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Jeder hat vor etwas Angst: Ailurophobie ist
die Angst vor Katzen
Der Wohnbereich, wie Mrs
Wellington ihn nannte, lag im zweiten Stock von Summerstone und war
weit weniger beeindruckend als der erste Stock. Der »Bereich« der
Kinder bestand aus zwei Zimmern, zwischen denen ein gemeinsames
Badezimmer lag. Wenn man den Flur entlangging, kam man zuerst an
eine blaue Tür, auf der GARÇON, RAGAZZO, JUNGE und BOY stand. Sie
öffnete sich in einen Raum mit blau-weiß gestreiften Tapeten, einem
Hartholzboden und schweren, dunkelblauen Vorhängen, die von der
Sonne ausgebleicht waren. Auf den beiden Betten lagen saphirblaue
Gingham-Tagesdecken. Über den beiden Betten hing je ein Gemälde von
den Katzen Errol und Ratty im Baseball-Trikot.
»Manchmal bedauere ich, dass ich sie dazu erzogen
habe, mich nicht zu beachten. Es wäre eine nette
Abwechslung gewesen, ein Baseballteam aus lauter Katzen zu haben.
Natürlich stellten die Trikots eine Schwierigkeit dar. Ratty und
Errol bekamen Tobsuchtsanfälle, als sie für ihre Porträts Modell
sitzen sollten«, sagte Mrs Wellington zärtlich, als sie die Bilder
ansah.
Zwei ähnliche Bilder von Fiona und Annabelle in
Ballettkleidchen und -schuhen hingen über den Betten der Mädchen.
Wie bei den Jungen stand auch bei ihnen in Schönschrift an der Tür,
für wen das Zimmer bestimmt war: FILLE, RAGAZZA, MÄDCHEN und GIRL.
Als Madeleine eintrat, sah sie auf einen Blick, dass sich Mrs
Wellingtons Liebe zur Farbe Rosa nicht auf die Küche beschränkte.
Zartrosa Wände mit weißen Tupfen bissen sich mit einem
helllilafarbenen Teppich, fuchsienroten Vorhängen und kirschroten
Tagesdecken mit Paisleymuster.
Madeleine suchte die Ecken nach Spinnweben ab und
sprühte dabei aufs Geratewohl um sich. Als sie ihr Spiegelbild
erblickte und feststellte, dass sie unter ihrem dichten Schleier
kaum zu sehen war, spürte sie einen Anflug von Traurigkeit. Aber
sie schüttelte diese rasch wieder ab und machte sich bewusst, dass
sie nicht eitel sein durfte, wenn sie vor klebrigen Spinnenbeinen
geschützt sein wollte. Bei dem Gedanken an die vielen Beine einer
Spinne bekam sie eine Gänsehaut. Ihr wurde auch leicht übel, was
der Anblick der kirschroten Tagesdecke noch verstärkte.
»Mrs Wellington, wann wurde dieses Zimmer zum
letzten Mal von einem Kammerjäger gründlich ausgesprüht?«
»Heute Morgen, Liebes. Ich habe Schmidty mit vier
Dosen Insektenspray hier heraufgeschickt und ihm gesagt, er solle
sprühen, bis er bewusstlos umfallen würde.«
»Wie lange hat er durchgehalten?«, fragte Madeleine
allen Ernstes.
»Ich schätze, eine gute Dreiviertelstunde.
Makkaroni nur zehn Minuten. Hunde mit einer kurzen Nase haben
einfach nicht genug Lungenkapazität für eine solche
Belastung.«
»Wurden dabei auch die Decken und die Bettwäsche
besprüht?«
»Nein, Liebes.«
»Was?« Madeleine schnappte panisch nach Luft.
»Natürlich nicht. Ich habe sie komplett in
Insektengift waschen lassen.«
»Krass«, stöhnte Lulu. »Haben Sie das bei beiden
Betten gemacht?«
»Selbstverständlich, ich wollte auf keinen Fall,
dass eine von euch sich gezwungen fühlt, in einem bestimmten Bett
zu schlafen«, sagte Mrs Wellington mit besonderer Betonung des
Wortes »gezwungen«.
Lulu begriff, was sie meinte, denn sie hatte schon
im Vorfeld darauf bestanden, so nahe wie möglich an einem Fenster
zu schlafen.
»Danke«, sagte Lulu leise und ging ans
Fenster.
Sie zog die grotesken, fuchsienroten Vorhänge
zurück und sah nach, ob man das Fenster auch öffnen konnte. Als sie
in den Hof hinunterblickte, lief ihr ein Schauder über den Rücken
und löste das Zucken hinter ihrem linken Auge wieder aus.
Unerklärlicherweise hatte Lulu das Gefühl, beobachtet zu werden,
und zwar nicht von Mrs Wellington und ihren Kameraden. Sie suchte
den Hof nach Augen, Schatten oder Bewegung ab, sah aber nichts.
Vielleicht war sie ja nur nervös, dachte Lulu und wandte sich vom
Fenster ab. Als sie den rostigen Türknauf des Badezimmers sah,
konnte Lulu das Gefühl abschütteln, beobachtet zu werden. Genau
genommen schüttelte sie es nicht ab, sondern es wurde von einem
vertrauteren Gefühl überdeckt: Panik. Lulu war sicher, dass der
wackelige Knauf nicht ordentlich schließen und sich vor allem nicht
zuverlässig öffnen lassen würde. Sie stand vor dem Badezimmer,
gelähmt von der Vorstellung, der Raum dahinter sei fensterlos. Sie
wusste, es war kein gutes Zeichen, dass das Bad anscheinend dunkel
war. Hätte es ein Fenster, müsste es heller sein. Krampfartige
Zuckungen explodierten hinter Lulus linkem Auge. Mrs Wellington
beobachtete sie genau.
»Keine Sorge, Lulu, im Bad sind nur die Jalousien
heruntergelassen. Glaub mir, das Fenster ist groß genug, dass du
hindurchklettern könntest, wenn nötig. Du würdest zwar zwei
Stockwerke tief fallen und dir die Beine brechen, aber du würdest
es überleben.«
»Oh, ich war nicht beunruhigt«, log Lulu, als sich
ihr Herzschlag auf das bei einer Jugendlichen normale Tempo
verlangsamte.
»Kein Grund, die Heldin zu spielen, meine Liebe -
schließlich ist das eine Schule gegen Angst. Wenn du keine Ängste
hättest, hättest du hier ja gar nichts verloren.«
»Mag sein«, antwortete Lulu und ihr Auge beruhigte
sich.
»Ehe ich euch verlasse, möchte ich euch noch darauf
hinweisen, dass weiter den Flur entlang das Friseurgeschäft,
Schmidtys Zimmer und meine Wohnung liegen.«
»Falls wir einen Haarschnitt wollen?«, fragte
Garrison höhnisch.
»Das Friseurgeschäft ist eine Gedenkstätte für
meinen Mann, der im Bus hierher an einem Herzinfarkt starb.«
»Oh«, sagte Garrison verlegen.
»War er Friseur?«, fragte Theo.
»Nein, aber als er die Hände an die Brust presste,
sagte er als Letztes: ›Ich wollte, ich hätte mir die Haare
schneiden lassen.‹«
Die Kinder beschlossen stillschweigend, dass die
beste Antwort auf diese Auskunft gar keine Antwort war.
Beim Abendessen stellten Madeleine, Theo, Garrison
und Lulu entzückt fest, dass Schmidty ohne Wissen
von Mrs Wellington den Casu-Frazigu-Geschmack aus ihrem Essen
herausgelassen hatte. Mrs Wellington wiederum war sehr davon
angetan, dass die vier sich so schnell an diese Delikatesse gewöhnt
hatten. Schmidty warf den Kindern einen verstohlenen Blick zu und
alle begriffen: Was Mrs Wellington nicht wusste, machte sie auch
nicht heiß.
Nach dem Abendessen folgte Madeleine Lulu in ihr
rosarotes Schlafzimmer und analysierte die Lage.
»Sie scheint ein bisschen seltsam zu sein.
Vielleicht eine Spur verrückt«, sagte Madeleine vorsichtig.
»Das schätze ich auch«, meinte Lulu.
»Hast du unten irgendwo ein Telefon gesehen?«,
fragte Madeleine hoffnungsvoll.
»Natürlich …«, Lulu stockte und überlegte, ob sie
unten tatsächlich ein Telefon gesehen hatte. »Wenigstens bin ich
fast sicher.«
Im Zimmer der Jungen rollte sich Theo auf dem Bett
in Embryonalstellung zusammen und starrte mit feuchten Augen die
Wand an. Erinnerungen an gemeinsame Familienabendessen in den
Ferien, Fernsehabende mit seinen Schwestern und das Eintragen von
Aufzeichnungen in sein »Tot-oder-Lebendig«-Notizbuch gingen ihm
durch den Sinn. Theo vermisste seine Familie so sehr, dass ihm
buchstäblich das Atmen wehtat. Das konnte allerdings auch an seiner
Embryostellung liegen, in der sich die Muskeln verkrampften.
Jedenfalls hatte er Schmerzen. Theo stellte sich vor,
dass seine arme, alte Mutter es gerade schrecklich bereute, dass
sie ihm kein Handy dagelassen hatte.
Tatsächlich genoss seine Mutter ein spätes
Abendessen mit ihrem Mann in einem schönen Restaurant.
Während Theo wegen des Elends seiner Mutter Qualen
litt, lag Garrison auf der Gingham-Tagesdecke und las in der
einzigen Zeitschrift, die er mitgebracht hatte. Hätte er vorher
gewusst, dass außer ihm nur ein einziger Junge und obendrein noch
ein Schwächling an der Schule war, hätte er tausend
Sportzeitschriften mitgebracht - oder wäre am besten gar nicht erst
gekommen.
»Fehlt dir deine Familie?«, wollte Theo wissen,
dessen Brillengläser inzwischen von seinen Tränen beschlagen
waren.
»Wir sind ja noch nicht einmal einen ganzen Tag
weg«, antwortete Garrison genervt. »Du musst dich zusammenreißen.
Glaub mir, wo immer unsere Leute stecken, sie sind auf alle Fälle
besser dran als wir mit dieser merkwürdigen alten Dame und dem
blinden Typen mit der Turbanfrisur. Das ist statistisch
bombensicher«, sagte Garrison zu Theo.
Theo nickte Garrison zu, der nun mit gespielter
Beiläufigkeit eine Frage stellte, die ihn schon beschäftigte, seit
Theo begonnen hatte, mit Statistiken um sich zu werfen. »Weißt du
zufällig, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Tsunami auf Miami
trifft?«
»Ich kenne die genaue Tsunami-Wahrscheinlichkeit
für diese Region nicht, aber an deiner Stelle würde ich mir mehr
Sorgen über Hurrikans machen. Ich musste letztes Jahr auf die
Klassenfahrt nach Disney World verzichten, weil sie den Ausflug
ausgerechnet in die Jahreszeit mit den meisten Hurrikans gelegt
hatten. Tut mir leid, auch wenn man in Disney World kostenlos so
viele churros essen darf, wie man will, es lohnt sich
einfach nicht, dieses Risiko einzugehen.«
Garrison nickte Theo zu, nahm seine Zeitschrift
hoch und tat so, als würde er weiterlesen. Er erinnerte sich an
seinen Fluchtplan im Falle einer Hurrikan-Warnung - telefonisch ein
Ticket buchen und bei der Ankunft in New York seine Eltern anrufen.
Gerade als Garrison aufhörte, wegen möglicher zukünftiger
Wasserkatastrophen zu schwitzen, klopfte es leise von innen an die
Badezimmertür. Noch ehe Theo oder Garrison reagieren konnten,
streckten Lulu und Madeleine die Köpfe in das Zimmer der
Jungen.
»Hey, habt ihr unten irgendwo ein Telefon
gesehen?«, fragte Lulu beiläufig. »Mir geht’s prima, aber Madeleine
dreht fast durch.«
»Ich drehe überhaupt nicht durch, Lulu, doch
angesichts des seltsamen Benehmens von Mrs Wellington wüsste ich
nur einfach gerne, wo die Telefone sind.«
Theo sprang total aufgeregt von seinem Bett
hoch.
»Ja, Madeleine«, sagte Theo entzückt, »mir geht es
ganz genauso. Gehen wir nach unten und suchen die Telefone. Dann
rufen wir unsere Eltern an. Da ich
vielleicht weinen muss, nimm bitte ein paar Taschentücher mit.
Danach zeichnen wir uns einen Lageplan, auf dem wir alle Telefone
im ganzen Haus eintragen.«
Madeleine starrte Theo an, ein wenig überwältigt
von diesem umfassenden Vorhaben.
»Ich wüsste nur gern, wo ein Telefon ist. Wir
müssen es ja nicht gleich aufzeichnen.«
»Halt!«, sagte Garrison energisch. »Beruhigt euch
jetzt mal! Niemand geht runter und bringt uns schon am ersten Abend
in Schwierigkeiten. Ich habe keine so weite Reise gemacht, um den
ganzen Sommer unter Hausarrest zu stehen.«
»Gut, aber sag mal«, fragte Theo ernst, »hast du
überhaupt ein Telefon gesehen?«
Garrison starrte die drei an und wusste sofort, was
er zu tun hatte. Lügen.
»Natürlich habe ich ein Telefon gesehen. Und jetzt
gehen alle ins Bett!«
Und mit dem Wissen, dass es ein Telefon im Haus
gab, schliefen alle schnell und ohne Probleme ein. Das heißt, alle
bis auf Garrison.