Kapitel 26

Ein Blick von der Tribüne

Max sah, wie das Blut aus den scharlachroten Striemen auf Victorias Haut strömte. Es würde schon sehr bald zu Ende sein. Wie auch immer dieses Ende aussehen mochte.

Zur Hölle mit ihr. Warum in drei Teufels Namen war sie hergekommen?

Als die Hunde die Witterung des frischen Bluts aufnahmen, sprangen sie auf und waren nicht mehr zu halten. Es gab ein wildes Durcheinander, als sie Victoria hinterhersetzten und sich in die Grube warfen, in die sie gestürzt war.

»Öffne die Augen, mein lieber Maximilian«, flüsterte Lilith dicht neben seinem Ohr. Ihr Atem strich heiß über seine Haut, verheißungsvoll … und triefend vor Bosheit. Der Rosenduft, den sie verströmte, war Übelkeit erregend. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass sie da unten stirbt. Ich habe größtes Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Und jetzt komm näher, damit du alles besser beobachten kannst. Sie ist wirklich herrlich.«

Sie gab ihm einen Schubs, und er trat gehorsam nach vorn. Ihm war klar, was Lilith im Sinn hatte, und seine Handflächen wurden schweißnass, während sich in seinem Innern alles aufbäumte. Heiße Tränen stiegen ihm in die Augen. Der silberne Ring zog seine Hand nach unten, war aber trotzdem nutzlos. So verdammt nutzlos.

Hätte auch nur für einen Moment die Möglichkeit bestanden, dicht genug an Victoria heranzukommen, hätte er die Gelegenheit genutzt, um ihre Haut mit dem Giftring aufzuschlitzen und so Lilith um das Vergnügen zu bringen, Victoria bei ihrem Todeskampf zuzuschauen.

Zum Teufel mit dir, Victoria. Warum bist du überhaupt hergekommen? Es hätte schon längst alles vorbei sein können.

Er wollte nicht in die Grube schauen, konnte sich aber auch nicht zurückhalten, es doch zu tun. Du wärest in Sicherheit. Es war ein Gewirr aus gefletschten Zähnen und sich windenden Pelzleibern, schlanken weißen Gliedern und aufblitzender bleicher Haut und Stoff. Victoria hatte ihren Pflock in der Hand. Er sah, wie er sich unbeholfen und verzweifelt hob und senkte, während die Hunde zuschnappten, bissen und sprangen. Er zuckte jedes Mal zusammen, wenn sie keuchte und schrie, und hoffte, wenn einer der Hunde zu jaulen begann. Gott, er hoffte so sehr.

Statt dass alle auf einmal über sie herfielen, schienen die Mastiffs sich abzuwechseln … einer nach dem anderen stürzte sich knurrend auf sie, biss zu und rollte dann weg oder sprang in der Grube zur Seite, damit der Nächste an die Reihe kam. Sie griffen so schnell und erbarmungslos an, dass Max keine Einzelheiten erkennen konnte. Er sah nur, dass Victoria immer noch am Boden lag und es nicht schaffte, sie abzuschütteln und wieder hochzukommen. Auch mit ihrem Pflock hatte sie noch nichts ausrichten können.

Max merkte gar nicht, wie er einen Satz nach vorn machte, bis ein fürchterlicher Ruck an den Handschellen ihn durch die Luft fliegen ließ und ihn zu Boden schleuderte, wobei ihm fast die Schultergelenke ausgekugelt wurden. Er schürfte sich die Haut auf, als er über die rauen Steine rutschte. Blut sickerte aus seinen Wunden, als er schnell wieder an den Rand der Grube krabbelte, während er spürte, wie angestrengte Atemzüge seinen Körper erschütterten. Wenn er es schaffte, nach da unten zu kommen, brauchte er nur einen kurzen Moment, und der Ring würde alles beenden.

Aber wieder gab es einen kräftigen Ruck, und er landete flach auf dem Rücken, wobei sein Kopf auf den Steinboden knallte. Er konnte nur gepresst Luft holen und als er aufschaute, blickte er in Liliths wütendes Gesicht. »Versuch nicht noch einmal etwas so Dummes«, sagte sie. »Sonst lasse ich sie ganz los.«

Max rappelte sich mit schmerzhaft pochendem Kopf und geballten Fäusten wieder auf. Er wollte sie anflehen, seine Lippen formten schon die Worte, er holte Luft, um zu betteln … aber er wusste, dass er nichts erreichen würde. Lilith würde alles nur gierig aufsaugen und ihn wie ein Schoßhündchen tätscheln … um dann doch genau das zu tun, was sie wollte, während sie seinen Schmerz genoss und seine Schwäche benutzte, um ihn zu kontrollieren und sie beide zu vernichten.

Allmächtiger Gott, seine Schwäche bestand in zwei verdammten Frauen. Die eine ein Vampir, die andere ein Venator. Die verführerische Bosheit in Menschengestalt und eine weibliche Kriegerin.

Plötzlich war ein Jaulen zu hören und dann ein leiser Knall. Dann Stille.

Wieder stürzte er an die Kante, schaute hoffend nach unten in die schwarze Dunkelheit … Er sah ihre weißen, blutigen Finger, die sich in die Risse zwischen den Steinen in der Grube bohrten, um sich hochzuziehen. Sie war gar nicht weit von der Kante entfernt, und er griff mit seinen gefesselten Händen nach unten, um ihr zu helfen. Er kümmerte sich nicht darum, dass Lilith hinter ihm stand und triumphierend seine Schwäche beobachtete. Es waren keine Hunde mehr da, nur der Geruch von Vampirasche lag in der Luft.

Victoria brach, als sie oben war, vor Liliths Füßen zusammen. Ihre Kleidung war zerfetzt und voller Blut, ihr Blick trübe, das lange Haar völlig zerzaust, während ihre blutbesprenkelten Finger immer noch den Pflock umklammerten. Trotzdem kam sie taumelnd hoch und blinzelte dabei. Max konnte sehen, dass sie mühsam versuchte, Haltung zu bewahren, versuchte, wieder einen klaren Blick zu bekommen.

Er sah es … konnte den Kampf sehen, der tief in ihr tobte. Das Verlangen weiterzumachen, zu vernichten, auszulöschen. Er ballte die Hände zu Fäusten. Es gab nichts, was man hätte für sie tun können. Sie musste den Kampf alleine durchstehen. Wayren hatte ihm all das erzählt, was Victoria ihm verschwiegen hatte.

Gütiger Himmel, lass sie stark sein.

Sie holte bebend Luft und sah Lilith an. Ihre Augen funkelten vor Wut, aber es war kein Rot darin zu sehen. Noch nicht.

Dem Himmel sei Dank, noch nicht.

Dann war er plötzlich wie elektrisiert und hoffnungsvoll. Er machte sich an seinem Ring zu schaffen, streckte die Hand nach ihr aus, wollte es beenden, ehe sie den schrecklichen Schritt tat … ehe sie noch weiter misshandelt, gequält, verstümmelt, geschlagen … zum Äußersten getrieben wurde.

Aber aufs Neue riss jemand ihn an seinen Ketten zurück, sodass er den Ring loslassen musste und außer Reichweite von Victoria gezogen wurde. Dabei geriet er ins Taumeln und sackte in sich zusammen. Er schloss den Ring, bevor er sich damit ins eigene Fleisch schneiden konnte. Das Gift reichte nur für einen.

»Fantastisch«, sagte Lilith zu Victoria. »Ganz fantastisch, aber etwas anderes hatte ich auch gar nicht von Ihnen erwartet. Und auch ziemlich schnell. Ich hätte eigentlich gedacht, dass Sie länger brauchen würden. Und obwohl ich um den Verlust meiner treuen Gefährten trauere, habe ich so mehr von dem Ganzen«, meinte sie, und die Fangzähne bohrten sich in ihre Lippe, als ihr Lächeln zurückkehrte.

Als wäre das das Stichwort gewesen, öffnete sich jenseits der Grube die Tür, und es kam ein Mann herein, in dem Max Bemis Goodwin wiedererkannte. Er hatte vier weitere geifernde Hunde an der Leine, deren Ohren nach vorn gerichtet waren, und deren Augen rot funkelten, als sie das Blut rochen.

»Und jetzt bringen wir das Ganze zu einem Ende«, sagte Lilith.

Ihre Augen leuchteten, und Max hatte das Gefühl, als müsste er sich gleich übergeben. Der Raum begann sich um ihn zu drehen, und noch einmal versuchte er mit einem Satz zu Victoria zu gelangen, während er die winzige Klinge aus seinem Ring ausklappte. Ein kleiner Schnitt würde genügen, nur ein Kratzer …

Aber irgendetwas packte seinen Knöchel und riss ihn zurück, sodass er zu Boden krachte.

Und dann schrie eine Frau.