Kapitel 9

In dem unsere Heldin wieder verhört wird

Victoria schlief nicht wieder ein, nachdem Max gegangen war.

Stattdessen starrte sie die Decke des Schlafzimmers an, welches einst von Tante Eustacia benutzt worden war. Wie das mit Decken so war, hatte auch diese nichts Interessantes an sich – weder gab es irgendwelche Wandgemälde noch Stuckverzierungen, um den eierschalenfarbenen Anstrich aufzulockern. Sie war flach, ohne Makel oder Löcher.

Also gab es nichts, was Victoria von ihren aufwühlenden Gedanken hätte ablenken können.

Max war irgendwo im Haus. Allein diese Tatsache gab ihr ein komisches Gefühl. Er empfahl ihr doch tatsächlich zu heiraten – oder zumindest eine lang andauernde Affäre einzugehen, um ein Kind zu zeugen – mit einem Mann, den er verabscheute. Dem Mann, der genau genommen seine Schwester umgebracht hatte, indem er sie als Untote der ewigen Verdammnis überantwortete, die Max mit seinem Tun heraufbeschworen hatte. Ein Mann, den Max wegen seiner Feigheit verachtete, der seine Pflichten als Venator nicht hatte auf sich nehmen wollen, der aber mehr als zehn Jahre lang vom Wissen und der Macht, die damit einherging, profitiert hatte.

Ein Mann, mit dem Victoria bei mehr als einer Gelegenheit intim gewesen war, obwohl sie Max gesagt hatte, dass sie Sebastian nicht als ihren Liebhaber betrachtete. Nicht wirklich. Nicht in einer festen Beziehung. Sie war nicht bereit, den Mann zu heiraten.

Seit ihrer ersten Begegnung war Sebastian von einer Aura aus Geheimnis und Unzuverlässigkeit umgeben gewesen. Trotzdem hatte es von ihrer ersten Unterhaltung im Silberkelch an eine Verbindung zwischen ihnen gegeben, eine erotische Spannung, die er nie ungenutzt gelassen hatte. Oder zumindest immer versucht hatte zu nutzen.

Und sie war willig gewesen. Ein paar Mal.

Sie bebte innerlich und lächelte bei der Erinnerung daran.

Um die Wahrheit zu sagen: Er war es gewesen, der sie wieder etwas hatte fühlen lassen, als sie nach Phillips Tod wie betäubt gewesen war. Als sie trauerte, hatte er sie getröstet und ihr wieder ein Gefühl von Lebendigkeit gegeben. Wenn sie wütend war, hatte er sie noch wütender gemacht, hatte die freigesetzte Energie gesteigert und in Leidenschaft verwandelt. Sein Sinn fürs Absurde, seine Fähigkeit, jede Situation so zu steuern, dass die Aussicht bestand, sie zu verführen, sein durchtrainierter, goldener Körper – den er, wie sie sich jetzt mit einem Anflug von Bitterkeit erinnerte, immer gut vor ihr verborgen hatte … bis vor zwei Monaten, als sie entdeckte, dass er eine vis bulla trug.

Nichts konnte etwas an der Tatsache ändern, dass er den Venatoren den Rücken gekehrt hatte. Er hatte jahrelang mit einem mächtigen Vampir zusammengelebt, den er schützte und dem er diente, während er die Vampirjäger aus der Ferne beobachtete.

Er hatte seine Pflicht missachtet.

Ja, er hatte die Frau, die er liebte, töten müssen. Giulia war nicht mehr das Mädchen gewesen, das er gekannt hatte, genau wie Phillip nicht mehr der Mann gewesen war, den sie geheiratet hatte. Es war das Schwerste gewesen, was sie je getan hatte … aber es hatte sie nicht ihre Verantwortung vergessen lassen.

Wenn überhaupt, so hatte es sie nur stärker gemacht und entschlossener, die Untoten zu vernichten.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihre Gedanken. Victoria setzte sich auf, überrascht, dass Verbena sie so früh am Morgen störte. Es war noch nicht einmal neun Uhr. »Ja?«

Verbena steckte ihren orangefarbenen Schopf aus drahtigem Haar zur Tür herein. »Ach, Gott sei Dank, Mylady, Sie sind wach. Es tut mir ja so leid, dass ich Sie störe, aber da steht ein Mann im Vorgarten, der mit Ihnen sprechen will.«

»Wer ist es denn?« Victoria schwang die Beine aus dem Bett und setzte die Füße auf den Boden.

»Ich weiß es nicht, aber er sagt, Sie würden mit ihm reden wollen. Er sagt, er würde den ganzen Tag dableiben, wenn Sie nicht herunterkommen.« Verbena kam mit einem weißen Hemd und Victorias Korsett ins Zimmer herein. »Diese Unverfrorenheit und dieser spitze Zinken. Ich sage Ihnen, der Mann wirkt auf mich wie ein Frettchen.«

Victoria runzelte die Stirn, als sie sich das Nachthemd über den Kopf zog. Währenddessen suchte ihre Zofe schnell ein Kleid heraus, das sich leicht über das Korsett streifen und zuknöpfen ließ, ohne erst noch gedämpft werden zu müssen. Wer immer das war, der unten auf sie wartete … es musste sich um etwas Wichtiges handeln, wenn er sie so früh aufsuchte.

Victoria gingen viele verschiedene Möglichkeiten durch den Kopf, während Verbena ihr half sich schnell anzuziehen und ihr dann das dichte, schwere Haar zu einem lockeren Knoten im Nacken hochsteckte. Schon Minuten später eilte Victoria die Treppe nach unten.

Eines war sicher: Es gab keine andere Dame des ton, die sich so früh am Morgen so schnell hätte anziehen können – ganz abgesehen davon, dass sie überhaupt schon wach war, wenn ein Besucher kam. Und trotzdem ging ihr Gast im Vorgarten ungeduldig auf und ab, als Victoria zu ihm herunterkam.

Sie erkannte den Mann mit dem scharfgeschnittenen Gesicht auf Anhieb, als dieser ohne auch nur die Andeutung einer Verbeugung sagte: »Lady Rockley. Ich habe gehört, dass Sie gestern Abend wieder eine erschütternde Entdeckung gemacht haben. Wie schrecklich für Sie.« Sowohl sein Tonfall als auch sein Auftreten und sogar seine Körperhaltung zeigten, dass seine Worte sarkastisch gemeint waren. Mr. Bemis Goodwins blassgraue Augen blickten sie kalt an. »Und ich bin sicher, dass Sie diese Unterhaltung lieber drinnen führen, als hier draußen in Ihrem Vorgarten.«

Sie war wütend, aber sie verspürte auch ein bisschen Sorge. Der Ausdruck in seinen Augen war misstrauisch. Sie trat zur Seite, damit er eintreten konnte, und deutete auf den Salon. »Was wollen Sie, Mr. Goodwin?«, fragte sie, nachdem sie hinter ihm eingetreten war und die Tür geschlossen hatte.

»Ich habe ein paar Fragen bezüglich Ihres Fundes gestern Abend im Hause von Baron Hungreath.« Er richtete seinen Blick demonstrativ auf einen Stuhl. Victoria beachtete ihn nicht. »Natürlich ist der Magistrat in großer Sorge.«

Victoria, die eigentlich selbst hatte vorschlagen wollen, den Magistrat einzuschalten, hätte sich am liebsten selber getreten. Aber sie nahm davon Abstand und erwiderte stattdessen: »Das sollte er auch. Jemand greift unschuldige Frauen an und misshandelt und tötet sie.«

»Jemand? Oder etwas?« Mr. Goodwins Nase schimmerte wie der Perlmuttstiel eines Löffels.

»Wenn Sie weiterhin nur so vage Äußerungen von sich geben, werde ich meinen Butler anweisen, Sie hinauszubegleiten.«

»Der Magistrat schickt mich, um Ihnen ein paar Fragen zu stellen, Lady Rockley. Es wäre besser, Sie kooperieren. Ich wäre wirklich äußerst betrübt, wenn Sie in Newgate enden und wegen eines … Missverständnisses hinsichtlich der Frage, inwiefern Sie in die Sache verwickelt sind, dort auf den Strick warten müssten. Wie ich gehört habe, ist das sogar für ein Gefängnis ein ziemlich übler Ort.«

»Für wen arbeiten Sie eigentlich?«, fragte sie.

»Na, für den Magistrat natürlich. Obwohl Miss Forrests Familie völlig zu recht am Boden zerstört und entschlossen ist herauszufinden, wer oder was hinter dem schrecklichen Angriff auf ihre Tochter steckt.« Victoria sah, dass er wieder zu dem Stuhl hinsah, aber sie blieb unbeirrt stehen. »Sie sind auf den Leichnam dieser jungen Frau gestoßen, der versteckt hinter dem Schuppen des Gärtners lag. Sie hieß Bertha Flowers.« Er sah sie herausfordernd an, als wollte er prüfen, ob es ihr etwas ausmachte, dass die Frau einen Namen hatte.

»Ja, ich habe sie hinter dem Schuppen gefunden.«

»Was hatten Sie während einer Dinnerparty im Garten zu suchen, Lady Rockley?«

»Ich hatte mich entschuldigt, weil ich an die frische Luft wollte. Es ist eine wunderschöne Gartenanlage.«

»Aber die anderen Gäste spielten Karten. War es da nicht sehr unhöflich von Ihnen, die Feier zu verlassen?«

»Ich dachte, eine der anderen Damen im Garten gesehen zu haben, und wollte mich ihr anschließen.«

»Und wer war das? Laut Lady Hungreath waren bis auf Sie alle anderen Damen im Salon.«

»Miss Sara Regalado aus Rom war nicht im Salon, als ich den Raum verließ.«

»Miss Regalado kehrte zurück, kaum dass Sie den Raum verlassen hatten. Lady Hungreath bemerkte es vor allem deshalb, weil sie eigentlich mit Ihnen gerechnet hatte und ziemlich verwirrt war, als Sie nicht wiederkamen.«

Dann war es also doch nicht Saras rosafarbenes Kleid gewesen, das hinter dem Cupido aufgeblitzt war? Sie hätte es nie geschafft, so schnell in den Salon zurückzukehren, ohne von Victoria gesehen zu werden.

»Woher wussten Sie, wo die Leiche zu finden sein würde?«

»Da ich nicht wusste, dass ich nach einer Leiche suche«, erwiderte Victoria kurz angebunden, »konnte ich auch nicht wissen, wo ich sie finden würde.«

»Sie hatten Blut an Kleidung und Händen, als die Gentlemen Sie fanden. Und Ihr blutbefleckter Schal wurde auch am Tatort gefunden, als wäre er … abgelegt worden. Laut Aussage der Herren haben Sie weder geschrien noch einen anderen Laut des Kummers von sich gegeben. Man hätte Sie bestimmt gehört. Es scheint fast so, als hätten Sie erwartet, die Leiche zu finden, und als hätten Sie auch gewusst, wo Sie suchen müssen.« Er wippte auf den Absätzen zurück, als hätte er eine wichtige Erklärung abgegeben.

»Überall war Blut, Mr. Goodwin. Als ich mich neben dem Mädchen hinkniete, um zu sehen, ob sie tot war …«

»Lady Rockley, ich habe den Zustand der Leiche gesehen. Sie müssten schon sehr dumm sein, wenn Sie glaubten, dass sie noch lebte. Davon abgesehen gibt es wohl kaum eine Frau, die nicht zumindest einen Schreckenslaut von sich geben würde, wenn sie auf eine so übel zugerichtete Leiche stößt.« Er sprach nicht weiter, aber seine ganze Miene drückte Zweifel aus.

»Vielleicht könnten Sie einfach mal aufhören, um den heißen Brei herumzureden, und sagen, was Sie eigentlich meinen«, erwiderte Victoria.

»Na gut, Lady Rockley, dann will ich es so ausdrücken. Ich glaube, dass Sie irgendwie in diese Angriffe verwickelt sind. Entweder sind Sie die Täterin oder Sie stehen in irgendeiner Verbindung mit der Person – oder der Kreatur – wer oder was es auch sein mag.«

»Mr. Goodwin, haben Sie eigentlich eine Vorstellung davon, wie lächerlich Sie sich anhören?« Victoria stellte fest, dass ihr das Lachen leichtfiel, obwohl sich mehr und mehr das Gefühl einer Bedrohung in ihr breitmachte. »Wie sollte eine Frau wie ich einem anderen Menschen solche Verletzungen zufügen?«

»Eine Frau wie Sie?« Mr. Goodwin zog die Augenbrauen so eng zusammen, dass sie ein dunkles V über seiner Nasenwurzel bildeten. »Ich habe das Gefühl, als ob eine Frau wie Sie sehr wohl dazu in der Lage sein könnte.«

Victorias Mund wurde trocken. Wer war dieser Mann? Ein Kältegefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Trotzdem entgegnete sie gefasst: »Mit solchen Anklagen verschwenden Sie nur Zeit und Energie. Das echte Monster, das diese Taten verübt, entgeht Ihnen, während Sie mit dem Finger auf mich zeigen.«

»Natürlich müssen Sie das sagen, Lady Rockley. Sie sind sehr klug, das gestehe ich Ihnen zu. Nach dem, was mit Ihrem Ehemann passiert ist, hatte ich schon erwartet, dass Sie so reagieren würden.«

Sie hatte wohl fragend die Stirn gerunzelt, aber eigentlich verwandelte sich ihre Sorge langsam in Wut auf den dünnen Mann, der da vor ihr stand. Vor Victorias Augen breitete sich ein rötlicher Schleier aus. Sie spürte, wie sich ihre Hände zu Fäusten ballten, wobei sich ihre Nägel tief ins Fleisch bohrten.

»Ja, genau«, fuhr er mit gelassener Stimme fort. »Die Umstände, unter denen Ihr Ehemann verschwand, sind wirklich sehr merkwürdig. Ich werde sie bei meinen Nachforschungen nicht außer Acht lassen. Und glauben Sie ja nicht, dass Ihre gesellschaftliche Stellung Sie in irgendeiner Weise schützen wird, Lady Rockley.«

»Verschwinden Sie aus meinem Haus.«

»Natürlich, Lady Rockley.« Er setzte sich in Richtung Tür in Bewegung und tat dabei so, als hätte er alle Zeit der Welt und als hätte er nicht die geringste Angst vor Victoria. Dabei musste es an ihrem Gesicht abzulesen sein, dass sie kurz davor stand, gewalttätig zu werden, obwohl sie versuchte, ihre Gesichtszüge unter Kontrolle zu behalten. Sie kochte vor Wut, sie spürte, wie ihre Beine unter ihrem Rock bebten und wie sie die Zähne zusammenbiss.

»Erinnern Sie sich noch daran, wie es Baron Chiftons Erben ergangen ist? Und es war noch nicht einmal Mord, Lady Rockley. Er hatte nur etwas Schmuck gestohlen.« Mr. Goodwin lächelte und sah sehr zufrieden aus. »Auf Diebstahl steht immer noch der Strang. Genau wie auf tätlichen Angriff und Beihilfe zum Mord.«

Jetzt lag seine Hand auf dem Türknauf, und er drehte ihn. Dann hielt er, wie schon Max vor ihm heute Morgen, noch einmal inne. »Habe ich erwähnt, dass einer der Dienstboten in St. Heath’s Row mir erzählte, wie Rockley schon Tage, bevor er laut Ihrer Aussage mit der Plentifulle in See stach, das Haus verlassen hatte, nachdem es zu einem lauten Streit zwischen Ihnen beiden gekommen war? Und dass er an dem Tag, an dem er Ihrer Aussage nach in See gestochen sein soll, von demselben Dienstboten dabei gesehen wurde, wie er mitten in der Nacht ins Haus kam? In genau der Nacht, in der Sie alle Dienstboten weggeschickt hatten?«

Er trat durch die Tür, als es vor Victorias Augen zu flimmern begann. Sie spürte, wie heftig ihr Herz schlug und wie ihr Atem immer schneller wurde. Sie wollte auf ihn zugehen … um ihn aufzuhalten. Um ihn daran zu hindern, weiter diese höhnischen Bemerkungen von sich zu geben, diese unterschwelligen Anschuldigungen.

Doch er war noch nicht fertig. »Ich glaube, dass Sie etwas mit seinem Verschwinden zu tun haben, Lady Rockley. Ebenso wie mit den Angriffen auf Miss Forrest und Miss Flowers. Außerdem wurde vor einem Jahr ein Mann in Seven Dials tot aufgefunden. Der Leichnam wies mehrere Messerstiche auf. Ich habe jetzt seit fast einem Jahr auf Ihre Rückkehr aus Italien gewartet.« Er lächelte und zog sich den Hut über sein fettiges, glattes Haar. Dabei sah er sie mit der gleichen Überheblichkeit an, die auch Nedas, Liliths Vampirsohn, an den Tag gelegt hatte. »Ich habe viele Ihres Standes in Newgate hinter Gittern und später auf dem Schafott gesehen. Ich bin der Meinung, dass auch Sie bald in der gleichen Lage sein werden, und dann wird Ihnen Ihre Schönheit nicht mehr viel helfen.«

Damit schloss er die Tür unheilvoll langsam, leise hinter sich.

Trotz der inneren Unruhe, die Mr. Goodwins Besuch bei ihr ausgelöst hatte, war Victoria besonnen genug, Charley, Tante Eustacias vertrauenswürdigen Butler, dem widerwärtigen Mann hinterhergehen zu lassen.

Sobald sie allein im Vestibül stand, schüttelte Victoria die dunklen Vorahnungen und die Wut ab, die sich während der Unterhaltung in ihr angesammelt hatten. Der Schleier vor ihren Augen verflüchtigte sich, und sie sah auf ihre Hände herunter – die eine weich und voller Narben, die andere schwach bläulich verfärbt, als wäre sie zu lange draußen in der Kälte gewesen. Sie sah die Abdrücke, die ihre Nägel hinterlassen hatten, aber sie gingen nicht so tief, als dass Blut hervorgetreten wäre.

Ihre Finger zitterten nicht mehr.

Trotz seiner Drohungen hatte sie nicht wirklich Angst vor dem Bow Street Runner. Was sollte er ihr schon antun können? Sie war nicht nur eine Angehörige des ton, sondern darüber hinaus auch Illa Gardella. Und das Wichtigste: Sie hatte nichts Unrechtes getan. Sie hatte ganz gewiss nichts mit dem Tod von Miss Forrest und Miss Flowers zu tun, und die Sache mit Phillip war etwas ganz anderes.

Aber … da war noch dieser Vorfall in Seven Dials.

Während sie im Vestibül von Tante Eustacias Haus stand, musste sie unwillkürlich an jene Nacht zurückdenken, in der sie auch hier gewesen war. Sie war weit nach Mitternacht, fast schon morgens, nur einen Monat nach Phillips Tod blutbedeckt und innerlich erstarrt durch die Haustür gekommen.

Da sollte kein Blut sein.

Der Satz hallte immer wieder durch ihren Kopf, genau wie damals in jener Nacht. Tante Eustacia, die durch das Kommen ihrer Nichte geweckt worden war, hatte ihr mit ruhigem, dunklem Blick zugehört, während Victoria schilderte, wie sie auf einen großen Mann gestoßen war, der versuchte, ein junges Mädchen in den verdreckten Straßen des Armenviertels von Seven Dials zu vergewaltigen. Es war die erste Nacht seit Phillips Tod, in der sie wieder Jagd auf Untote machte, und die Trauer um ihn und ihr Hass auf sich selbst waren aus ihr hervorgebrochen, als sie den Mann mit bloßen Händen angriff.

Als er sich mit einem Messer in der Hand zu ihr umdrehte, hatte sie ihm die Waffe, mit der sie nicht vertraut war, entwunden und sie gegen ihn verwendet – in einer schrecklichen Parodie der Pfählung eines Untoten hatte sie die Waffe in sterbliches Fleisch und Knochen gestoßen. Der Berserker hatte von ihr Besitz ergriffen.

Der Mann hatte noch geatmet, als sie ihn verließ, aber die Tatsache blieb bestehen, dass Victoria einem Menschen schwere Verletzungen zugefügt hatte. Einem Sterblichen, also der Rasse, deren Schutz sie sich verschrieben hatte.

Nach diesem Vorfall hatte sie ihre vis bulla abgenommen und weggelegt. Sie trauerte ein Jahr lang um Phillip, während sie ihr Verlangen zu bezähmen versuchte, zu vernichten und zu rächen. Das war die Zeit, in der sie erkannte, wie schrecklich und gefährlich die Fähigkeiten und Kräfte waren, die sie als Venator hatte – dass man sie einsetzen konnte, um jene zu vernichten, die sie eigentlich schützen sollte.

Als sie die vis bulla wieder anlegte, tat sie dies im vollen Bewusstsein, wer und was sie war und wo ihre Grenzen lagen. Und mit dem Schwur, dass sie ihre Fähigkeiten nicht gegen Sterbliche einsetzen würde. Das stand ihr nicht zu.

Sie holte tief Luft, nahm die Hände auseinander, um die Finger zu strecken und die Anspannung aus ihnen zu vertreiben. Das Merkwürdigste an der ganzen Geschichte war, dass Mr. Goodwin sogar über den Vorfall in Seven Dials Bescheid wusste. In dem Stadtteil waren Mord und Totschlag doch eigentlich an der Tagesordnung, sie kamen so häufig vor, dass es den Behörden schwerfiel, die Verbrecher vor Gericht zu bringen. Wenn sie überhaupt über jeden Mord und jede Gewalttat in Kenntnis gesetzt wurden – was eigentlich unmöglich war.

Ich habe jetzt seit fast einem Jahr auf Ihre Rückkehr aus Italien gewartet.

Diese Worte hatten sich ihr eingeprägt und einen Kloß in ihrem Hals hinterlassen.

Sie musste herausfinden, wer – oder was – Bemis Goodwin war.