7
Jeder hat vor etwas Angst:
Didaskaleinophobie ist die Angst vor dem Schulbesuch
Um 9 Uhr morgens war der
Busbahnhof von Farmington vollkommen leer, bis auf Madeleine, Lulu,
Theo, ihre jeweiligen Eltern und Garrison. Dieser saß allein auf
einer Bank und las ruhig in seiner Baseball-Zeitschrift, um
Madeleines Starren ausblenden zu können. Mr und Mrs Masterson
standen neben ihrer Tochter und gaben sich alle Mühe, gleichmäßig
zu atmen, während sie große Mengen von Insektenspray versprühte.
Die Eltern Punchalower saßen auf einer Bank gegenüber Garrison und
machten ernste Gesichter, während Lulu sich auf Theos bebende
Wangen konzentrierte. Sie fand es unverzeihlich, in der
Öffentlichkeit zu weinen. Sie war eine echte Punchalower. Und
Punchalowers weinten nicht. Sie war sich nicht einmal sicher, ob
sie überhaupt Tränendrüsen hatte.
Die hölzerne Rundbogentür des Busbahnhofs öffnete
sich mit einem lauten Knarren. Alle vier Kinder drehten sich um und
rechneten damit, einen weiteren Schüler des Phobinasiums zu sehen.
Ihre Augen fielen zuerst auf dunkelbraune Cowboystiefel, wanderten
dann an einer khakifarbenen Hose hinauf und blieben schließlich an
einem gewaltig großen Pistolenhalfter hängen. Theos Herz klopfte
schnell, wie immer, wenn gefährliche Waffen in der Nähe waren. Er
wollte schon losschreien, da fiel ihm ein glänzendes Abzeichen auf
der Brust des Mannes auf: Es war der Sheriff. Er war so etwa
fünfundvierzig Jahre alt und hatte einen langen Schnurrbart, der
ihm über die Mundwinkel herabhing. Der Sheriff räusperte sich, um
die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zu ziehen, und hielt
dann eine kurze Ansprache.
»Hallo, ich bin Sheriff John McAllister,
Ordnungshüter, Hundetrainer und Fahrer des einzigen
Transportdienstes der Stadt Farmington in einem. Ich werde euch
vier zum Phobinasium bringen, das ein paar Meilen außerhalb liegt.
Wie in der Broschüre schon erwähnt wurde, dürfen die Eltern die
Schüler nicht zum Schulgelände begleiten. Daher müsst ihr euch hier
verabschieden.«
»Hey, Sheriff«, sagte Garrison und hob die Hand.
»Müssen wir irgendwo Wasser überqueren? Oder kommen wir in der Nähe
von Wasser vorbei?«
»Mein Junge, ich bin über eure Probleme informiert
worden und habe Vorsorge getroffen, dass ihr alle eine angenehme
Fahrt haben werdet.«
»Hat jemand etwas dagegen, wenn ich das Innere des
Autos zuerst mit Insektenspray aussprühe?«
»Ich schätze, du bist Madeleine Masterson - Angst
vor Spinnen, Käfern und überhaupt allem, was kriecht.«
»Ganz richtig, Sheriff.«
»Solange niemand Einwände hat, kannst du ruhig
drauflossprühen. Es ist der weiße Van vor der Tür.«
»Erwarten wir noch weitere Schüler?«, fragte Lulu
hoffnungsvoll.
»Heute fahrt nur ihr vier mit. Denkt daran, dass
ihr alle elektronischen Geräte wie Handys, BlackBerrys, Sidekicks,
Piepser, Game Boys und so weiter bei euren Eltern lassen
müsst.«
Theo öffnete den Mund, verzog dann das Gesicht zu
einem lautlosen Aufheulen und klammerte sich panisch an das Bein
seiner Mutter. Ein Leben ohne Handy bedeutete, dass er von allem,
was ihm lieb war, vollkommen abgeschnitten war, und das konnte er
einfach nicht hinnehmen. Theo war vieles, aber ein passiver
Beobachter des Lebens war er nicht.
»Mom, bitte lass mir mein Handy. Ich werde es auf
stumm schalten und es vor ihnen verstecken. Dieser Mann sieht
verdächtig aus, findest du nicht auch? Er sieht ein bisschen so aus
wie der Typ, den wir auf dem FBI-Steckbrief der meistgesuchten
Verbrecher gesehen haben. Auf den zweiten Blick glaube ich, er
ist es
sogar. Diese Augen voller Kinderhass würde ich überall
wiedererkennen. Ich werde ihn ablenken, solange du das Auto holst.
Schnell!«
»Um Himmels willen, Theo, das ist der
Sheriff!«
»Das ist doch nur Tarnung - clever, nicht wahr?
Aber nicht clever genug, um uns hereinzulegen. Komm, wir
verschwinden!«
»Du bleibst schön hier.«
»Erinnerst du dich nicht mehr an das Plakat? Wir
sind hier in Gegenwart eines Geisteskranken der gefährlichsten
Sorte, der pummelige Kinder mit Brille quält.«
»Ich erinnere mich nicht, dass auf dem Plakat etwas
von pummeligen Kindern mit Brille stand.«
»Wir haben keine Zeit, darüber zu diskutieren, wir
müssen weg. Ehrlich, wir hätten schon seit drei Sekunden weg sein
sollen!«
»Deine Fantasie geht mit dir durch!«
»Manche nennen es Fantasie, andere übersinnliche
Wahrnehmung. Willst du deinen jüngsten, empfindsamsten Sohn
wirklich diesem Risiko aussetzen?«
»Seit unserem Ausflug in den Yosemite-Nationalpark
bin ich mir ganz sicher, dass von übersinnlichen Fähigkeiten keine
Rede sein kann. Und jetzt hör mir mal gut zu, du kommst aus dieser
Sache hier nicht raus, verstanden?«
»Dann hab wenigstens ein kleines bisschen Mitleid!
Lass mich mein Handy behalten!«
Theos rundes Gesicht war voller Angst und
Verzweiflung. Mrs Bartholomew hätte ihn gerne etwas beruhigt, aber
sie konnte nicht. Im Antragsformular für das Phobinasium hatte es
ausdrücklich geheißen, dass alle Regeln und Beschränkungen
eingehalten werden mussten. Wenn herauskam, dass ein Kind etwas
eingeschmuggelt hatte, wurde es augenblicklich ohne Erstattung von
Kosten der Schule verwiesen. Und man musste möglicherweise noch mit
rechtlichen Schritten seitens Munchhauser & Sohn rechnen. Zudem
war es für Theo wichtig, sich seinen Ängsten zu stellen, wenn er je
ein normales Leben führen wollte. Mrs Bartholomew würde es sich nie
verzeihen, wenn sie seine Heilung verhinderte, weil sie ihm sein
Handy ließ.
»Es tut mir leid, Theo, aber ich kann dir dein
Handy nicht lassen.«
Direkt vor dem Busbahnhof war der große weiße Van
des Sheriffs geparkt. Er hatte an beiden Seiten dicke schwarze
Gummileisten und auf dem Dach einen rostigen Metallhaken, sodass er
mehr nach einem Skooter als nach einem normalen Kleinbus
aussah.
Madeleine und ihr Vater kletterten in das Fahrzeug
und begannen mit dem Aussprühen. Mr Masterson hielt sich einen
Zipfel seines Hemdes vors Gesicht und betete, dass dies das letzte
Mal sein möge, dass er mit einem Insektenspray hantieren
musste.
Lulu stand draußen und erhob Anspruch auf den Platz
am Fenster gegenüber der Schiebetür. Sie hatte
Angst davor, bei einem Unfall im Auto eingesperrt zu werden, und
wollte daher direkt an der Tür sitzen. Garrison starrte auf Theo,
der das Bein seiner Mutter umklammerte, das Gesicht von Tränen
überströmt. Er selbst hatte zwar Angst vor Wasser, aber dass einer
weinte wie ein Baby, konnte er, ganz ähnlich wie Lulu, nicht
verstehen. Als Garrison Theo so schluchzen sah, regte sich in ihm
ein unbändiges Verlangen, Theo die Regeln des Lebens nahezubringen,
vor allem die Regeln der National Baseball Association und
der National Football League.
»Keine Sorge, junger Mann, der Sheriff hat mir
versichert, dass es auf dem Weg zur Schule kein Wasser gibt.
Anscheinend fährt er einen Weg, auf dem der Fluss nicht zu sehen
ist«, sagte Mr Masterson und riss damit Garrison aus seiner
Konzentration auf Theo.
Mr Masterson und Madeleine waren beinahe fertig mit
ihrer Sprühaktion, als sie im Fußraum des Fahrersitzes auf eine
rundliche braun-weiße Englische Bulldogge stießen. Madeleine
schnappte nach Luft, was den Hund erst munter machte. Er starrte
das Mädchen aus Augen mit hängenden Lidern an. Der Hund hatte einen
ausgeprägten Unterbiss.
»Sheriff, anscheinend hat sich da ein Hund ins Auto
geschlichen«, erklärte Madeleine mit ihrem makellosen britischen
Akzent.
»Das ist der Hund von Mrs Wellington, Makkaroni, er
ist dabei, um eure Taschen zu überprüfen.«
»Der Hund heißt Makkaroni?«, spottete
Lulu.
»Ja, Makkaroni hatte noch einen Gefährten, Käse,
aber der ist letztes Jahr gestorben.«
»Sie hat Hunde, die Makkaroni und Käse heißen?«,
sagte Garrison. »Irre.«
»Stellt eure Taschen nebeneinander«, wies sie der
Sheriff an. »Makkaroni kann elektronische Geräte
erschnüffeln.«
Theos kleines Gesicht zuckte panisch, als seine
Mutter seine braune Lederschultasche neben die der anderen stellte.
Die Tasche war ein Geschenk seines Vaters zu seinem zehnten
Geburtstag gewesen. Theo hatte sie sich schon ewig lange gewünscht.
Aber als er heute auf das teure Stück starrte, empfand er nichts
als Schrecken.
Dann fiel Theo etwas ein. Warum hatte er noch nie
etwas von Hunden gehört, die elektronische Geräte erschnüffeln
konnten? Warum wurden sie nicht an Flughäfen eingesetzt? Vielleicht
war das nur eine ausgeklügelte List, die Schüler dazu bringen
sollte, ihre elektronischen Verbindungen zur Außenwelt zu
kappen.
Makkaroni watschelte auf Madeleines schwarzgrau
karierte Tasche zu und begann, in aller Ruhe zu schnuppern, langsam
von oben nach unten. Er schnüffelte hörbar. In jeden Atemzug legte
er all seine Energie. Er trottete von Madeleines Gepäck weg, hielt
inne und kehrte wieder um. Noch einmal schnupperte er
lange und gründlich und näherte sich dann Garrisons weißem
Nylonrucksack, auf den ein Miami-Marathon-Logo aufgedruckt
war. Makkaroni inspizierte ihn in Rekordtempo. Anscheinend war
Nylon viel leichter zu überprüfen. Allerdings leckte Makkaroni
einmal mit seiner breiten, dunkelroten Zunge über den
Rucksack.
Verständlicherweise runzelte Garrison die Stirn und
sagte dann: »Krass.«
Makkaroni behielt sein zügiges Tempo bei Lulus
grüner Segeltuchtasche bei. Er schaffte es, in weniger als einer
Minute von rechts nach links und von oben nach unten alles
abzuschnüffeln. Und erfreulicherweise hielt er es nicht für nötig,
seine Zunge zu benutzen. Jetzt war nur noch Theos Schultasche
übrig. Makkaroni drosselte seine Geschwindigkeit und schnüffelte
jeden Quadratzentimeter der Tasche mit tiefen Atemzügen ab. Fünf,
zehn Minuten vergingen, während Makkaroni schnupperte und
leckte.
Theo spürte, wie seine Nerven sich langsam
beruhigten, da es einfach absurd war, dass ein Hund Elektronik
riechen konnte. Er besann sich und dachte, wie schrecklich dumm und
leichtgläubig er gewesen war, eine solche Geschichte zu glauben.
Der dicke alte Hund konnte wahrscheinlich nicht einmal eine
Schüssel voller Batterien riechen, wenn sie direkt vor seiner Nase
stand. Ein Lächeln huschte über Theos Gesicht. Plötzlich hielt
Makkaroni inne und starrte den Jungen unheilverkündend an. Theos
Nerven rissen wie ein alter
Kaugummi, als der Sheriff den Reißverschluss der Tasche aufzog und
Makkaronis Kopf ins Innere tauchte. Sekunden später kam er mit
einer schwarzen Socke in seinem von Speichel triefenden Maul wieder
hoch.
»Dieser Hund ist doch offensichtlich unzuverlässig.
Er holt Socken heraus«, blaffte Theo und ging mit ausgestreckter
Hand auf den Hund zu.
Als er nur noch wenige Zentimeter von der Socke
entfernt war, streckte der Sheriff den Arm aus und schnappte sie
sich. Er fuhr rasch mit der Hand in die Socke und zog ein flaches,
schwarzes Handy heraus. Aller Augen richteten sich auf Theo, der
sofort die Hände in die Luft warf.
»Man hat mir eine Falle gestellt!«, rief Theo
theatralisch.
»Theo?«, fragte Mrs Bartholomew ungläubig.
»Mom, ich weiß nicht, was diese Leute hier noch für
fiese Tricks draufhaben, aber wir müssen schnellstens hier weg«,
sagte Theo mit ernster Miene.
»Ich stelle dir diese Frage nur ein einziges Mal:
Woher hast du das Handy?«
»Das ist ein abgekartetes Spiel. Der sogenannte
Sheriff und der Hund stecken dahinter …« Theo brach ab, lenkte dann
unter dem unerbittlichen Blick seiner Mutter ein und sagte: »Es ist
unmenschlich, einen ganzen Sommer ohne Telefon zubringen zu müssen.
Man braucht ein Telefon. Es ist so notwendig wie Wasser oder
Luft!«
»Es tut mir wirklich leid, Sheriff. Ich weiß nicht,
woher er dieses Handy hat. Sein eigentliches hatte ich schon an
mich genommen«, erklärte Mrs Bartholomew und ignorierte Theo
völlig.
»Vom Schwarzmarkt! Ihr habt mich ja gezwungen,
dorthin zu gehen«, sagte Theo zornig.
»Du hast es auf der Straße gekauft?«
»Na ja, nicht wirklich. Aber so gut wie.«
»Theo?«, sagte Mrs Bartholomew drohend mit
wachsendem Ärger.
»Also gut. Ich hab’s bei eBay gekauft. Das ist auch
gefährlich.«
»Um Himmels willen, Theo«, sagte Mrs Bartholomew
verlegen.
Ohne weitere Umstände hob Madeleine ihren
Schleier, küsste ihre Eltern auf die Wange und stieg in den Van.
Sie nahm den linken Sitz in der letzten Reihe, zog ihren Schleier
herunter und sprühte einen Kreis um ihre Füße. Garrison, der sich
von niemandem zu verabschieden brauchte, folgte Madeleine rasch und
wählte den Sitz auf der rechten Seite.
Lulu wandte sich ihren Eltern zu und wusste nicht
recht, wie sie sich verabschieden sollte. Mr Punchalower entschied
die Sache, indem er die linke Hand für einen herzlichen Händedruck
von seinem BlackBerry hob. Lulu verdrehte die Augen, schüttelte ihm
die Hand und näherte sich ihrer steifen Mutter. Sie
glaubte, dass ihre Mutter sie gerne umarmt hätte, sich jedoch vor
ihrem Vater nicht traute. Das redete sich Lulu jedenfalls ein,
während sie die kalte und knochige Hand ihrer Mutter in der ihren
hielt.
Als Lulu ebenfalls saß, umarmte Theo seine Mutter,
schluckte die Tränen hinunter und kletterte in den Kleinbus. Dieser
Verzicht auf jegliche Dramatik überraschte alle, einschließlich
Theo selbst. Vielleicht half ihm diese Reise ja, reifer zu werden.
Während ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, presste er sein
Gesicht an die Scheibe und heulte los. Ganz offensichtlich musste
die Reife noch etwas warten.