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Jeder hat vor etwas Angst: Geliophobie ist die Angst vor dem Lachen
Fünf nackte Glühbirnen brannten hell an der Decke des Bunkers und erleuchteten ihn bis in den letzten Winkel. In der Mitte des Raums standen unzählige rostige Büroschränke, auf denen sich Wettscheine, Bücher und Papiere stapelten. In der Ecke war eine Leiter an der Wand befestigt, die zu einer Art U-Boot-Luke in der Decke führte. Natürlich hatten nicht die Papiere oder Bücher den Kindern den Schrei entlockt, sondern etwas Unheimlicheres. Über den Schränken hing eine Kupferplatte, auf die ein ausgestopfter Kopf montiert war. Der Kopf eines Freundes. Seine braunen Augen mit den hängenden Lidern und der starke Unterbiss waren unverkennbar. Makkaroni.
»Mak«, murmelte Garrison ganz erschlagen.
»Makkaroni. Wie konnte er nur?«, sagte Theo und begann zu weinen.
»Das verstehe ich nicht. Es ergibt doch gar keinen Sinn. Er braucht Makkaroni, um an das Geld zu kommen«, sagte Lulu logisch.
»Und wie konnte er ihn so schnell ausstopfen und montieren lassen?«, fragte Garrison misstrauisch und näherte sich der Wand.
»Ein geübter Tierpräparator braucht dafür neun bis zwölf Monate, nicht neun bis zwölf Minuten«, fügte Madeleine hinzu. »Und wo ist überhaupt der Körper?«
»Das ist nicht Makkaroni«, sagte Garrison von seinem Standort unterhalb des Hundekopfes aus. »Das ist Käse.«
»Und was hat Käse hier drinnen zu suchen?«, quäkte Theo.
»Er ist tot«, ergänzte Lulu sarkastisch. »Das da an der Wand ist sein ausgestopfter Kopf.«
»Glaubt ihr, Munchhauser hat ihn getötet?«, fragte Theo mit großen, angstvollen Augen.
»Vielleicht gefällt es ihm einfach, einen ausgestopften Kopf an der Wand zu haben. Im Landhaus meiner Oma hängen auch ein paar ausgestopfte Hirschköpfe. Ich fand sie immer ziemlich geschmacklos, aber jedem das Seine«, erklärte Madeleine.
»Wir haben keine Zeit, hier herumzustehen und uns zu überlegen, warum Munchhauser einen ausgestopften Hundekopf an der Wand hängen hat. Wir müssen Mak zurückholen«, sagte Garrison energisch. »Und zwar ehe er auch ausgestopft an der Wand hängt.«
Dann öffnete er die U-Boot-Luke und führte die anderen aus Munchhausers Verlies hinaus. Die Öffnung der Luke lag zwischen der grauen Kopfsteinpflasterstraße und dem hohen Felsen, auf dem Summerstone stand. Genau wie es die Kinder von ihrer Fahrt mit dem Sheriff her in Erinnerung hatten, wuchsen Schlingpflanzen von beiden Seiten über die Straße und bildeten eine Art Laubengang aus Schlingpflanzen. Ohne den Schutz eines Fahrzeugs erschien ihnen die dunkle und dichte Überwucherung besonders bedrohlich.
»Je schneller wir losgehen, desto schneller kommen wir hier heraus«, sagte Lulu und marschierte drauflos. »Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich finde diesen Wald total gruselig.«
»Solange wir auf der Straße bleiben, ist alles in Ordnung«, erinnerte Garrison die anderen.
»Ich gehe in der Mitte. Ich will dem Waldrand nicht zu nahe kommen«, sagte Theo. Dann senkte er die Stimme und fuhr fort: »Denn wer weiß, wer darin wohnt.«
»Schmidty hat gesagt, Abernathy wird uns nicht behelligen, solange wir nicht in den Wald hineingehen. Und ich kann nicht für euch sprechen, aber ich gehe da nicht hinein«, sagte Garrison. Dann überholte er Lulu und übernahm die Führung.
»Hört ihr das?«, sagte Madeleine panisch, während sie sich mit Insektenspray klatschnass sprühte. »Insekten! Käfer! Sie reden miteinander und machen sich zum Ausschwärmen bereit!«
»Ich höre nichts«, sagte Lulu. »Vielleicht das Keckern von Eichhörnchen, aber das ist alles.«
»Ein Schwarm kommt auf uns zu! Hört ihr, Leute? Eine Plage!«, schrie Madeleine.
»Eine Plage?«, fragte Theo. »Eine Plage bringt nie etwas Gutes. Es gibt nie eine Glücksplage oder eine Sicherheitsplage. Immer nur schlechtes Zeug. Erinnert sich jemand an die Beulenpest?«
»Madeleine«, sagte Garrison fest. »Du musst dich zusammenreißen. Es gibt keinen Schwarm, keine Plage, nichts.«
»Aber dieses Geräusch!«, jammerte Madeleine hysterisch weiter. »Hört ihr denn das nicht? Das kann doch nicht sein. Es wird jeden Moment lauter!«
»Ich höre kein Geräusch!«, sagte Garrison barsch. »Es ist in deinem Kopf. Du musst dich in den Griff kriegen, sonst bleibt dir und Theo noch das Herz stehen!«
»Sie kommen«, sagte Madeleine mit Tränen in den Augen. »Ich höre ihr Gesumm auf mich zukommen. Sie werden gleich angreifen.«
»Hey«, sagte Theo zu Garrison und Lulu. »Sie sieht aus, als wäre sie sich ziemlich sicher. Vielleicht sollten wir auf sie hören. Vielleicht kommt wirklich eine Plage auf uns zu. Und ihre Antennen sind empfindlicher dafür, weil sie jahrelang nicht ins Freie gegangen ist. Sie ist wie ein Superheld mit einem zusätzlichen Sinn, einem Sinn für Käfer. Das ist doch einleuchtend, oder?«
»Nein«, sagte Lulu entschieden. »Das ist überhaupt nicht einleuchtend.«
»Da sind sie!«, rief Madeleine und raste in Panik los. Gleichzeitig versuchte sie, die Arme und die Beine zu schlenkern und sprühte sich mit Insektenspray ein.
Theo hatte zwar nicht gesehen, wer »sie« waren, aber sein Instinkt sagte ihm, er müsse losrennen, und genau das tat er.
 
»Du machst wohl Witze? Glühwürmchen? Das ist die Plage, die auf uns zukommt?«, sagte Lulu und versuchte, das Lachen zu unterdrücken. »Ihrem Geschrei nach hätte man meinen können, Insekten hätten sich mit Spinnen gepaart!«
»Mach keine Scherze über so was!«, schrie Madeleine. »Das ist Gotteslästerung!«
»Also, um Madeleine gegenüber fair zu sein«, sagte Garrison schuldbewusst, weil er vorher ihre Worte so wegwerfend abgetan hatte, »muss ich zugeben, dass ich Glühwürmchen noch nie in einem so dichten Schwarm habe fliegen sehen. Ich schätze, das kann einen schon gruseln, wenn man nicht darauf vorbereitet ist.«
»Ich finde sie hübsch, wie eine Art Komet«, sagte Theo und beobachtete, wie ein kleiner Schwarm im Wald verschwand.
»Hübsch? Ha! Haben sie nicht Fühler? Viele Beine?
Klebrige Füße? Behaarte Körper?«, fragte Madeleine spitz.
»Keine Sorge«, sagte Theo ruhig. »Sie können dich jedenfalls nicht heimlich anfallen, weil sie ein Licht auf dem Rücken haben.«
»Na ja, das stimmt wohl«, sagte Madeleine und blickte sich vorsichtig um, »aber hübsch würde ich sie trotzdem nicht nennen.«
Die Straße hatte viele enge Haarnadelkurven, sodass die Gruppe nicht weiter als sechs, sieben Meter voraus sehen konnte. Daher war es ein Glück, dass Garrison, Madeleine, Lulu und Theo gerade schwiegen, als sie um die nächste Biegung kamen. Sie brauchten nur die Farbe Lila zu sehen und wussten sofort, das war Munchhauser. Kein anderer trug lilafarbene Anzüge in Massachusetts oder überhaupt in ganz Neuengland.
Nach Jahren auf dem Spielfeld war Garrisons Instinkt hellwach. Er ging sofort hinter einem der vielen Schilder, die vor dem Betreten des Waldes warnten, in Deckung und signalisierte den anderen, sie sollten es genauso machen. Munchhausers hässliches, mürrisches Gesicht verzog sich vor Ärger, als er Makkaroni vom Straßenrand herunterzuzerren versuchte. Er wusste ganz offenkundig nicht, dass das Tier das Gefühl von Kopfsteinpflaster unter den Pfoten nicht mochte.
Munchhauser hielt mit einer Hand die Leine fest und versenkte die andere tief in der Tasche. Dann zog er ein Sandwich heraus.
»Oh nein«, flüsterte Theo Lulu zu. »Was wird er bloß mit dem Sandwich machen?«
»Du machst dir Sorgen um das Sandwich? Was ist denn mit dir los?«
»Nein, nein, ich meinte nur. Natürlich mache ich mir mehr Sorgen um Makkaroni … es war nur eine Frage.«
»Pssst!«, sagte Garrison, während Munchhauser versuchte, Makkaroni auf die Straße zu locken, indem er ihm ein Käsesandwich vor die Nase hielt.
»Lulu, Theo, ihr bleibt hier. Maddie und ich überqueren die Straße. Wenn ich euch ein Zeichen gebe, stürzen wir uns auf ihn. Versucht, an ihm vorbeizukommen, dann können wir ihn in den Wald drängen.«
»Ist das dein bester Vorschlag? Dass wir uns auf ihn stürzen? Er ist ein riesiges, lilafarbenes Ungeheuer und wir sollen uns auf ihn stürzen?«, fragte Lulu.
»Hast du eine bessere Idee?«, fragte Garrison zurück.
»Vielleicht«, sagte Lulu und hielt Garrisons Blick stand.
»Also?«
»Äh, ich dachte … wir könnten … uns … auf ihn stürzen«, musste sie schließlich nachgeben.
»Das dachte ich auch«, sagte Garrison und zog eine Grimasse.
»Das dachte ich auch«, äffte Lulu Garrison nach, als er und Madeleine sich duckten, um die Straße zu überqueren.
»Nachäffen steht dir nicht, so ähnlich wie die Farbe Gelb«, flüsterte Theo, worauf Lulu nur noch die Augen verdrehen konnte.
Nahe dem Grünzeug ringsum begann Madeleine automatisch zu sprühen. Sie war viel zu dicht an den Bäumen, in denen Insekten, Käfer und Spinnen lebten. Sie musste jede mögliche Schutzmaßnahme treffen. Denn nicht alle Geschöpfe waren so freundlich, mit einem Licht auf dem Rücken anzukommen. Sie musste sich auf verdeckte Operationen gefasst machen.
Das Zischen von Madeleines Insektenspray kam Munchhauser seltsam bekannt vor, sodass er von Makkaroni aufblickte. Garrison warf sich auf Madeleine, worauf das Geräusch sofort verstummte. Zwar hasste sie es, dass sie am Sprühen gehindert wurde, aber diese Aktion kam fast schon einer Umarmung nahe, sodass Madeleine sie sehr genoss. Sie war schon immer dankbar für ihren Schleier gewesen, aber in diesem Moment war sie ganz außerordentlich dankbar dafür, denn er verhinderte, dass Garrison ihr feuerrotes Gesicht sah.
»Fünf Hackfleisch-Sandwiches, wenn du einen Schritt auf die Straße machst. Nicht dieses öde Trockenfutter. Ich meine echtes Hackfleisch! Du brauchst dafür nichts weiter zu tun, als einen einzigen Schritt auf die Straße machen«, stieß Munchhauser zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und riss gleichzeitig an der Leine des Hundes. »Weißt du, wie viele Hunde für echtes Rinderhackfleisch töten würden? Weißt du das? Ich wette eine Million Dollar mit dir, dass du davon keine Ahnung hast. Und keine Sorge, wenn du dich irrst, nehme ich es einfach aus deinem Treuhandvermögen«, lachte Munchhauser meckernd vor sich hin.
Garrison beobachtete Munchhauser genau und fürchtete, sein heikler Plan könnte fehlschlagen. Lulu hatte recht, er war wirklich nicht sehr klug oder gar schlau. Andererseits hatten sie einfach keinen anderen. Garrison schwenkte den Arm nach unten und gab damit den anderen das Zeichen, dass es losging. Lulu und Theo versuchten, an Munchhauser vorbeizurennen. Unglücklicherweise verrieten Theos laute Tritte auf dem Pflaster sofort ihre Anwesenheit.
»Geben Sie uns unser Sandwich wieder!«, schrie Theo.
»Theo!«, rief Lulu.
»Ich meine, den Hund! Geben Sie uns unseren Hund zurück!«
Garrison und Madeleine rannten direkt auf Munchhauser zu, der jetzt versuchte, den fülligen Makkaroni hochzuheben. Auch Theo und Lulu rannten weiter. Der Plan schien zu klappen, aber da kam etwas Rötliches, Schwarzes und Wolliges in Massen auf sie herunter. Anscheinend hatte das Gerenne und Geschrei eine Flughörnchenfamilie gestört. Fast auf der Stelle gingen sie im Sturzflug zum Angriff über. Sie warfen sich mutig von den Bäumen herab und schimpften laut, während sie durch die Luft segelten.
Lulu wurde als Erste getroffen und bekam eines voll ins Gesicht. Madeleine schrie vor Schreck, als zwei Flughörnchen sich mit Klauen und Zähnen an ihrem Schleier festhielten. Die Flughörnchen zogen und Madeleine kämpfte tapfer. Sie war keineswegs geneigt, ihren Schleier einfach aufzugeben. Erst als ein drittes und ziemlich dickes Flughörnchen ankam, wurde sie nicht mehr mit ihnen fertig. Die Flughörnchen siegten und sprangen mit dem kostbaren Schleier im Maul auf die Erde. In Sekundenschnelle war der Schleier im Wald verschwunden. Madeleine stand da wie vom Donner gerührt.
Garrison gelang es, zwei Flughörnchen von Theos Rücken zu pflücken und ein besonders hartnäckiges von seinem eigenen Kopf zu lösen. Erst als der Flughörnchenüberfall vorüber war, sahen sie, dass Munchhauser verschwunden war.