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Jeder hat vor etwas Angst: Didaskaleinophobie ist die Angst vor dem Schulbesuch
Um 9 Uhr morgens war der Busbahnhof von Farmington vollkommen leer, bis auf Madeleine, Lulu, Theo, ihre jeweiligen Eltern und Garrison. Dieser saß allein auf einer Bank und las ruhig in seiner Baseball-Zeitschrift, um Madeleines Starren ausblenden zu können. Mr und Mrs Masterson standen neben ihrer Tochter und gaben sich alle Mühe, gleichmäßig zu atmen, während sie große Mengen von Insektenspray versprühte. Die Eltern Punchalower saßen auf einer Bank gegenüber Garrison und machten ernste Gesichter, während Lulu sich auf Theos bebende Wangen konzentrierte. Sie fand es unverzeihlich, in der Öffentlichkeit zu weinen. Sie war eine echte Punchalower. Und Punchalowers weinten nicht. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt Tränendrüsen hatte.
Die hölzerne Rundbogentür des Busbahnhofs öffnete sich mit einem lauten Knarren. Alle vier Kinder drehten sich um und rechneten damit, einen weiteren Schüler des Phobinasiums zu sehen. Ihre Augen fielen zuerst auf dunkelbraune Cowboystiefel, wanderten dann an einer khakifarbenen Hose hinauf und blieben schließlich an einem gewaltig großen Pistolenhalfter hängen. Theos Herz klopfte schnell, wie immer, wenn gefährliche Waffen in der Nähe waren. Er wollte schon losschreien, da fiel ihm ein glänzendes Abzeichen auf der Brust des Mannes auf: Es war der Sheriff. Er war so etwa fünfundvierzig Jahre alt und hatte einen langen Schnurrbart, der ihm über die Mundwinkel herabhing. Der Sheriff räusperte sich, um die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zu ziehen, und hielt dann eine kurze Ansprache.
»Hallo, ich bin Sheriff John McAllister, Ordnungshüter, Hundetrainer und Fahrer des einzigen Transportdienstes der Stadt Farmington in einem. Ich werde euch vier zum Phobinasium bringen, das ein paar Meilen außerhalb liegt. Wie in der Broschüre schon erwähnt wurde, dürfen die Eltern die Schüler nicht zum Schulgelände begleiten. Daher müsst ihr euch hier verabschieden.«
»Hey, Sheriff«, sagte Garrison und hob die Hand. »Müssen wir irgendwo Wasser überqueren? Oder kommen wir in der Nähe von Wasser vorbei?«
»Mein Junge, ich bin über eure Probleme informiert worden und habe Vorsorge getroffen, dass ihr alle eine angenehme Fahrt haben werdet.«
»Hat jemand etwas dagegen, wenn ich das Innere des Autos zuerst mit Insektenspray aussprühe?«
»Ich schätze, du bist Madeleine Masterson - Angst vor Spinnen, Käfern und überhaupt allem, was kriecht.«
»Ganz richtig, Sheriff.«
»Solange niemand Einwände hat, kannst du ruhig drauflossprühen. Es ist der weiße Van vor der Tür.«
»Erwarten wir noch weitere Schüler?«, fragte Lulu hoffnungsvoll.
»Heute fahrt nur ihr vier mit. Denkt daran, dass ihr alle elektronischen Geräte wie Handys, BlackBerrys, Sidekicks, Piepser, Game Boys und so weiter bei euren Eltern lassen müsst.«
Theo öffnete den Mund, verzog dann das Gesicht zu einem lautlosen Aufheulen und klammerte sich panisch an das Bein seiner Mutter. Ein Leben ohne Handy bedeutete, dass er von allem, was ihm lieb war, vollkommen abgeschnitten war, und das konnte er einfach nicht hinnehmen. Theo war vieles, aber ein passiver Beobachter des Lebens war er nicht.
»Mom, bitte lass mir mein Handy. Ich werde es auf stumm schalten und es vor ihnen verstecken. Dieser Mann sieht verdächtig aus, findest du nicht auch? Er sieht ein bisschen so aus wie der Typ, den wir auf dem FBI-Steckbrief der meistgesuchten Verbrecher gesehen haben. Auf den zweiten Blick glaube ich, er ist es sogar. Diese Augen voller Kinderhass würde ich überall wiedererkennen. Ich werde ihn ablenken, solange du das Auto holst. Schnell!«
»Um Himmels willen, Theo, das ist der Sheriff!«
»Das ist doch nur Tarnung - clever, nicht wahr? Aber nicht clever genug, um uns hereinzulegen. Komm, wir verschwinden!«
»Du bleibst schön hier.«
»Erinnerst du dich nicht mehr an das Plakat? Wir sind hier in Gegenwart eines Geisteskranken der gefährlichsten Sorte, der pummelige Kinder mit Brille quält.«
»Ich erinnere mich nicht, dass auf dem Plakat etwas von pummeligen Kindern mit Brille stand.«
»Wir haben keine Zeit, darüber zu diskutieren, wir müssen weg. Ehrlich, wir hätten schon seit drei Sekunden weg sein sollen!«
»Deine Fantasie geht mit dir durch!«
»Manche nennen es Fantasie, andere übersinnliche Wahrnehmung. Willst du deinen jüngsten, empfindsamsten Sohn wirklich diesem Risiko aussetzen?«
»Seit unserem Ausflug in den Yosemite-Nationalpark bin ich mir ganz sicher, dass von übersinnlichen Fähigkeiten keine Rede sein kann. Und jetzt hör mir mal gut zu, du kommst aus dieser Sache hier nicht raus, verstanden?«
»Dann hab wenigstens ein kleines bisschen Mitleid! Lass mich mein Handy behalten!«
Theos rundes Gesicht war voller Angst und Verzweiflung. Mrs Bartholomew hätte ihn gerne etwas beruhigt, aber sie konnte nicht. Im Antragsformular für das Phobinasium hatte es ausdrücklich geheißen, dass alle Regeln und Beschränkungen eingehalten werden mussten. Wenn herauskam, dass ein Kind etwas eingeschmuggelt hatte, wurde es augenblicklich ohne Erstattung von Kosten der Schule verwiesen. Und man musste möglicherweise noch mit rechtlichen Schritten seitens Munchhauser & Sohn rechnen. Zudem war es für Theo wichtig, sich seinen Ängsten zu stellen, wenn er je ein normales Leben führen wollte. Mrs Bartholomew würde es sich nie verzeihen, wenn sie seine Heilung verhinderte, weil sie ihm sein Handy ließ.
»Es tut mir leid, Theo, aber ich kann dir dein Handy nicht lassen.«
Direkt vor dem Busbahnhof war der große weiße Van des Sheriffs geparkt. Er hatte an beiden Seiten dicke schwarze Gummileisten und auf dem Dach einen rostigen Metallhaken, sodass er mehr nach einem Skooter als nach einem normalen Kleinbus aussah.
Madeleine und ihr Vater kletterten in das Fahrzeug und begannen mit dem Aussprühen. Mr Masterson hielt sich einen Zipfel seines Hemdes vors Gesicht und betete, dass dies das letzte Mal sein möge, dass er mit einem Insektenspray hantieren musste.
Lulu stand draußen und erhob Anspruch auf den Platz am Fenster gegenüber der Schiebetür. Sie hatte Angst davor, bei einem Unfall im Auto eingesperrt zu werden, und wollte daher direkt an der Tür sitzen. Garrison starrte auf Theo, der das Bein seiner Mutter umklammerte, das Gesicht von Tränen überströmt. Er selbst hatte zwar Angst vor Wasser, aber dass einer weinte wie ein Baby, konnte er, ganz ähnlich wie Lulu, nicht verstehen. Als Garrison Theo so schluchzen sah, regte sich in ihm ein unbändiges Verlangen, Theo die Regeln des Lebens nahezubringen, vor allem die Regeln der National Baseball Association und der National Football League.
»Keine Sorge, junger Mann, der Sheriff hat mir versichert, dass es auf dem Weg zur Schule kein Wasser gibt. Anscheinend fährt er einen Weg, auf dem der Fluss nicht zu sehen ist«, sagte Mr Masterson und riss damit Garrison aus seiner Konzentration auf Theo.
Mr Masterson und Madeleine waren beinahe fertig mit ihrer Sprühaktion, als sie im Fußraum des Fahrersitzes auf eine rundliche braun-weiße Englische Bulldogge stießen. Madeleine schnappte nach Luft, was den Hund erst munter machte. Er starrte das Mädchen aus Augen mit hängenden Lidern an. Der Hund hatte einen ausgeprägten Unterbiss.
»Sheriff, anscheinend hat sich da ein Hund ins Auto geschlichen«, erklärte Madeleine mit ihrem makellosen britischen Akzent.
»Das ist der Hund von Mrs Wellington, Makkaroni, er ist dabei, um eure Taschen zu überprüfen.«
»Der Hund heißt Makkaroni?«, spottete Lulu.
»Ja, Makkaroni hatte noch einen Gefährten, Käse, aber der ist letztes Jahr gestorben.«
»Sie hat Hunde, die Makkaroni und Käse heißen?«, sagte Garrison. »Irre.«
»Stellt eure Taschen nebeneinander«, wies sie der Sheriff an. »Makkaroni kann elektronische Geräte erschnüffeln.«
Theos kleines Gesicht zuckte panisch, als seine Mutter seine braune Lederschultasche neben die der anderen stellte. Die Tasche war ein Geschenk seines Vaters zu seinem zehnten Geburtstag gewesen. Theo hatte sie sich schon ewig lange gewünscht. Aber als er heute auf das teure Stück starrte, empfand er nichts als Schrecken.
Dann fiel Theo etwas ein. Warum hatte er noch nie etwas von Hunden gehört, die elektronische Geräte erschnüffeln konnten? Warum wurden sie nicht an Flughäfen eingesetzt? Vielleicht war das nur eine ausgeklügelte List, die Schüler dazu bringen sollte, ihre elektronischen Verbindungen zur Außenwelt zu kappen.
Makkaroni watschelte auf Madeleines schwarzgrau karierte Tasche zu und begann, in aller Ruhe zu schnuppern, langsam von oben nach unten. Er schnüffelte hörbar. In jeden Atemzug legte er all seine Energie. Er trottete von Madeleines Gepäck weg, hielt inne und kehrte wieder um. Noch einmal schnupperte er lange und gründlich und näherte sich dann Garrisons weißem Nylonrucksack, auf den ein Miami-Marathon-Logo aufgedruckt war. Makkaroni inspizierte ihn in Rekordtempo. Anscheinend war Nylon viel leichter zu überprüfen. Allerdings leckte Makkaroni einmal mit seiner breiten, dunkelroten Zunge über den Rucksack.
Verständlicherweise runzelte Garrison die Stirn und sagte dann: »Krass.«
Makkaroni behielt sein zügiges Tempo bei Lulus grüner Segeltuchtasche bei. Er schaffte es, in weniger als einer Minute von rechts nach links und von oben nach unten alles abzuschnüffeln. Und erfreulicherweise hielt er es nicht für nötig, seine Zunge zu benutzen. Jetzt war nur noch Theos Schultasche übrig. Makkaroni drosselte seine Geschwindigkeit und schnüffelte jeden Quadratzentimeter der Tasche mit tiefen Atemzügen ab. Fünf, zehn Minuten vergingen, während Makkaroni schnupperte und leckte.
Theo spürte, wie seine Nerven sich langsam beruhigten, da es einfach absurd war, dass ein Hund Elektronik riechen konnte. Er besann sich und dachte, wie schrecklich dumm und leichtgläubig er gewesen war, eine solche Geschichte zu glauben. Der dicke alte Hund konnte wahrscheinlich nicht einmal eine Schüssel voller Batterien riechen, wenn sie direkt vor seiner Nase stand. Ein Lächeln huschte über Theos Gesicht. Plötzlich hielt Makkaroni inne und starrte den Jungen unheilverkündend an. Theos Nerven rissen wie ein alter Kaugummi, als der Sheriff den Reißverschluss der Tasche aufzog und Makkaronis Kopf ins Innere tauchte. Sekunden später kam er mit einer schwarzen Socke in seinem von Speichel triefenden Maul wieder hoch.
»Dieser Hund ist doch offensichtlich unzuverlässig. Er holt Socken heraus«, blaffte Theo und ging mit ausgestreckter Hand auf den Hund zu.
Als er nur noch wenige Zentimeter von der Socke entfernt war, streckte der Sheriff den Arm aus und schnappte sie sich. Er fuhr rasch mit der Hand in die Socke und zog ein flaches, schwarzes Handy heraus. Aller Augen richteten sich auf Theo, der sofort die Hände in die Luft warf.
»Man hat mir eine Falle gestellt!«, rief Theo theatralisch.
»Theo?«, fragte Mrs Bartholomew ungläubig.
»Mom, ich weiß nicht, was diese Leute hier noch für fiese Tricks draufhaben, aber wir müssen schnellstens hier weg«, sagte Theo mit ernster Miene.
»Ich stelle dir diese Frage nur ein einziges Mal: Woher hast du das Handy?«
»Das ist ein abgekartetes Spiel. Der sogenannte Sheriff und der Hund stecken dahinter …« Theo brach ab, lenkte dann unter dem unerbittlichen Blick seiner Mutter ein und sagte: »Es ist unmenschlich, einen ganzen Sommer ohne Telefon zubringen zu müssen. Man braucht ein Telefon. Es ist so notwendig wie Wasser oder Luft!«
»Es tut mir wirklich leid, Sheriff. Ich weiß nicht, woher er dieses Handy hat. Sein eigentliches hatte ich schon an mich genommen«, erklärte Mrs Bartholomew und ignorierte Theo völlig.
»Vom Schwarzmarkt! Ihr habt mich ja gezwungen, dorthin zu gehen«, sagte Theo zornig.
»Du hast es auf der Straße gekauft?«
»Na ja, nicht wirklich. Aber so gut wie.«
»Theo?«, sagte Mrs Bartholomew drohend mit wachsendem Ärger.
»Also gut. Ich hab’s bei eBay gekauft. Das ist auch gefährlich.«
»Um Himmels willen, Theo«, sagte Mrs Bartholomew verlegen.
 
Ohne weitere Umstände hob Madeleine ihren Schleier, küsste ihre Eltern auf die Wange und stieg in den Van. Sie nahm den linken Sitz in der letzten Reihe, zog ihren Schleier herunter und sprühte einen Kreis um ihre Füße. Garrison, der sich von niemandem zu verabschieden brauchte, folgte Madeleine rasch und wählte den Sitz auf der rechten Seite.
Lulu wandte sich ihren Eltern zu und wusste nicht recht, wie sie sich verabschieden sollte. Mr Punchalower entschied die Sache, indem er die linke Hand für einen herzlichen Händedruck von seinem BlackBerry hob. Lulu verdrehte die Augen, schüttelte ihm die Hand und näherte sich ihrer steifen Mutter. Sie glaubte, dass ihre Mutter sie gerne umarmt hätte, sich jedoch vor ihrem Vater nicht traute. Das redete sich Lulu jedenfalls ein, während sie die kalte und knochige Hand ihrer Mutter in der ihren hielt.
Als Lulu ebenfalls saß, umarmte Theo seine Mutter, schluckte die Tränen hinunter und kletterte in den Kleinbus. Dieser Verzicht auf jegliche Dramatik überraschte alle, einschließlich Theo selbst. Vielleicht half ihm diese Reise ja, reifer zu werden. Während ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, presste er sein Gesicht an die Scheibe und heulte los. Ganz offensichtlich musste die Reife noch etwas warten.