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Jeder hat vor etwas Angst: Illyngophobie ist
die Angst vor Schwindel beim Nach-unten-Schauen
Ungefähr 180 Meilen von
Manhattan entfernt lag die Roger-Williams-Grundschule in Providence
auf Rhode Island. An einer stillen, von Bäumen gesäumten Straße,
nicht weit weg von der angesehenen Brown-Universität, duckte sich
das traditionelle rote Schulhaus ins Grüne, in dem Lucy »Lulu«
Punchalower ein- und ausging. Die Zwölfjährige mit dem rotblonden
Haar, einer satten Portion Sommersprossen und jadegrünen Augen
neigte dazu, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, die Augen zu
verdrehen und ganz allgemein die Menschen in ihrer Umgebung gegen
sich aufzubringen.
Wenn ihre Klassenkameraden gebeten wurden, Lulu zu
charakterisieren, griffen viele zu einem einfachen, aber treffenden
Wort: »gemein«. Das war ein durchaus gerechtes Urteil, aber es ist
doch anzumerken, dass
Lulu im Grunde ein gutes Herz hatte, auch wenn ihre Aktionen des
offenen Widerstands diese Tatsache sehr gut verdeckten. Sie war
einfach ein wenig rebellisch und trug sogar ein paar Handschellen
am linken Handgelenk. Der eigentliche Zweck dieses Armschmucks
wurde bei einem sehr ereignisreichen Ausflug ins Luftund
Raumfahrtmuseum klar.
Bei Schülern sind Ausflüge immer äußerst beliebt,
denn sie bedeuten einen Tag ohne Unterricht, Klassenzimmer und
Hausaufgaben. Bei diesem speziellen Ausflug hatte die sechste
Klasse per Abstimmung entschieden, lieber das Luft- und
Raumfahrtmuseum in Providence zu besuchen als das eher langweilige
Kunstgewerbemuseum. Zwar hatte dieses viel mehr als Schmuck aus
harten, ungekochten Makkaroni, Collagen und Figuren aus Pappmaschee
zu bieten, aber die Kinder dachten, das Ganze klinge doch etwas zu
sehr nach einem Nachmittag mit ihren Großeltern.
Vor der Entscheidung für den Ausflug zum Luftund
Raumfahrtmuseum hatte sich Lulu sorgfältig erkundigt, wie es dort
um Aufzüge und Treppen stand. Sie sah sich die Website des Museums
genau an und hatte viele Male die Museums-Information angerufen,
bis sie sicher war, die Treppe benutzen zu können.
Von den 24 Sechstklässlern, die dann im Luft- und
Raumfahrtmuseum ankamen, schütteten alle bis auf Lulu ein
zuckerhaltiges Getränk in sich hinein. Wenn sie unterwegs war,
verzichtete sie immer auf Essen und
Trinken, um nicht die Toilette aufsuchen zu müssen. Lulu wusste
nämlich, dass die meisten öffentlichen Toiletten weniger
Grundfläche hatten als ein Sarg und obendrein fensterlos waren.
Daher umging sie die Sache lieber gleich ganz. Leicht dehydriert
und durstig befand sich Lulu am hinteren Ende der Schülergruppe,
als diese in der Eingangshalle des Museums zum Stehen kam.
Mr Brampton und Mrs Johnson waren bei diesem
Ausflug als Lehrkräfte-Schrägstrich-Bändiger dabei und ihr
Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass es ihnen keinen Spaß
machte.
»Ruhe jetzt! Bitte Ruhe! Ich möchte, dass alle in
Zimmerlautstärke sprechen«, sagte Mr Brampton. »Mrs Johnson und ich
teilen euch für die Fahrt mit dem Aufzug in zwei Gruppen. Und wer
ein Handy dabeihat, sei hiermit gewarnt: Wenn ich eines höre oder
sehe, beschlagnahme ich es sofort, ohne Ausnahme.«
Vom hinteren Ende der Gruppe her war deutlich das
Klimpern von Handschellen zu vernehmen. Lulus Arm schoss in die
Höhe.
»Äh, Mr Brampton, ich möchte bitte die Treppe
nehmen. Das ist gesünder.«
»Leider ist die Treppe heute gesperrt, weil das
Treppenhaus frisch gestrichen wird.«
»Was? Das hat mir niemand gesagt. Ich möchte
trotzdem die Treppe benutzen. Farbdämpfe haben
noch keinem geschadet«, sagte Lulu. Sie spürte ein Zucken hinter
ihrem linken Auge, was ihre übliche Reaktion auf Stress war. Nach
außen war es kaum zu bemerken, aber für Lulu fühlte es sich an, als
würde ein Felsbrocken hinter dem dünnen Lid pulsieren, das ihr Auge
bedeckte.
»Das geht nicht. Du musst bei der Gruppe bleiben
und wir nehmen den Aufzug.«
»Ich nehme NICHT den Aufzug. Lieber bleibe ich hier
unten stehen.«
»Du wirst den Aufzug nehmen, wie alle
anderen auch. Ich würde dich ja hier unten lassen, aber du könntest
entführt werden. Und das würde kein gutes Licht auf die Schule
werfen.«
»Und was für ein Licht wird es auf die Schule
werfen, wenn die Eltern herausfinden, dass Sie mich in eine
tödliche Falle aus Stahl gezwungen haben?«
»Genug diskutiert, Fräulein Punchalower, du tust
jetzt, was ich dir sage und steigst in den Aufzug ein. Wir werden
über dein Benehmen reden, wenn wir wieder in der Schule
sind.«
»Ich werde nie, nie, nie in diesen oder irgendeinen
anderen Aufzug steigen und Sie können mich nicht dazu zwingen. Ich
habe eine Krankheit namens Klaustrophobie. Ich kann Ihnen ein
Attest meines Arztes bringen.«
»Ich sage es nicht noch einmal: Steig jetzt in
diesen Aufzug!«
»Das ist unfair. Sie zwingen doch Howie auch nicht,
im Turnunterricht zu rennen!«
»Er hat sich das Bein gebrochen!«
»Genau, er hat eine Krankheit, die ihn am Rennen
hindert. Und ich habe eine Krankheit, die mich daran hindert, mich
in Aufzüge und andere enge Räume zu begeben. Warum ist es so
schwer, das zu verstehen?«
Mr Brampton starrte Lulu an und schüttelte den
Kopf.
»Auf jeden Fall können Sie mich zu nichts
zwingen.«
Mr Brampton, der inzwischen vor Wut kochte,
marschierte zwischen den Kindern hindurch, als teile er das Rote
Meer. Als er schließlich bei Lulu ankam, wirkte ihr Körper vor
seiner eins achtzig großen Gestalt zwergenhaft klein. Lulus
verschränkte Arme und ihr zuckendes Auge waren im Schatten des
hochgewachsenen Mannes kaum zu sehen. Mr Brampton schob sie zu dem
offenen Aufzug hin, ohne auf ihr flehentliches Bitten zu
achten.
Lulus Herz schlug wild. Sie spürte nur noch das
kalte Metall der Handschellen auf ihrer Haut und dass sie keine
Luft mehr bekam. Vergeblich stemmte sie ihre Converse-Turnschuhe in
den Boden und versuchte, ihre Panik zu unterdrücken. Die
Plastiksohlen quietschten laut, als sie über den Beton gezerrt
wurde.
Lulu wusste, was sie zu tun hatte. Im Geiste hatte
sie diesen Moment viele Male geprobt, weil ihr klar gewesen war,
dass es eines Tages zu einem solchen Vorfall
kommen musste. Vielleicht nicht gerade an diesem Ort oder mit
diesen Leuten, aber sie war schon lange auf alles gefasst. Es war
nur eine Frage der Zeit, wann jemand versuchen würde, sie in einen
Aufzug, eine fensterlose Toilette oder einen anderen engen Raum zu
zwingen.
Lulus kleiner Körper war von Adrenalin überflutet.
Sie ließ sich unvermittelt fallen und plumpste Mr Brampton zwischen
die Beine. Mit der Behändigkeit eines olympischen Turners schlug
sie einen Purzelbaum rückwärts, sprang auf die Füße und raste
davon. Wäre ein Kampfrichter dabei gewesen, hätte sie leicht die
höchste Punktzahl erreicht. Ihre kleinen Beine flogen nur so, um Mr
Brampton abzuhängen. Zum Glück scheuerten die dicken Schenkel des
Mannes aneinander, was ihn bremste.
Lulu duckte sich unter den Rumpf eines Flugzeuges
aus dem Zweiten Weltkrieg auf der linken Seite der Eingangshalle.
Mr Brampton trachtete nur danach, Lulu zu erwischen, und übersah
den Bomber, bis er mit der Stirn so heftig dagegenrannte, dass sich
die Nieten der Flugzeugverkleidung über beiden Augenbrauen
abdrückten. Mr Bramptons kräftige Gestalt schwankte vor und zurück
und schlug dann auf dem Betonboden auf. Lulus Klassenkameraden
sahen atemlos und völlig gebannt dem aufregenden Schauspiel
zu.
Während die Kinder noch die Szene genossen, hakte
Lulu die Handschellen um eine Metallstange direkt über den Rädern
des Flugzeugs und ließ sie zuschnappen.
Ohne ihren gestürzten Lehrer zu beachten, setzte sie sich hin und
rang nach Atem. Ein paar Meter weiter regte sich Mr Brampton,
brummte und fasste sich an die Stirn.
»Sie werden das ganze Flugzeug mitziehen müssen,
wenn Sie mich in den Aufzug kriegen wollen«, sagte Lulu mit
offensichtlichem Stolz auf ihren gelungenen Plan.
Mr Brampton taumelte schäumend vor ohnmächtiger Wut
in Richtung Aufzug. Er wagte kein Wort zu sagen, weil er
befürchtete, er würde etwas Schreckliches brüllen. Ohne Fluchen
würde es auf keinen Fall abgehen.
Am folgenden Tag zog der Schulleiter Lulus
Handschellen ein und schloss Lulu für ihre gesamte Schulzeit an der
Roger-Williams-Grundschule von Ausflügen aus. Die Punchalowers
erhielten einen eingeschriebenen Brief, in dem es hieß, Lulu müsse
während der noch ausstehenden beiden Ausflüge zu Hause bleiben und
Aufsätze über die Erfindung des Aufzugs schreiben.
Den Punchalowers war es egal, ob ihre Tochter zu
Hause bleiben oder zusätzliche Schularbeiten machen musste, aber
sie hassten die Vorstellung, dass Lulus Klassenkameraden ihren
Eltern von dem Auftritt im Museum erzählen würden. Die Punchalowers
gehörten zu der Gruppe von Eltern, deren Lieblingsbeschäftigung
es war, mit den Leistungen ihrer Kinder anzugeben. Und Lulus
Verhalten konnte wohl schwerlich als Leistung eingestuft werden.
Und tatsächlich, nur knapp eine Woche nach der unrühmlichen
Eskapade im Museum waren sich Lulus Eltern sicher, dass hinter
ihrem Rücken getuschelt wurde, wenn sie sich auf den Golfplatz
ihres Country Clubs begaben. Mrs Punchalower hatte sich unermüdlich
bemüht, eine strahlende Familienfassade aufrechtzuerhalten und
jetzt brachte Lulu alles ins Wanken.
Nach der Episode im Museum fiel Lulu auf, dass in
der sehr angespannten Stimmung zu Hause deutlich häufiger
geflüstert wurde. Sie vermutete, dass ihre Eltern etwas im Schilde
führten, aber ehrlich gesagt, kümmerte sie sich nicht groß darum.
Erst Anfang Mai stellte Lulu fest, dass ihr die verdächtigen
Aktivitäten ihrer sonst so eintönig lebenden Eltern nicht mehr
gleichgültig sein konnten.
Nicht ein einziges Mal in Lulus zwölf Lebensjahren
hatten ihre Eltern die Post hereingeholt. Lulu wusste nicht einmal,
wie die Briefe normalerweise ins Haus kamen. Sie war nur sicher,
dass ihre Eltern sich bisher nie mit so trivialen Dingen abgegeben
hatten. Aber plötzlich bestanden sie darauf, als Erste an den
Briefkasten zu gehen. Unter keinen Umständen durften sich Lulu oder
ihr achtjähriger Bruder Marvin dem Briefkasten nähern.
»Mom.«
»Was habe ich dir über diese Anrede gesagt?«, wies
Mrs Punchalower ihre Tochter zurecht.
»In Ordnung, Mutter«, sagte Lulu affektiert, »lass
mich die Post hereinholen.«
»Auf keinen Fall, mein Fräulein. Es ist dir und
deinem Bruder verboten, das Haus zu verlassen, ehe entweder dein
Vater oder ich in den Briefkasten geschaut haben. Wenn ich einen
von euch beiden in der Nähe der Haustür erwische, gibt es einen
Monat Hausarrest.«
»Na, super!«
»›Na, super‹ ist niemals eine angemessene Antwort
und auf eine Anordnung deiner Mutter schon gar nicht«, rügte sie
Mrs Punchalower.
»Ja, liebste Mutter«, sagte Lulu und verdrehte ihre
grünen Augen, dass man nur noch das Weiße sah.
Lulus Misstrauen in Bezug auf die Post wuchs ins
Unermessliche, als sie an einem ganz normalen Dienstagmorgen Anfang
Mai ihre Eltern ausgelassen auf dem Rasen tanzen sah. Das war
höchst verdächtig bei einem Paar, das Tanzen sogar bei Hochzeiten
für geschmacklos hielt. Lulu wusste, dass nur etwas ganz
Fantastisches dieses seltsame Verhalten hervorgerufen haben konnte,
und sie war entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.
Lulu rannte ans Ende des Flurs, ließ sich auf den
makellosen cremefarbenen Teppich nieder und wartete. Sie streckte
ihren kleinen Kopf um die Ecke,
sodass sie einen guten Blick auf das edel, aber ungemütlich
eingerichtete Wohnzimmer hatte. Sie hörte die Haustür rasch
aufgehen, dann klapperten Absätze über den Marmor in der
Eingangshalle. Lulu beobachtete, wie sich ihre Eltern gegenseitig
verschwörerisch etwas ins Ohr flüsterten, während sie einen
rosaroten Umschlag zwischen sich hin und her gaben. Schließlich
nahm Mrs Punchalower widerstrebend den Umschlag und steckte ihn
unter ein kariertes Sofakissen.
Etwas später löffelte Lulu in der Küche
Rosinenmüsli und beobachtete dabei misstrauisch ihre Mutter. Sie
war ganz sicher, dass der rosarote Umschlag etwas mit ihr zu tun
hatte.
Als Marvin und sie zur Bushaltestelle gingen,
beherrschte eine nagende innere Stimme ihre Gedanken. Statt sich
wie gewöhnlich unter das einfache gelbe Zeichen mit dem schwarz
aufgemalten Bus zu stellen, zog sie Marvin hinter eine Reihe von
Mülleimern in der Nähe.
»Was machst du denn?«, beschwerte sich Marvin, als
sie ihn zu Boden stieß.
»Du bleibst hier bei mir.«
»Nein, ich gehe in die Schule. Ich habe eine
Mathearbeit.«
»Ich kenne dich doch, du verrätst Dotty, dass ich
schwänze, wenn ich dich gehen lasse.«
Marvin neigte dazu, Leuten zu sagen, was sie nicht
wissen sollten. Wenn sie ihn allein in den Bus ließ, erzählte
er mit Sicherheit Dotty, der Busfahrerin, dass Lulu die Schule
schwänzte.
»Wie lange sollen wir denn hier warten?«, jammerte
Marvin.
»Bis Mutter und Vater aus dem Haus gehen. Ich bin
sicher, dass sie etwas im Schilde führen.«
»Na und? Wir mögen sie ja nicht mal. Komm, wir
gehen in die Schule.«
»Gut, aber mach mir dann keine Vorwürfe, wenn sie
dich an Grandma verkaufen.«
»Mich verkaufen?«, rief Marvin schockiert.
»Grandma beäugt dich schon eine ganze Weile. Sie
hätte gern wieder ein Kind im Haus. Außerdem braucht sie jemanden,
der ihre entzündeten Ballen an den Füßen massiert.«
»Und wie kommt es, dass Grandma nicht dich kaufen
will? Du bist doch älter.«
»Was soll ich sagen? Ich bin eben nicht mehr so
niedlich.«
»Ich wusste doch, dass mich dieses Gesicht in
Schwierigkeiten bringen wird«, murmelte Marvin.
Als sie das Auto ihrer Eltern hatten vorbeifahren
sehen, krochen Lulu und Marvin hinter den Mülleimern hervor und
rannten zum Haus zurück. Lulu stocherte mit ihren Schlüsseln im
Schloss herum und hoffte, dass ihre Eltern nicht zurückkommen
würden, weil sie etwas vergessen hätten. Schließlich war die Tür
offen und sie rannte zum Sofa. Marvin folgte ihr dicht auf
den Fersen. Unter dem mittleren karierten Kissen lag der längliche
rosarote Umschlag, aus teurem, handgeschöpftem Papier und mit
offiziell wirkendem Goldaufdruck.
Die Punchalowers gehörten zur Schickeria des
Country Clubs und bekamen häufig edel gestaltete Einladungen, aber
nie in einer so vulgären Farbe wie Rosa. Außerdem hatten sie bisher
noch keine dieser Einladungen versteckt. Lulu stellte fest, dass
als Absender ein Postfach in Farmington / Massachusetts angegeben
war. Sie hielt es für unwahrscheinlich, dass ihre Eltern jemanden
in Massachusetts kannten, schon gar nicht jemanden mit einem
Postfach. Gab es so was nicht nur für Preisausschreiben und für
verrückte Leute, die fernab der Zivilisation in der Pampa
wohnten?
Lulu öffnete langsam den Umschlag und zog einen
Brief, eine Broschüre und eine Landkarte heraus. In dem Brief
stand, sie sei angenommen. Sie fragte sich, ob ihre Eltern
tatsächlich beschlossen hatten, sie in ein Internat zu schicken,
wie sie ihr schon häufig angedroht hatten. Lulus Augen wurden
zuerst schmal und dann so groß, dass sie ihr fast aus dem Kopf
traten, als sie den Namen der Einrichtung las: Phobinasium. Sie
sollte sich am 25. Mai um 9 Uhr morgens am Busbahnhof in Farmington
/ Massachusetts einfinden und dort einen Abgesandten des
Phobinasiums treffen.
Mit einer Hand auf ihrem zuckenden linken Auge
drehte sich Lulu zu Marvin um: »Junge, Junge, ich sitze mächtig in
der Tinte! An einem Busbahnhof hat noch nie etwas Gutes
begonnen.«
Auf das Phobinasium hatte Mrs Punchalower ein
bekannter Spezialist, Dr. Guinness, aufmerksam gemacht. Dieser
Doktor war ein Respekt einflößender Mann Ende fünfzig, der großes
Verständnis für Lulus Ängste hatte, sie aber nicht dazu bewegen
konnte, in seine Praxis im vierten Stock eines Gebäudes zu kommen,
in dem es nur einen Aufzug, aber keine Treppe gab.
Lulu drohte dem Wachmann vom Sicherheitsdienst
alles Mögliche an, damit er sie die Feuerleiter hochklettern ließ,
doch er lehnte höflich, aber bestimmt ab.
»Wenn Sie mich nicht die Feuerleiter hinaufklettern
lassen, sehen Sie Ihre Kinder nie mehr wieder, das schwöre ich
ihnen«, sagte Lulu in ihrer besten Gangstermanier.
»Ich habe keine Kinder«, antwortete der Mann
gähnend.
»Hm, ich wollte sagen, Ihre Frau.«
»Ich habe keine Frau.«
»Und Freunde?«
»Hab ich auch nicht.«
»Ach, kommen Sie«, sagte Lulu genervt, »jeder hat
Freunde.«
»Ich nicht. Ich hab bloß einen Goldfisch.«
»Okay, armes Würstchen«, sagte Lulu und verdrehte
die Augen, »wenn Sie diesen Fisch wiedersehen wollen, lassen Sie
mich lieber auf die Feuerleiter. Sonst brate ich mir den kleinen
Kerl zum Abendessen.«
»Also, den Fisch von jemandem zu bedrohen, ist
wirklich eiskalt, aber du darfst trotzdem nicht die Feuerleiter
hoch.«
»Puh!«, schnaubte Lulu, als sie aus dem Gebäude
stürmte, es war einfach unmöglich, einen Mann unter Druck zu
setzen, dessen einziger Freund ein Fisch war.
In einer Geste außergewöhnlichen Entgegenkommens
erklärte sich Dr. Guinness bereit, die Therapie-Sitzungen in seinem
Auto auf dem Parkplatz abzuhalten. Statt auf der Couch des
Therapeuten saß Lulu auf der Rückbank des Wagens und Dr. Guinness
vorn. Gelegentlich wurde es so stickig, dass der Arzt den lauten
Motor seines reichlich Diesel schluckenden Mercedes, Baujahr 1973,
anließ, um die Klimaanlage einschalten zu können. Aufgrund des
streng vertraulichen Austauschs zwischen Arzt und Patientin konnte
man die Fenster nur einen Spalt breit öffnen, falls jemand
vorbeikommen und lauschen würde.
Nach fünf Monaten bekam Dr. Guinness Hitzepickel
und einen schmerzhaft verkrampften Nacken, weil er immer den Hals
verrenken musste, um Lulu auf der Rückbank anzusehen. Daher bat er
Lulus Eltern nach einer Sitzung mit ihr zu einem Gespräch in sein
Auto.
»Ich fürchte, es ist Zeit, dass ich meine
therapeutische Arbeit mit Lulu beende«, erklärte Dr. Guinness
ruhig.
»Was? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Sie kommt
doch erst fünf Monate zu Ihnen - meine Frau war zehn Jahre in
Therapie und ihr Arzt hat sie nicht rausgeschmissen!«, schäumte Mr
Punchalower und tippte gleichzeitig etwas in seinen BlackBerry
ein.
»Also bitte, Edward, sag doch nicht
rausgeschmissen!«, erwiderte Mrs Punchalower. »Und außerdem
ist Jeffrey ein Lebensberater, kein Therapeut.«
»Ich glaube, Sie haben mich missverstanden. Lulu
braucht eine intensivere Behandlung, als ich sie ihr bieten kann.
Etwas sehr Einzigartiges, etwas sehr Exklusives.«
»Ja?«, fragten Mr und Mrs Punchalower.
Ihre Augen leuchteten auf, als sie das Wort
»exklusiv« hörten. Sie wollten nichts lieber als exklusiv
sein.
»Ich spreche vom Phobinasium«, flüsterte Dr.
Guinness kaum hörbar.