
Entschuldigung bat, die sie vom Turnunterricht in der Schule
befreien sollte.
»Mummy, bitte schreib einen Brief an Mrs Anderson
und erkläre ihr, dass ich nicht im Freien spielen kann, weil ich
mir ein fleischfressendes Virus zugezogen habe.«
»Im Haus ist das Virus kein Problem? Nur draußen?«,
fragte Mrs Masterson amüsiert.
»Mummy, das Virus ernährt sich von den UV-Strahlen
der Sonne.«
»Du musst dir doch bestimmt keine so extreme
Krankheit aussuchen, um zu verhindern, dass du draußen spielen
musst. Wie wäre es mit so was wie einer Erkältung? Ich will nicht,
dass die Schule wieder das Gesundheitsamt anruft.«
»Mummy, musst du das unbedingt noch mal zur Sprache
bringen? Ich hatte keine Ahnung, dass es
Maul- und Klauenseuche wirklich gibt. Ich wurde in die Enge
getrieben und es fiel mir einfach so ein.«
»Fleischfressende Viren gibt es auch in
Wirklichkeit, Maddie.«
»Ja, Mummy, aber Mrs Anderson hat mir keine andere
Wahl gelassen. Sie sagte, wenn ich nicht gerade einen
fleischfressenden Virus hätte, müsste ich draußen spielen.«
»Maddie, meinst du nicht, es wäre einfacher,
draußen zu spielen?«
»Mummy, ich will nicht frech sein, aber ich hätte
wirklich lieber einen fleischfressenden Virus, als ins Freie zu
gehen.«
Mr und Mrs Masterson hatten es mit herkömmlicher
Therapie und Hypnose versucht, um Madeleines stärker werdende
Ängste zu besiegen, aber beides blieb erfolglos. Der Therpeut und
der Hypnotiseur glaubten, Madeleines Angst vor Spinnen hätte sich
schon in eine Phobie verwandelt, in Arachnophobie. Aber die Angst
mit einem Namen zu versehen, trug natürlich nicht dazu bei, sie zu
lindern.
Als Mrs Anderson Madeleine verbot, mit ihrem
Schleier und ihren Sprühdosen in die Schule zu kommen, inszenierte
Madeleine ihre eigene Entführung.
Eine Stunde nach der Entdeckung der
Lösegeldforderung in der Küche fand Mrs Masterson Madeleine fest in
Moskitonetze eingewickelt auf dem Boden ihres Wandschranks.
»Madeleine, was machst du denn da unten?«
»Mummy, ich bin entführt worden. Würde es dir etwas
ausmachen, später wiederzukommen?«
»Wie bitte, Schatz? Wer genau hat dich
entführt?«
»Es war niemand da, deshalb musste ich mich selbst
entführen.«
Mrs Masterson nickte und fragte dann: »Gibt es
einen speziellen Grund für die Entführung?«
»Diese verrückte, übergeschnappte Mrs Anderson will
mich zwingen, ohne meinen Schleier und meine Sprühdosen in die
Schule zu kommen. Das ist eine grausame und unübliche Strafe. Ich
glaube, ich sollte einen Anwalt konsultieren«, sagte
Madeleine.
»Also ehrlich, Schatz, es gibt in ganz England
keinen Anwalt, der deinen Fall übernehmen würde. Nur für den
unwahrscheinlichen Fall, dass du ernsthaft geplant haben
solltest, rechtliche Schritte einzuleiten.«
»Mummy, ich habe keine Zeit, darüber zu
diskutieren: Ich bin entführt worden.«
»Wenn ich mit Mrs Anderson spreche und sie dazu
bewege, dass du deinen Schleier und deine Insektenabwehrmittel
behalten darfst, erklärst du die Entführung dann für
beendet?«
»Hm, vielleicht schon. Aber du musst trotzdem noch
das Lösegeld bezahlen. Es beträgt fünf Pfund.«
»Die habe ich jetzt nicht bei mir, aber ich kann
sie unten bei deinem Vater holen. Kommst du jetzt im Vertrauen
darauf heraus?«
Kurz nach dem großen Schrecken über die Entführung
lud die Schulpsychologin, Mrs Kleiner, Mr und Mrs Masterson zu
einem vertraulichen Gepräch in ihr Büro ein. Dort gab es nicht, wie
Mr Masterson vorhergesagt hatte, ein bequemes Sofa, sondern
vielmehr zwei sehr unbequeme barocke Stühle. Mrs Kleiner machte die
Zimmertür zu, schloss sie ab und legte ein Handtuch vor den Spalt
am Boden. Mrs Masterson hatte erst einmal gesehen, dass jemand so
etwas machte, und zwar um bei einem Brand den Rauch fernzuhalten.
Als sie gerade fragen wollte, ob es einen Grund für das Handtuch
gebe, schaltete Mrs Kleiner auch noch das Radio ein. Die
grauhaarige Psychologin nahm ihre ovale Brille ab und tupfte sich
den Schweiß von der Oberlippe, ehe sie etwas sagte.
»Vielen Dank, dass Sie heute hergekommen sind. Ich
habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen«, sagte Mrs Kleiner
leise.
»Wir freuen uns sehr, dass Sie sich um Maddies
Wohlergehen sorgen«, antwortete Mrs Masterson.
Mrs Kleiner nickte nervös, ehe sie ihre Geschichte
begann: »Vor ungefähr zwanzig Jahren habe ich meine Nichte,
Eugenia, zu einem ungewöhnlichen Kurs angemeldet. Denn immer, wenn
sie einem Hund begegnete, wurde sie starr vor Angst. Kam ein Hund
in Sicht, fiel sie augenblicklich in Ohnmacht. Sie konnte mitten
auf der Straße sein, und bums, lag sie mit dem Gesicht nach unten
auf dem Asphalt, während Taxis und
Lastwagen auf sie zurasten. Und all das nur, weil in der Ferne ein
kleiner weißer Pudel des Weges kam.«
»Wie schrecklich!«, rief Mrs Masterson aus.
»Ich habe mir nie viel aus Pudeln gemacht«, sagte
Mr Masterson zerstreut.
Die beiden Frauen entschieden sich, seinen
Kommentar zu übergehen und das Gespräch fortzusetzen.
»Wir brauchten etwas Durchschlagendes für Eugenias
Phobie, das aber auch nachweislich erfolgreich war, und diese
Kombination ist nicht leicht zu finden. Erst nach langen
Nachforschungen haben wir genau das gefunden.«
»Das freut mich aber sehr. Was war es?«, fragte Mrs
Masterson.
Mrs Kleiner blickte nach rechts und nach links und
flüsterte dann: »Das Phobinasium.«
»Das Phobi … was?«, fragte Mr
Masterson.
»Psst! Sie dürfen den Namen nicht laut aussprechen.
Sie dürfen niemandem sagen, was ich Ihnen gleich offenbaren werde.
Es ist von größter Wichtigkeit, dass die Einzelheiten des Programms
im Dunkeln bleiben, damit die Schüler die bestmögliche Chance für
eine Gesundung haben.«
»Mrs Kleiner, ist das eine Schule oder Scotland
Yard?«, fragte Mr Masterson in scherzhaftem Ton.
»Mr Masterson, das ist eine Schule, die anders ist
als jede andere und die daher äußerste Diskretion verlangt. Sind
Sie beide bereit, Madeleine zuliebe dieses
Opfer zu bringen?«, fragte Mrs Kleiner streng. »Denn wenn nicht,
stelle ich das Radio ab, nehme das Handtuch vor der Tür weg und
höre auf zu flüstern. Zu meiner Partie Backgammon komme ich sowieso
schon zu spät. Wenn Ihnen nicht ernstlich an Hilfe für Madeleine
gelegen ist, sagen Sie es lieber gleich.«
»Natürlich liegt uns ernstlich daran, unserer
Tochter zu helfen«, antwortete Mrs Masterson und blickte dabei
beschwörend ihren Mann an. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, welche
Sorgen wir uns allein schon um ihre Lungen machen. Das viele
Insektenspray kann nicht gesund für sie sein. Sie wacht jede Nacht
dreibis fünfmal auf und sprüht nach.«
»Sind Sie ganz sicher, dass Sie schweigen können?«,
fragte Mrs Kleiner und starrte ihnen dabei kalt in die Augen.
»Wir sind sicher«, antworteten die
Mastersons.
Daraufhin erklärte ihnen Mrs Kleiner: »Das
Phobinasium ist eine außerordentlich exklusive Einrichtung, eine
Schule gegen Angst, geleitet von der niemals in Erscheinung
tretenden Mrs Wellington. Die Auswahl der Schüler ist so streng,
dass nur wenige Menschen überhaupt von seiner Existenz wissen. Wenn
man einen Briefträger, einen Gemüsehändler, eine Telefonistin oder
einen Richter nach dem Phobinasium fragt, können sie einem nichts
sagen. Die Öffentlichkeit hat keine Ahnung, dass es einen solchen
Ort gibt, weil die handverlesene Gruppe der eingeweihten Eltern,
Ärzte
und Lehrer sorgsam darüber wacht, dass die Anonymität der
Institution gewahrt bleibt. Diese Gruppe hat das Recht, nach
eigenem Ermessen Kandidaten vorzuschlagen, da Mrs Wellington ein
persönliches Empfehlungsschreiben verlangt, um die Zulassung eines
Schülers auch nur zu erwägen.
Ebenfalls im Geheimen, wie es der Natur der Schule
entspricht, wird der Hintergrund der Kandidaten und ihrer Familien
gründlich ausgeleuchtet. Es werden so umfassende Erkundigungen
eingezogen, dass Mrs Wellington häufig Dinge erfährt, die man kaum
für denkbar hält: angefangen beim heimlichen Teignaschen im
Vorschulalter bis hin zum falschen Buchstabieren des eigenen
Nachnamens in der zweiten Klasse.
Hat Mrs Wellington alle wichtigen Informationen
über den Bewerber und seine Familie erhalten, verlangt sie einen
Bericht von nicht weniger als tausend Wörtern Länge, in dem die
Ängste des Kindes in allen Einzelheiten geschildert werden sowie
die herkömmlichen Behandlungsmethoden aufgelistet sind, die nicht
geholfen haben. Für Grammatikfehler, Rechtschreibfehler und
unleserliche Schrift werden Punkte abgezogen. In dem Antrag steht
ausdrücklich, dass alle Berichte von Hand geschrieben werden
müssen, da Mrs Wellington von zweifelhaften technischen
Hilfsmitteln wie Schreibmaschinen und Computern nichts hält.«
Einen solchen Papierkrieg hatten die Mastersons
bisher nur beim Wechseln ihrer Krankenversicherung erlebt. Es
wurden Fingerabdrücke genommen und umfangreiche Tests mit
befremdlichen Namen gemacht, wie etwa »Standardisierter Test auf
Geisteskrankheit im Kindesalter« und »Untersuchung auf
Persönlichkeitsstörungen«.
Es war ein ziemlicher Kraftakt, alles
zusammenzutragen, was der ausgeklügelte Antrag verlangte, wenn man
bedenkt, dass alles mit der Post erledigt werden musste. Mrs
Wellington wollte die Identität ihrer Angestellten nicht vor einer
Aufnahme der Schüler bekanntgeben. Während die Bewerber über Mrs
Wellington im Dunkeln gelassen wurden, sorgte sie mithilfe ihrer
Privatdetektive dafür, dass nichts ihrer Aufmerksamkeit
entging.
Erfuhr Mrs Wellington während des
Antragsverfahrens, dass Bewerber nicht dichthielten, wurden sie
augenblicklich disqualifiziert und bekamen eine strenge Verwarnung
von Mrs Wellingtons persönlichem Anwalt bei Munchhauser & Sohn.
Wie allseits bekannt war, machte mit Munchhauser niemand Mätzchen,
wirklich niemand.
Viele ehemalige Schüler wurden zu angesehenen
Mitgliedern der Gesellschaft, ohne je ein einziges Wort über ihre
Tage im Phobinasium verlauten zu lassen. Das Schweigegelöbnis ruhte
auf zwei Pfeilern: auf höchster Loyalität gegenüber Mrs Wellington
und der Angst vor dem Zorn des berüchtigten Munchhausers.
Leonard Munchhauser senior war bekannt für seine
Bösartigkeit, seine Gnadenlosigkeit und sein kaltes Herz - auch
gegenüber seiner eigenen Familie. Man erzählte sich, er hätte
einmal seinem Sohn Haar für Haar die Augenbrauen ausgerissen, als
Strafe dafür, dass er Milch verschüttet hatte. Das Schlimmste daran
war, dass Munchhauser juniors Augenbrauen dadurch dauerhaften
Schaden nahmen und nur noch büschelweise und unregelmäßig
nachwuchsen. So grausam das auch gewesen sein mochte, verblasste es
doch im Vergleich mit den niederträchtign Taktiken, mit denen
Munchhauser senior seine Klienten schützte. Und kein Klient war ihm
wichtiger als Mrs Wellington und das Phobinasium.