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Jeder hat vor etwas Angst: Optophobie ist
die Angst davor, die Augen zu öffnen
Als der Kleinbus anfuhr,
hämmerte Theo mit den Fäusten ans Fenster. Er musste an die vielen
Gefängnisdramen denken, die er mit seiner Großmutter vor ihrem Tod
angeschaut hatte. Panik erfasste Theo, als er sich vorstellte, dass
er seine Mutter vielleicht nie mehr wiedersehen würde. Er vergrub
das Gesicht in den Händen, sehr zum Verdruss von Lulu und Garrison,
die sich vielsagende Blicke zuwarfen. Madeleine schien alles völlig
egal zu sein. Allerdings war es beinahe unmöglich, durch den
Schleier und die Wolke von Insektenspray hindurch ihren
Gesichtsausdruck zu erkennen.
»Hey, ich hab zwar begriffen, dass du Angst vor
Spinnen hast, aber ich kippe von diesen Dämpfen gleich um«, sagte
Garrison.
Madeleine errötete vor Scham und nickte, ehe sie
sich dem Fenster auf der anderen Seite zuwandte.
»Haben Sie ein Handy, Sheriff?«, fragte Theo mit
tränenüberströmtem Gesicht.
»Ja, aber das ist nur für Notfälle.«
»Das ist ein Notfall. Ich muss mich
vergewissern, dass meiner Mom nichts passiert ist.«
»Theo, deiner Mom ist nichts passiert. Sie hatte ja
noch nicht mal Zeit, den Parkplatz zu verlassen! Hör auf zu
heulen!«, rief Lulu.
»Du benimmst dich wie ein Baby«, fügte Garrison
hinzu. »Erbärmlich!«
Theo bemühte sich krampfhaft, mit dem Weinen
aufzuhören, damit Lulu und Garrison ihn nicht noch einmal
anfauchten, aber er schaffte es nicht. Je mehr er sich anstrengte,
desto schwieriger wurde es. Theo schloss die Augen und weinte
weiter.
Die Wochen vor der Abreise zum Phobinasium waren
für Lulu, Madeleine, Theo und Garrison eine Zeit voll Angst und
schlimmer Befürchtungen gewesen. So war es sehr verständlich, dass
die vier nur Minuten nach dem Verlassen des Busbahnhofs fest
schliefen. Madeleines verschleierter Kopf wippte im Rhythmus der
Schlaglöcher vor und zurück. Theo rann ein gleichmäßiger
Speichelfaden aus dem linken Mundwinkel auf sein Hemd. Garrisons
Gesicht war an die Scheibe gedrückt, was die Form seiner Augen und
Ohren verzerrte. Lulu hatte selbst im Schlaf noch eine
missbilligende Miene.
Schrilles Quieken riss die vier wieder aus dem
Schlaf. Einer nach dem anderen öffnete die Augen und wusste nicht,
was los war. Drei kleine, dicke Eichhörnchen schmückten die
Windschutzscheibe des stehenden Vans. Zum Glück waren die pelzigen,
braunen Geschöpfe nicht tot, sondern nur ein wenig benommen. Den
Sheriff brachte das nicht aus der Ruhe. Er drehte sich zu den
Schülern um und zwinkerte ihnen zu.
»Was zum Teufel ist das?«, kreischte Theo.
»Nichts Beängstigendes, nur ein paar fliegende
Eichhörnchen.«
»Verzeihung, Sheriff, ich bin zwar keine Zoologin,
aber ich versichere Ihnen mit allem Respekt, dass Eichhörnchen
nicht fliegen können«, erklärte Madeleine.
»Ja, da hast du recht. Ich sollte sie wohl besser
Flughörnchen nennen. Sie springen von Baum zu Baum und setzen dabei
eine Haut zwischen ihren Vorder- und Hinterpfoten wie einen
Gleitschirm ein. Aber wie ihr seht, können sie nicht besonders gut
zielen. Jedes Mal, wenn ich hier entlangfahre, knallen mindestens
fünf Eichhörnchen gegen meinen Minibus. Zum Glück sind es robuste
kleine Gesellen, sodass es ihnen nicht viel ausmacht.«
»Ein bisschen wie Theo«, murmelte Garrison vor sich
hin.
Theo schnitt Garrison eine Grimasse, aber dann
entdeckte er die Welt außerhalb des Vans. Garrison, Lulu
und Madeleine folgten seinem entgeisterten Blick. Es war so
dunkel, wie man es vielleicht am späten Abend erwarten könnte, aber
nicht am Morgen. Ihre Augen suchten nach einem Stück Himmel, doch
sie sahen keines. Lulu fühlte ein Zucken hinter ihrem linken Auge
und ihre Atemzüge wurden kürzer und mühsamer.
»Sind wir unter der Erde?«, fragte Lulu und fasste
an ihr Auge.
»Ganz und gar nicht, das sind nur Kletterpflanzen,
die kein Licht durchlassen.«
Dicht belaubte Ranken wuchsen zwischen den Bäumen
auf beiden Seiten der Straße nach oben, sodass ein Tunnel
entstand.
»Äh, wann kommen wir hier wieder heraus?«, fragte
Lulu gepresst.
»Sehr bald«, sagte der Sheriff beruhigend und ließ
den Motor an.
Madeleine hob ihren Schleier und kniff die Augen
zusammen, damit sie das Kopfsteinpflaster der Straße besser sehen
konnte. Als wären die dicht stehenden Bäume, die wuchernden
Schlingpflanzen und das Dämmerlicht nicht schon unheimlich genug,
standen noch jede Menge handgeschriebene Schilder herum, die vor
dem Betreten des Waldes warnten.
»Was sind denn das für Kletterpflanzen, die so
dicht wachsen?«, fragte Garrison und strich sich die blonden Locken
aus seiner gebräunten Stirn.
»Klebeschlingpflanzen. Sie können mit ihrem Saft
einen Mann festhalten. Eine Zeit lang hat man daraus einen
extrastarken Klebstoff gewonnen, aber das hat auf Dauer nicht
funktioniert«, sagte der Sheriff vage.
»Was ist passiert?«, fragte Madeleine.
»Hat zu viele Männer gekostet.«
»Sind sie gestorben?«, fragte Theo
verschreckt.
»Schlimmer. Ihre Haare klebten an den
Schlingpflanzen fest. Die Männer mussten sich die Köpfe kahl
rasieren. Manche hatten so hässliche Köpfe mit Dellen, Beulen und
Muttermalen, dass sie von ihren Frauen verlassen wurden. Das sprach
sich herum und bald wollte niemand mehr in die Nähe des Waldes
kommen. Daher musste die Fabrik schließen.«
»Und hier liegt das Phobinasium? Das ist ja nicht
gerade sehr kinderfreundlich«, piepste Theo nervös.
»Keine Sorge, die Schule ist nicht hier unten«,
antwortete der Sheriff ruhig.
Die Straße endete plötzlich auf einer von der Sonne
beschienenen Lichtung am Fuß eines grau gesprenkelten
Granitfelsens, der senkrecht in die Höhe ragte.
»Die Schule liegt oben auf dem Berg. Der Wald
umgibt nur den Felsen«, fuhr der Sheriff fort.
»Was? Und wie kommen wir dort hinauf? Ich bin kein
gelernter Bergsteiger«, sagte Theo mit einem Anflug von Atemnot.
»Ich weiß, dass wir alle irgendwann einmal sterben müssen, aber ich
will nicht beim Hochklettern auf einen Berg sterben und schon gar
nicht ohne Handy.«
»Ruhig Blut, Theo. Ich bin sicher, es gibt irgendwo
eine Treppe oder so was«, sagte Lulu hoffnungsvoll. »Oder womöglich
ein Aufzug? In einen Aufzug steige ich aber nicht ein, Sheriff. Ist
das klar?«
»Wir sind da«, sagte der Sheriff in ein Funkgerät
am Armaturenbrett und drehte sich dann zu Theo und Lulu um. »Ihr
habt mein Wort, dass es weder eine Kletterpartie noch einen Aufzug
gibt.«
Ein unbekanntes Geräusch erschreckte die Schüler
und zerrte weiter an ihren schon blanken Nerven. Das Rasseln von
Metall über ihren Köpfen veranlasste sie, sprachlos an die Decke
des Vans zu starren. Plötzlich hörte der Lärm auf und der Van hob
sich von der Straße, wobei alle Knochen der Schüler durchgerüttelt
wurden.
»Das darf doch nicht wahr sein«, murmelte Theo vor
sich hin, ehe er die Augen schloss, verzweifelt bemüht, seine Lage
auszublenden.
»Wir sind fast da, Kinder«, sagte der Sheriff
aufmunternd, als der Van auf das Hochplateau herabgelassen
wurde.
Das Erste, was sie sahen, als sie die Augen
öffneten, war etwa acht Meter hoch und aus splitterndem Holz
konstruiert. Es war der Kran, der sie auf den Berg gehievt hatte -
und er sah nicht einmal stabil genug aus, einen Blumenstrauß
hochzuheben. Am Fuß des Krans saß in einer kleinen Führerkabine ein
steinalter Mann. Er war vielleicht der älteste Mann im ganzen
Land. Zumindest sah er aus sieben Meter Entfernung
so aus.
»Es muss doch noch einen besseren Weg geben, hier
heraufzukommen«, sagte Lulu.
»Ernsthaft, Sheriff, bauen Sie doch eine Straße!«,
platzte Garrison heraus.
»Wenn etwas nicht kaputt ist, warum soll man es
dann flicken?«, entgegnete der Sheriff.
»Sparen Sie sich Ihre dämlichen Sprichwörter für
jemand anderen. Ich habe mich gefühlt wie ein Fisch, der am
Angelhaken an Land gezogen wird! Schauen Sie sich das Ding doch an.
Wann wurde es zum letzten Mal einer Inspektion unterzogen?«, fragte
Theo ernst. »Ich werde die Baubehörde davon in Kenntnis setzen.
Haben Sie gehört, Sheriff?«
Das Hochplateau war von einer hohen Steinmauer
umgeben, auf der in einer Reihe gespenstisch stille Krähen saßen
und in Richtung des fernen Farmington blickten. Madeleine hatte das
Gefühl, sie wäre auf einer Insel im Himmel, weit weg von allem, was
sie kannte. Sie hoffte, dass die große Höhe und die steilen
Felswände Spinnen und Insekten fernhielten.
Der Van fuhr unter einem Torbogen hindurch, worauf
Summerstone in all seiner Pracht in Sicht kam. Lulu, Madeleine,
Theo und Garrison konnten sich nicht erklären, warum die
kunstvollen Gesimse in der Kalksteinfassade des herrschaftlichen
Hauses oder der scheckige Rasen sie so einschüchterten, aber es war
so.
Selbst die verwilderten Sträucher ließen ihnen die
Nackenhaare zu Berge stehen. Obwohl das Haus unheimlich und in
schlechtem Zustand war, wirkte es aufgrund seiner fantastischen
Architektur und der gewaltigen Größe trotzdem sehr majestätisch.
Ein paar Eimer Farbe und ein Gärtner würden hier Wunder
wirken.
Der Sheriff fuhr langsam einen Kiesweg entlang,
sodass die Kinder ihre Umgebung in sich aufnehmen konnten, ehe er
vor dem Haus anhielt. Ein hölzernes Portal von fast drei Metern
Breite und sieben Metern Höhe mit einem gusseisernen Klopfer in der
Form einer Eule unterstrich den imposanten Eindruck. Rechts und
links der Tür hingen große Glaslaternen an verrosteten
Goldketten.
Der alte Mann, der vorher den Kran bedient hatte,
watschelte die Treppe hinauf und blieb vor dem riesigen Tor stehen.
Im sich schon längst auflösenden Führerschein des Mannes stand
zwar, er sei 1,75 Meter groß, aber aufgrund eines großen Geschwürs
im Nacken maß er nur noch 1,65 Meter. Eine schwarze Polyesterhose,
die von einem Gürtel knapp unterhalb seiner Achselhöhlen gehalten
wurde, ließ seinen Oberkörper kürzer als 15 Zentimeter erscheinen.
Im Laufe der Jahre hatte sich der Bauch des Mannes gerundet, was er
durch das Hochziehen seiner Hosen vergeblich zu verbergen
versuchte. Von noch schlechterem Geschmack als seine Kleidung
zeugte die lange Strähne grauer Haare, die sich wie ein Turban um
seinen Oberkopf
wand. Wenn man sie löste, hing sie ihm bestimmt bis über die
Schulter herab. Seine Frisur war vermutlich die aufwendigste
Verdeckung einer Glatze in ganz Neuengland.
»So, Kinder, wir sind da«, verkündete der Sheriff
vom Fahrersitz aus.
»Was ist denn das für ein komischer Kauz?«, fragte
Garrison den Sheriff.
»Das ist Schmidty, der Hausmeister von
Summerstone.«
»Hier sieht es überhaupt nicht aus wie auf der
Broschüre«, sagte Lulu irritiert.
Madeleine und Theo schwiegen, aber auf ihren
Gesichtern malte sich derselbe schockierte Ausdruck wie auf dem
Lulus. Offenkundig hatten alle vier die gleiche Broschüre mit einem
bildschönen, gepflegten Gelände erhalten, auf dem Kinder
herumrannten und spielten. Das hier war ein abgelegenes, dunkles
Herrenhaus, dessen beste Tage längst vorbei waren.
Eine perplexe Lulu stieg als Erste aus, dicht
gefolgt von dem beunruhigten Theo. Er wollte weinen, aber er
befürchtete, Lulu würde ihn dann wieder ausschimpfen. Sie
schüchterte ihn ein wenig ein. Dann stieg Garrison aus und war
dankbar dafür, dass es hier anscheinend kein Schwimmbecken gab. Nur
Madeleine blieb im Auto sitzen, die Hände brav im Schoß gefaltet.
Als der Sheriff merkte, dass sie sich nicht rührte, streckte er
seinen Kopf ins Auto.
»Sheriff, ich würde lieber hier drin bleiben. Dort
draußen sieht es sehr spinnenfreundlich aus.«
»Ich fürchte, das geht nicht, mein Fräulein. Ich
muss den Van in die Stadt zurückbringen. Aber keine Sorge, Schmidty
wird euch ins Haus bringen und mit eurer Lehrerin bekannt
machen.«
Madeleines Magen drehte sich beinahe um, als sie
über den Sitz kletterte, um auszusteigen. Sie musste nach draußen,
sonst würde sie sich vor Aufregung übergeben. Madeleine stellte
erst den rechten, dann den linken Fuß auf die Stufen. Sie sprühte
ununterbrochen um sich, während der alte Mann die Haustür
öffnete.
»Sheriff, ehe Sie wegfahren, brauche ich Mak
zurück«, erklärte Schmidty würdevoll.
»Natürlich, den hätte ich fast vergessen.«
Der dicke Hund sprang gemächlich unter dem
Fahrersitz hervor in den Nebel hinaus, den Madeleine erzeugt hatte.
Dann stieß er ein tiefes Grollen aus, um seine Kehle frei zu
bekommen.
»Bis in sechs Wochen, Kinder«, sagte der Sheriff
und winkte ihnen zum Abschied zu.
»Sechs Wochen?«, echote Garrison.
Keines der vier Kinder konnte sich vorstellen, es
an diesem Ort auch nur eine Stunde auszuhalten - geschweige denn
sechs Wochen.