13
Jeder hat vor etwas Angst: Ailurophobie ist die Angst vor Katzen
Der Wohnbereich, wie Mrs Wellington ihn nannte, lag im zweiten Stock von Summerstone und war weit weniger beeindruckend als der erste Stock. Der »Bereich« der Kinder bestand aus zwei Zimmern, zwischen denen ein gemeinsames Badezimmer lag. Wenn man den Flur entlangging, kam man zuerst an eine blaue Tür, auf der GARÇON, RAGAZZO, JUNGE und BOY stand. Sie öffnete sich in einen Raum mit blau-weiß gestreiften Tapeten, einem Hartholzboden und schweren, dunkelblauen Vorhängen, die von der Sonne ausgebleicht waren. Auf den beiden Betten lagen saphirblaue Gingham-Tagesdecken. Über den beiden Betten hing je ein Gemälde von den Katzen Errol und Ratty im Baseball-Trikot.
»Manchmal bedauere ich, dass ich sie dazu erzogen habe, mich nicht zu beachten. Es wäre eine nette Abwechslung gewesen, ein Baseballteam aus lauter Katzen zu haben. Natürlich stellten die Trikots eine Schwierigkeit dar. Ratty und Errol bekamen Tobsuchtsanfälle, als sie für ihre Porträts Modell sitzen sollten«, sagte Mrs Wellington zärtlich, als sie die Bilder ansah.
Zwei ähnliche Bilder von Fiona und Annabelle in Ballettkleidchen und -schuhen hingen über den Betten der Mädchen. Wie bei den Jungen stand auch bei ihnen in Schönschrift an der Tür, für wen das Zimmer bestimmt war: FILLE, RAGAZZA, MÄDCHEN und GIRL. Als Madeleine eintrat, sah sie auf einen Blick, dass sich Mrs Wellingtons Liebe zur Farbe Rosa nicht auf die Küche beschränkte. Zartrosa Wände mit weißen Tupfen bissen sich mit einem helllilafarbenen Teppich, fuchsienroten Vorhängen und kirschroten Tagesdecken mit Paisleymuster.
Madeleine suchte die Ecken nach Spinnweben ab und sprühte dabei aufs Geratewohl um sich. Als sie ihr Spiegelbild erblickte und feststellte, dass sie unter ihrem dichten Schleier kaum zu sehen war, spürte sie einen Anflug von Traurigkeit. Aber sie schüttelte diese rasch wieder ab und machte sich bewusst, dass sie nicht eitel sein durfte, wenn sie vor klebrigen Spinnenbeinen geschützt sein wollte. Bei dem Gedanken an die vielen Beine einer Spinne bekam sie eine Gänsehaut. Ihr wurde auch leicht übel, was der Anblick der kirschroten Tagesdecke noch verstärkte.
»Mrs Wellington, wann wurde dieses Zimmer zum letzten Mal von einem Kammerjäger gründlich ausgesprüht?«
»Heute Morgen, Liebes. Ich habe Schmidty mit vier Dosen Insektenspray hier heraufgeschickt und ihm gesagt, er solle sprühen, bis er bewusstlos umfallen würde.«
»Wie lange hat er durchgehalten?«, fragte Madeleine allen Ernstes.
»Ich schätze, eine gute Dreiviertelstunde. Makkaroni nur zehn Minuten. Hunde mit einer kurzen Nase haben einfach nicht genug Lungenkapazität für eine solche Belastung.«
»Wurden dabei auch die Decken und die Bettwäsche besprüht?«
»Nein, Liebes.«
»Was?« Madeleine schnappte panisch nach Luft.
»Natürlich nicht. Ich habe sie komplett in Insektengift waschen lassen.«
»Krass«, stöhnte Lulu. »Haben Sie das bei beiden Betten gemacht?«
»Selbstverständlich, ich wollte auf keinen Fall, dass eine von euch sich gezwungen fühlt, in einem bestimmten Bett zu schlafen«, sagte Mrs Wellington mit besonderer Betonung des Wortes »gezwungen«.
Lulu begriff, was sie meinte, denn sie hatte schon im Vorfeld darauf bestanden, so nahe wie möglich an einem Fenster zu schlafen.
»Danke«, sagte Lulu leise und ging ans Fenster.
Sie zog die grotesken, fuchsienroten Vorhänge zurück und sah nach, ob man das Fenster auch öffnen konnte. Als sie in den Hof hinunterblickte, lief ihr ein Schauder über den Rücken und löste das Zucken hinter ihrem linken Auge wieder aus. Unerklärlicherweise hatte Lulu das Gefühl, beobachtet zu werden, und zwar nicht von Mrs Wellington und ihren Kameraden. Sie suchte den Hof nach Augen, Schatten oder Bewegung ab, sah aber nichts. Vielleicht war sie ja nur nervös, dachte Lulu und wandte sich vom Fenster ab. Als sie den rostigen Türknauf des Badezimmers sah, konnte Lulu das Gefühl abschütteln, beobachtet zu werden. Genau genommen schüttelte sie es nicht ab, sondern es wurde von einem vertrauteren Gefühl überdeckt: Panik. Lulu war sicher, dass der wackelige Knauf nicht ordentlich schließen und sich vor allem nicht zuverlässig öffnen lassen würde. Sie stand vor dem Badezimmer, gelähmt von der Vorstellung, der Raum dahinter sei fensterlos. Sie wusste, es war kein gutes Zeichen, dass das Bad anscheinend dunkel war. Hätte es ein Fenster, müsste es heller sein. Krampfartige Zuckungen explodierten hinter Lulus linkem Auge. Mrs Wellington beobachtete sie genau.
»Keine Sorge, Lulu, im Bad sind nur die Jalousien heruntergelassen. Glaub mir, das Fenster ist groß genug, dass du hindurchklettern könntest, wenn nötig. Du würdest zwar zwei Stockwerke tief fallen und dir die Beine brechen, aber du würdest es überleben.«
»Oh, ich war nicht beunruhigt«, log Lulu, als sich ihr Herzschlag auf das bei einer Jugendlichen normale Tempo verlangsamte.
»Kein Grund, die Heldin zu spielen, meine Liebe - schließlich ist das eine Schule gegen Angst. Wenn du keine Ängste hättest, hättest du hier ja gar nichts verloren.«
»Mag sein«, antwortete Lulu und ihr Auge beruhigte sich.
»Ehe ich euch verlasse, möchte ich euch noch darauf hinweisen, dass weiter den Flur entlang das Friseurgeschäft, Schmidtys Zimmer und meine Wohnung liegen.«
»Falls wir einen Haarschnitt wollen?«, fragte Garrison höhnisch.
»Das Friseurgeschäft ist eine Gedenkstätte für meinen Mann, der im Bus hierher an einem Herzinfarkt starb.«
»Oh«, sagte Garrison verlegen.
»War er Friseur?«, fragte Theo.
»Nein, aber als er die Hände an die Brust presste, sagte er als Letztes: ›Ich wollte, ich hätte mir die Haare schneiden lassen.‹«
Die Kinder beschlossen stillschweigend, dass die beste Antwort auf diese Auskunft gar keine Antwort war.
 
Beim Abendessen stellten Madeleine, Theo, Garrison und Lulu entzückt fest, dass Schmidty ohne Wissen von Mrs Wellington den Casu-Frazigu-Geschmack aus ihrem Essen herausgelassen hatte. Mrs Wellington wiederum war sehr davon angetan, dass die vier sich so schnell an diese Delikatesse gewöhnt hatten. Schmidty warf den Kindern einen verstohlenen Blick zu und alle begriffen: Was Mrs Wellington nicht wusste, machte sie auch nicht heiß.
Nach dem Abendessen folgte Madeleine Lulu in ihr rosarotes Schlafzimmer und analysierte die Lage.
»Sie scheint ein bisschen seltsam zu sein. Vielleicht eine Spur verrückt«, sagte Madeleine vorsichtig.
»Das schätze ich auch«, meinte Lulu.
»Hast du unten irgendwo ein Telefon gesehen?«, fragte Madeleine hoffnungsvoll.
»Natürlich …«, Lulu stockte und überlegte, ob sie unten tatsächlich ein Telefon gesehen hatte. »Wenigstens bin ich fast sicher.«
Im Zimmer der Jungen rollte sich Theo auf dem Bett in Embryonalstellung zusammen und starrte mit feuchten Augen die Wand an. Erinnerungen an gemeinsame Familienabendessen in den Ferien, Fernsehabende mit seinen Schwestern und das Eintragen von Aufzeichnungen in sein »Tot-oder-Lebendig«-Notizbuch gingen ihm durch den Sinn. Theo vermisste seine Familie so sehr, dass ihm buchstäblich das Atmen wehtat. Das konnte allerdings auch an seiner Embryostellung liegen, in der sich die Muskeln verkrampften. Jedenfalls hatte er Schmerzen. Theo stellte sich vor, dass seine arme, alte Mutter es gerade schrecklich bereute, dass sie ihm kein Handy dagelassen hatte.
Tatsächlich genoss seine Mutter ein spätes Abendessen mit ihrem Mann in einem schönen Restaurant.
Während Theo wegen des Elends seiner Mutter Qualen litt, lag Garrison auf der Gingham-Tagesdecke und las in der einzigen Zeitschrift, die er mitgebracht hatte. Hätte er vorher gewusst, dass außer ihm nur ein einziger Junge und obendrein noch ein Schwächling an der Schule war, hätte er tausend Sportzeitschriften mitgebracht - oder wäre am besten gar nicht erst gekommen.
»Fehlt dir deine Familie?«, wollte Theo wissen, dessen Brillengläser inzwischen von seinen Tränen beschlagen waren.
»Wir sind ja noch nicht einmal einen ganzen Tag weg«, antwortete Garrison genervt. »Du musst dich zusammenreißen. Glaub mir, wo immer unsere Leute stecken, sie sind auf alle Fälle besser dran als wir mit dieser merkwürdigen alten Dame und dem blinden Typen mit der Turbanfrisur. Das ist statistisch bombensicher«, sagte Garrison zu Theo.
Theo nickte Garrison zu, der nun mit gespielter Beiläufigkeit eine Frage stellte, die ihn schon beschäftigte, seit Theo begonnen hatte, mit Statistiken um sich zu werfen. »Weißt du zufällig, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Tsunami auf Miami trifft?«
»Ich kenne die genaue Tsunami-Wahrscheinlichkeit für diese Region nicht, aber an deiner Stelle würde ich mir mehr Sorgen über Hurrikans machen. Ich musste letztes Jahr auf die Klassenfahrt nach Disney World verzichten, weil sie den Ausflug ausgerechnet in die Jahreszeit mit den meisten Hurrikans gelegt hatten. Tut mir leid, auch wenn man in Disney World kostenlos so viele churros essen darf, wie man will, es lohnt sich einfach nicht, dieses Risiko einzugehen.«
Garrison nickte Theo zu, nahm seine Zeitschrift hoch und tat so, als würde er weiterlesen. Er erinnerte sich an seinen Fluchtplan im Falle einer Hurrikan-Warnung - telefonisch ein Ticket buchen und bei der Ankunft in New York seine Eltern anrufen. Gerade als Garrison aufhörte, wegen möglicher zukünftiger Wasserkatastrophen zu schwitzen, klopfte es leise von innen an die Badezimmertür. Noch ehe Theo oder Garrison reagieren konnten, streckten Lulu und Madeleine die Köpfe in das Zimmer der Jungen.
»Hey, habt ihr unten irgendwo ein Telefon gesehen?«, fragte Lulu beiläufig. »Mir geht’s prima, aber Madeleine dreht fast durch.«
»Ich drehe überhaupt nicht durch, Lulu, doch angesichts des seltsamen Benehmens von Mrs Wellington wüsste ich nur einfach gerne, wo die Telefone sind.«
Theo sprang total aufgeregt von seinem Bett hoch.
»Ja, Madeleine«, sagte Theo entzückt, »mir geht es ganz genauso. Gehen wir nach unten und suchen die Telefone. Dann rufen wir unsere Eltern an. Da ich vielleicht weinen muss, nimm bitte ein paar Taschentücher mit. Danach zeichnen wir uns einen Lageplan, auf dem wir alle Telefone im ganzen Haus eintragen.«
Madeleine starrte Theo an, ein wenig überwältigt von diesem umfassenden Vorhaben.
»Ich wüsste nur gern, wo ein Telefon ist. Wir müssen es ja nicht gleich aufzeichnen.«
»Halt!«, sagte Garrison energisch. »Beruhigt euch jetzt mal! Niemand geht runter und bringt uns schon am ersten Abend in Schwierigkeiten. Ich habe keine so weite Reise gemacht, um den ganzen Sommer unter Hausarrest zu stehen.«
»Gut, aber sag mal«, fragte Theo ernst, »hast du überhaupt ein Telefon gesehen?«
Garrison starrte die drei an und wusste sofort, was er zu tun hatte. Lügen.
»Natürlich habe ich ein Telefon gesehen. Und jetzt gehen alle ins Bett!«
Und mit dem Wissen, dass es ein Telefon im Haus gab, schliefen alle schnell und ohne Probleme ein. Das heißt, alle bis auf Garrison.