Kapitel 5
In dem ein Gemälde kritisiert wird
Max hielt sich im Schatten und passte seine leisen Schritte den Geräuschen der Nachttiere und dem Rauschen des Windes an, der durch die Bäume strich.
Es war fast zwei Jahre her, als er das letzte Mal über den gestutzten Rasen von St. Heath’s Row und an den gepflegten Eibenhecken entlanggeschlichen war. Damals hatte er keine Schwierigkeiten gehabt, ins Gebäude einzudringen, denn Victoria hatte alle Dienstboten am Abend weggeschickt.
Auch sie hatte auf die Rückkehr ihres Mannes gewartet.
Max war Rockley durch das Haus gefolgt, ohne dass der Vampir, den nur das Verlangen nach dem Blut seiner Frau vorantrieb, ihn sah oder bemerkte. Er hätte die Kreatur bei mehr als einer Gelegenheit pfählen können – gleich an der Pforte des Anwesens, als Rockley die Schwelle zu seinem eigenen Haus überschritten hatte, als er die Treppe hochstieg, weil ihn der Geruch und der Herzschlag von Victoria anzogen.
Aber Max hatte gewartet.
Und war ihm gefolgt, hatte gelauscht und war vor der Tür stehen geblieben, die Rockley offen gelassen hatte. Die Tür, die in das Zimmer führte, in welchem sie schlief.
Die Geräusche, das unmissverständliche Rascheln von Laken, Seufzern, leisem Murmeln und unregelmäßigen Atemzügen brachten ihn schließlich doch dazu, in den Raum zu schauen. Den Pflock fest umklammert spannte Max sich an und verspürte bittere Enttäuschung … sowie einen Anflug von Selbstgerechtigkeit. Es war doch richtig gewesen zu kommen, denn er war bereit, das zu tun, was getan werden musste. Das, wofür sie einfach zu blind und zu schwach war …
Dann sah er, wie sie weit ausholte. Ihr eleganter, schlanker Arm war im Mondlicht deutlich über den zerwühlten Laken zu sehen. Und sie stieß den Pflock ins Dunkel.
Er sah silberne Asche aufblitzen, hörte das leise Schluchzen und senkte seinen Pflock.
Als sie sich schließlich aufsetzte, wallten ihr die üppigen, schwarzen Locken über die Schultern und das hauchdünne weiße Nachthemd. In dem Moment grub sich das Bild aus blasser Haut, traurigen Augen und Tränen unauslöschlich in seine Erinnerung. Er würde niemals ihr in Mondlicht getauchtes Antlitz mit der verzweifelten, aber dennoch entschlossenen Miene vergessen, als sie sich zu ihm umdrehte.
Endlich hatte auch sie es begriffen.
Und das war der Augenblick, in dem sich alles für ihn veränderte.
Heute Nacht wollte und musste er nicht ins Haus. Sein Ziel war vielmehr die kleine Kapelle auf dem Anwesen, und er hielt auf dieses Backsteingebäude zu, nachdem er das Wohnhaus umrundet hatte.
Die hölzernen Türen hatten einen Rundbogen; überraschenderweise waren sie nicht abgeschlossen. Sie gaben nur ein leises Knirschen von sich, als Max sie aufzog und hindurchschlüpfte.
Es war ein kleiner Raum, in den er kam, und der kaum größer war als ein Salon. Auf jeder Seite des Gangs gab es vier Reihen mit Bänken, auf denen rote Samtkissen lagen. Unterschiedlich lange und dicke Kerzen brannten auf dem Altar und auf dem Boden. Der in weiße Tücher gehüllte Leichnam lag auf einem Tisch in der Mitte des Podiums. Weihrauch brannte in einer flachen Schale und vermischte sich mit dem Duft des Moschusbalsams, der aus den Leichentüchern aufstieg.
»Max.« Kritanu kam geschmeidig hoch. Trotz seiner siebzig Jahre war er so beweglich und stark wie ein Mann, der nur halb so alt war wie er. Sein tiefschwarzes Haar hatte bis zum Tod von Eustacia vor sechs Monaten kein einziges graues Haar aufgewiesen. Erst dann hatte er plötzlich über Nacht eine weiße Strähne bekommen. Auch an seinem Gesicht war die Tiefe seiner Trauer abzulesen: eingefallene dunkle Wangen, Haut, die sich so straff über den Knochen spannte, dass sie glänzte und sein kräftiges Kinn noch mehr betonte. »Es ist zu gefährlich für dich. Du musstest nicht herkommen.«
»Natürlich musste ich.« Mit seinen langen Beinen durchmaß Max den Gang. Am Altar blieb er stehen und musterte den Körper des Mannes, der acht Jahre lang sein Gefährte gewesen war.
Der Tod war nichts Neues in seiner Welt. Sogar sein eigener Tod barg keine Schrecken für ihn. Er hatte ihn sich mehr als einmal herbeigesehnt. Eustacia hatte gemeint, das wäre einer der Gründe, warum er als Venator so erfolgreich war.
Aber es bedeutete nicht, dass er den Tod eines Freundes nicht bedauert hätte.
Nachdem er für den Toten gebetet und innere Einkehr gehalten hatte, drehte er sich zu Kritanu um. »Es tut mir leid.« Diese schlichten Worte sagten so vieles.
Die Augen des Älteren leuchteten, denn er verstand. Der Schein der Kerzen spiegelte sich in seinen schwarzen Augen wider. »Briyani hatte seine Wahl getroffen, Max, genau wie du. Er wusste um die Gefahren, als er bei dir blieb. Ich bin froh, dass er es getan hat. Du solltest nicht allein sein.«
Max’ Lippen verzogen sich zu einem freudlosen Lächeln. »Und du auch nicht.«
»Du hast dich einer großen Gefahr ausgesetzt, indem du heute Abend hierhergekommen bist. Ich habe dir schon einmal gesagt, dass das nicht notwendig war.«
»Ich wollte ihn sehen. Um mich zu verabschieden.« Was er bei Eustacia nicht hatte tun können. Oder Vater. Oder seiner Schwester Giulia. »Ich weiß, was ich tun muss, um nicht gesehen zu werden.«
»Und was ist mit Victoria?«
»Sie ist offensichtlich anderweitig beschäftigt.«
Kritanu schaute ihn an, und etwas, das verdächtig nach Mitleid aussah, zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Du wirst ihr nicht sagen, dass du hier bist?«
»Ich habe kein Verlangen danach, wieder herumkommandiert zu werden und nach ihrer Pfeife zu tanzen. Ich bin kein Venator mehr und deshalb weder für sie noch für einen von euch von Nutzen.«
»Warum bist du dann nach London gekommen? Die Welt ist groß, und es gibt viele Orte, an denen man sich vor Lilith verstecken kann, und auf die sie nie kommen würde.«
Das wusste keiner besser als Max. Aber er war gezwungen gewesen, nach London zu kommen, so dumm das auch sein mochte.
Genauso gut hätte er auch gehen können, denn ihm war sehr wohl bewusst, dass es für alle sicherer war, wenn er nach Spanien, Dänemark oder Amerika oder gar in die Wildnis Afrikas ging. Dort würde Lilith ihn niemals finden. Aber Vioget hatte seine Sorge um Victoria laut werden lassen, sodass Max eigentlich keine andere Wahl gehabt hatte, als sich selbst davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war.
Und offensichtlich nahm Vioget seine Aufgabe als Beschützer immer noch sehr ernst.
Zumindest das musste Max ihm zugestehen.
Er merkte, dass Kritanu ihn immer noch ansah, und wählte ein etwas unverfänglicheres Thema. »Briyani und ich waren in Vauxhall, um nach Vampiren Ausschau zu halten, als wir voneinander getrennt wurden. Ich habe ein paar Untote aufgespürt, aber er kam nicht in unsere Zimmer zurück. Stunden später war ich wieder in Vauxhall, konnte aber keine Spur von ihm finden.«
»Briyani wollte ein Venator werden«, sagte Kritanu. »Zwar war er ein besserer Komitator, als er als Venator hätte sein können, aber er bereitete sich auf die Prüfung zur Erlangung der vis bulla vor. Ich glaube nicht, dass er es geschafft hätte, denn er war zwar ein sehr tapferer und erfahrener Kämpfer, doch fehlten ihm viele notwendige Eigenschaften … unter anderem, unter Druck einen kühlen Kopf zu bewahren.«
Max sah den in Tücher gewickelten Leichnam an. Wieder stieg Trauer in ihm auf, jetzt noch stärker. »Ich wusste nichts von seinen Plänen.« Die Erinnerung an seine eigene Prüfung, bei der er gewusst hatte, dass er sie entweder bestand oder sterben würde, blitzte auf. Er war eher darauf vorbereitet gewesen zu sterben als die Prüfung erfolgreich zu absolvieren, denn im Verlauf der Jahrhunderte hatten es nur fünf Männer ohne Gardella-Blut geschafft, eine vis bulla zu bekommen.
Kritanu wandte sich von seinem Neffen ab und schaute Max an. »Was macht dein Training?«
»Ich habe es in letzter Zeit vernachlässigt.« Doch sein Körper verlangte danach – dem schnellen, gezielten Ausholen mit dem kadhara-Messer, den Tritten, Sprüngen und Stößen bei einem kalaripayattu-Zweikampf … und besonders das leichtfüßige qinggong, bei dem sein Körper den Boden verließ und förmlich durch die Luft zu schweben schien.
»Warum denn? Nur weil du keine vis bulla mehr hast, wird das, was du über die Jahre gelernt hast, nicht ausgelöscht, Max.«
Das leise Knirschen von Schritten ließ sie zum Eingang der Kapelle schauen, und Max setzte sofort dazu an, sich in die dunkle Nische neben dem Altar zurückzuziehen. Es war besser, wenn Victoria nichts von seiner Anwesenheit erfuhr.
Aber es war nicht Victoria, die auf sie zukam.
»Pesaro. Was für ein unerwartetes Vergnügen«, meinte Sebastian, als er näher kam.
Er bemerkte die leise Verärgerung bei Vioget und sah keinen Grund, warum er nicht darauf herumreiten sollte. »Es ist noch recht früh, um den Abend schon zu beenden, oder? Ich hatte angenommen, dass Sie viel länger beschäftigt sein würden.« Er musterte das gut geschnittene Jackett des anderen und das weiße Hemd, das immer noch zugeknöpft war; allerdings trug sein Gegenüber kein Halstuch mehr.
Vioget runzelte die Stirn, doch dann bedachte er ihn mit einem kühlen Lächeln. »Wenn Sie sich Sorgen um Victoria machen, so erlauben Sie mir, Sie zu beruhigen: Sie befindet sich wohl behütet in ihrem Schlafzimmer. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht.«
»Während sie das Gemälde von Circe und Odysseus betrachtet.« Er ging davon aus, dass das Bild mit dem schweren goldenen Rahmen nicht entfernt worden war. »Nicht unbedingt die gelungenste Wiedergabe des Motivs, aber noch akzeptabel.«
Viogets Miene verfinsterte sich und bestätigte damit Max’ Vermutungen, doch dann verzogen sich seine Lippen wieder zu einem geringschätzigen Lächeln. »Weiß Victoria, dass Sie in London herumschleichen, sich aber nirgendwo zeigen?«
»Es gibt keinen Grund …«
»Da muss ich widersprechen. Sie sollte wissen, dass Sie hier sind, damit Vorkehrungen für Ihre Sicherheit getroffen werden können. Ich werde sie auf jeden Fall über Ihr Hiersein in Kenntnis setzen.« Vioget quoll fast über vor Herablassung und Selbstvertrauen, und Max spürte, wie Schmerz seinen Kiefer durchzuckte, als er die Zähne fest zusammenbiss. »Sie wird sich bestimmt mit eigenen Augen davon überzeugen wollen, dass es Ihnen gut geht, was in Anbetracht von Briyanis Schicksal nur natürlich ist.«
»Das würde Ihnen unendlich viel Freude bereiten, nicht wahr?« Max gab sich keinen Illusionen hin. Vioget wusste, dass es ihm nur zum Vorteil gereichen würde, neben einem geschwächten, vis-bulla-losen Max zu erscheinen, einem Flüchtling, der außer seinem Menschsein nichts mehr vorzuweisen hatte.
Die einzige Erwiderung des Mannes bestand in einem höflichen Lächeln.