11

Die Burg von Arévalo wirkte unmöglich klein und düster. Ich hatte ganz vergessen, wie abgeschnitten von der übrigen Welt das Zuhause unserer Kindheit gewesen war. Gleichwohl empfand ich tiefste Erleichterung, als Alfonso und ich darauf zuritten. Begleitet wurden wir von Beatriz, Alfonsos stets treuem Erzieher Chacón und mehreren Bediensteten. Zum Glück hatte mein Bruder darauf bestanden, die große Schar von Beratern zu entlassen, in deren Mitte er die letzten drei Jahre gelebt hatte.

Carrillo war nicht erbaut von der Entscheidung meines Bruders gewesen, nach Arévalo zurückzukehren. Er hatte Alfonso belehrt, dass es seine Pflicht sei, in Segovia zu bleiben und darüber zu wachen, dass die letzten Spuren von Enriques Macht getilgt wurden. Solange sich unser Halbbruder und Villena auf freiem Fuß befanden, warnte Carrillo, sei Alfonsos Sieg unvollständig.

Doch zu meiner Überraschung und meinem großen Stolz lehnte Alfonso ab. »Enrique hat genug gelitten«, erklärte er dem Erzbischof. »Er lebt jetzt in seinem eigenen Reich im Exil und ist auf die Duldung durch die wenigen Vasallen angewiesen, die ihm noch geblieben sind. Ich werde ihn nicht weiter demütigen. Stattdessen soll für die nächsten sechs Monate ein Waffenstillstand verfügt werden. Lasst ihn wissen, dass ich von weiteren Strafmaßnahmen absehen werde, wenn er bereit ist, unsere Bedingungen zu erfüllen. Bis dahin werde ich Isabella zu einem lange überfälligen Besuch bei unserer Mutter begleiten, die sich um uns sorgt.«

Davon ließ er sich nicht abbringen, auch nicht dadurch, dass Carrillo – leicht aufbrausend und im Ratssaal des Alkazar am ganzen Leib schwitzend – ihm eine ganze Litanei von Aufgaben entgegenschleuderte, die er in seinem Bistum vernachlässigt hätte, nur um sich mit Herz und Seele dem Kampf für Alfonso zu widmen.

»Dann dürft Ihr diese Dinge nicht noch länger liegen lassen«, erwiderte mein Bruder. »Kehrt zurück und kümmert Euch um Eure Diözese in Toledo und um alles andere, was im Argen liegt. Nach dem Tag der Heiligen Drei Könige treffen wir uns in Ávila wieder.«

Er ließ Carrillo mit offenem Mund stehen, nahm mich bei der Hand und führte mich aus dem Saal. »Eine gewisse Erholung voneinander können wir gut gebrauchen«, raunte er mir zu. »Der Mann ist ein fürchterlicher Tyrann.« Zum ersten Mal seit einer schieren Ewigkeit brach ich in unbändiges Lachen aus.

Nur eines verdarb uns den Aufbruch von Segovia. Als Beatriz herbeigeeilt kam, um mich zu warnen, und ich in den Garten hinausstürzte, um das Schlimmste zu verhindern, war es bereits zu spät. Enriques prächtige Leoparden, die in den Kriegsjahren trotz der Fürsorge durch den treuen Cabrera gelitten hatten, lagen von Pfeilen durchbohrt in ihrem Gehege. Als ich dort völlig atemlos ankam, stand Alfonso mit seinem Bogen in der Hand über die gefleckten, mit Blut bedeckten Kadaver gebeugt. Als er aufsah, schrak ich vor dem leeren Ausdruck in seinen Augen zurück.

Cabrera hielt sich in unmittelbarer Nähe auf. Sein Gesicht war aschfahl angesichts des sinnlosen Todes dieser Tiere. Doch als ich gerade zu Vorhaltungen ansetzte, schüttelte er den Kopf. Ohne dass es eines Wortes bedurfte, begriff ich, dass mein Bruder in diesem einen Racheakt den einzigen ihm möglichen Weg gesehen hatte, seiner Wut und seiner Trauer darüber Ausdruck zu verleihen, dass er seine ganze Kindheit mit dem Kampf um ein Erbe verbracht hatte, das von Rechts wegen ihm zustand. Auch wenn er sich Enrique gegenüber gnädig gezeigt hatte, ließ er ihm über die Leoparden eine Botschaft zukommen, die unser Halbbruder nicht ignorieren konnte.

Ich wandte mich ab. Allerdings dauerte es Wochen, bis ich wieder die Augen schließen konnte, ohne die toten Leoparden zu sehen oder den Schmerz zu spüren, der Alfonso zu dieser Tat getrieben hatte.

Aber jetzt waren wir zu Hause. Arévalo war meiner Mutter zurückgegeben worden, und sie war schon aus dem Kloster in Santa Ana heimgekehrt. Als wir unter dem Torhaus hindurch in den Hof ritten, eilten uns unsere Bediensteten, Tränen in den Augen, entgegen, um uns zu begrüßen. Ihre Gesichter waren allesamt gezeichnet von der Zeit und der Ungewissheit, die sie durchlebt hatten.

Fast hätte ich selbst geweint, als Doña Clara mich fest an sich drückte. »Mi querida niña!«, rief sie. »Wie schön Ihr geworden seid – eine erwachsene Frau und ganz so wie Eure Mutter!«

Gerührt legte sie ihre trockenen, knotigen Hände an meine Wangen. Sie war sichtlich gealtert und wirkte jetzt viel zerbrechlicher als die alles beherrschende aya, die ich aus meiner Kindheit in Erinnerung hatte.

»Wie geht es ihr?«, fragte ich.

Sie schüttelte traurig den Kopf. »Doña Elvira ist gestorben, als wir in Santa Ana waren. Die Arme hatte Fieber bekommen. Sie ist ohne Schmerzen verschieden, aber natürlich hat es Eurer Mutter das Herz gebrochen. Sie ist immer noch nicht darüber hinweg, auch wenn sie sich natürlich darauf freut, Euch daheim zu empfangen. Sie wartet im Saal auf Euch.«

»Bringt mich zu ihr«, sagte ich. Ich ließ die anderen zurück – Beatriz in den Armen ihres Vaters Don Bobadilla und Alfonso, der selig grinste, als sein Lieblingshund, Alarcon, an ihm hochsprang und ihm das Gesicht ableckte. Schnurstracks marschierte ich in das Hauptgebäude, wo sich nichts verändert zu haben schien, obwohl zwischendurch Enriques Vasallen dort gehaust hatten.

Als ich meine Mutter vor dem Herd stehen sah, befielen mich lebhafte Erinnerungen an meine Kindheit. Wie oft hatte ich mich ihr voller Bangen vor ihren Anfällen genähert! Ein Rest dieser Angst steckte bis heute in mir und schien mich im Nacken zu kitzeln. Doch im durch die Fenster hereinfallenden safrangelben Septemberlicht sah meine Mutter in ihren festlichen Samtkleidern und mit den matten Juwelen wunderschön aus. Erst als ich sie fast erreicht hatte, bemerkte ich den fiebrigen Glanz ihrer Augen, ein Zeichen dafür, dass sie einen ihrer Beruhigungstränke hatte einnehmen müssen. Und sie war hager geworden – die Schlüsselbeinknochen standen unter dem Hemd hervor, und ihre mit Rubinen besetzten Armbänder klapperten an den zerbrechlichen Handgelenken.

»Hija mia«, seufzte sie mit einem abwesenden Lächeln, als ich sie auf die Wange küsste. Meinen Gruß schien sie gar nicht zu hören; statt auf mich richtete sie den Blick an mir vorbei hinter die Türschwelle, wo Alfonso mit den Dienern, die seine Hunde versorgt hatten, laut lachte.

»Siehst du?« Sie lächelte. »Habe ich dir nicht gesagt, dass Alfonso uns rächen wird? Schau ihn dir nur an! Mein Sohn ist der König von Kastilien. Zu guter Letzt sind wir wieder an unserem Platz eingesetzt worden. Bald können wir auch wieder unseren Rang am Hof einnehmen und diese grässliche Burg für immer verlassen.«

Sie sprach voller Stolz, und als Alfonso zu ihr kam und sie ihn inbrünstig umarmte, erwähnte er das Elend und die Entbehrungen mit keinem Wort. Nach dem Abendessen setzten wir uns vor den Kamin, ich an der Seite meiner Mutter und Beatriz an der ihres Vaters. Während Doña Clara im Hintergrund strickte, unterhielt uns Alfonso mit Geschichten über Heldentaten, die eines El Cid wert waren. In allen Einzelheiten schilderte er uns, wie er sich Enrique allein zum Zweikampf gestellt hatte, und erhob ihre Scharmützel zu einem wahren Epos. Meine Mutter beugte sich weit in ihrem Stuhl vor und klatschte immer wieder in die Hände, um zu zeigen, wie sehr sie die Niederlage des Mannes entzückte, dem sie die Schuld an unserem Leid gab. Mit dem Hereinbrechen der Nacht wurde sie sichtlich müde, sodass Alfonso sie schließlich in ihre Gemächer begleitete. Wie ein Kind klammerte sie sich an seinen Arm und ließ sich führen.

Mir fiel wieder ein, wie er sich früher möglichst weit entfernt von ihr gehalten hatte. In nachdenklichem Schweigen saß ich da, als Beatriz und Bobadilla uns eine gute Nacht wünschten und mich mit meiner aya allein ließen. Diese brach schließlich das Schweigen und sagte: »Alfonso hat sie glücklich gemacht. Manche Mütter wollen nichts mehr als einen Sohn, auf den sie sich stützen können.«

»Aber er hat ihr nicht die Wahrheit gesagt«, entgegnete ich. »Er hat ihr verschwiegen, was wirklich geschehen ist oder was vielleicht noch geschehen wird. Noch ist Alfonso nicht der König von Kastilien.«

»Uns beiden, Euch und mir, ist das klar, aber sie braucht es nicht zu erfahren. Sie wüsste nichts mehr mit der Wahrheit anzufangen.« Doña Clara legte ihr Strickzeug beiseite. »Euch dagegen scheint sie Flügel zu verleihen. Diese innere Stärke, die Ihr schon als Kind bewiesen habt, hat aus Euch einen Menschen gemacht, den sie nicht länger beeinflussen oder beherrschen kann. Seid dankbar, dass Ihr endlich entkommen seid. Bei Eurem Bruder ist sie jetzt besser aufgehoben. Bei ihm findet sie den Trost, den sie nach dieser langen Zeit der Tränen bitter nötig hat.«

Sie erhob sich mühselig und mit einem Stöhnen, wie man es bei alten Leuten oft hört, und schlurfte zur Anrichte, um dort eines der unteren Fächer aufzusperren und eine mit Leder bezogene Messingschatulle herauszunehmen. Damit kehrte sie zu mir zurück und legte sie mir auf den Schoß. Obwohl die Schachtel so wuchtig wirkte, fühlte sie sich erstaunlich leicht an.

»Die Juden bewahren in so etwas gern wichtige Dokumente und Geld auf«, erklärte sie. »Ich habe sie in Ávila für Euch gekauft, als diese Briefe an Euch einzutreffen begannen.«

Meine Hand verharrte auf dem Deckel. »Briefe?«

»Ja.« Sie sah mir fest in die Augen. »Macht sie ruhig auf und schaut sie Euch an.«

Beim Anblick der mit einem roten Band verschnürten Briefe schnappte ich unwillkürlich nach Luft. »Das muss ja mindestens ein Dutzend sein!«

»Vierundzwanzig, um es genau zu sagen. Ich habe sie gezählt. Was immer Ihr ihm geschrieben habt, es muss ihn ungeheuer beeindruckt haben. Der erste kam aus heiterem Himmel, und dann hat es überhaupt nicht mehr aufgehört. Er hat sie über einen Kurier nach Santa Ana geschickt.« Sie schmunzelte. »Es muss ihn ein Vermögen gekostet haben, einen privaten Boten durch halb Kastilien reiten zu lassen. Auf alle Fälle ist er fest entschlossen, dieser Prinz aus Aragón. Ich lasse Euch jetzt damit allein. Zweifellos hat er Euch viel zu sagen.«

Allein im Saal, erbrach ich das Siegel des ersten Dokuments. Im flackernden Kerzenlicht fiel mir auf, wie ungelenk seine Schrift war.

Liebste Hoheit!

Als ich Euren Brief erhielt, musste ich mich mit Macht zurückhalten, um nicht an Eure Seite zu eilen und mein Land und meinen Vater im Kampf gegen die französische Wolfsmeute im Stich zu lassen. Jetzt kann ich nicht mehr schlafen noch essen. Bei allem denke ich immer an Euch in Eurem Kampf gegen die Wölfe am Hofe Eures Bruders, die nur danach trachten, Euren Geist zu brechen. Doch da es mir nicht möglich ist, bei Euch zu sein und mit dem Schwert die Herzen all jener zu durchbohren, die Euch Böses wollen, kann ich Euch wenigstens dies sagen: Aus tiefster Seele bin ich mir sicher, dass Ihr viel tapferer seid, als Ihr wisst. Ihr müsst dieser Ehe, die sie für Euch vorhaben, widerstehen, denn mit Gottes Gnade müssen wir uns wiedersehen, Ihr und ich, und Gewissheit darüber erlangen, ob wir vom selben Schicksal füreinander …«

Ich verharrte, zu keiner Regung fähig.

Fernando hatte mich nicht vergessen. Das hier war seine Antwort auf meinen besorgten Brief, den ich über ein halbes Jahr zuvor von Madrid abgeschickt hatte, als mir Giróns Ankunft angekündigt worden war. Irgendwie war es Fernando klar gewesen, dass er es nicht riskieren konnte, sie mir auf direktem Wege zu schicken; darum hatte er sie vorsichtshalber an das Kloster meiner Mutter gesandt. Aber das war noch lange nicht das Ende gewesen. Ich verschlang sämtliche Briefe, bis es späte Nacht war, die Kerzen zu Stummeln heruntergebrannt waren und nur noch unregelmäßig flackerten. Alfonsos Jagdhund schlummerte schon längst zu meinen Füßen. Mich verblüffte, wie fürsorglich der Prinz von Aragón aus der Ferne über mich gewacht hatte. Über jedes Ereignis in meinem Leben seit unserer Trennung war er genau informiert, obwohl er selbst Widrigkeiten ausgesetzt war, von denen er mir auch mit ungeschminkter Aufrichtigkeit berichtete, was von innerer Stärke zeugte.

Seine Mutter war am Ende ihrer langen, schrecklichen Krankheit erlegen. Sein Vater und er hatten sich keine Zeit für ihre Trauer nehmen können, denn schon wurden sie von den verräterischen Franzosen in einen neuerlichen Krieg gestürzt. Obwohl er gerade erst vierzehn Jahre alt geworden war, hatte Fernando eine Armee gegen König Louis ins Feld geführt, um die Grenzgebiete Roussillon und Cerdagne zu verteidigen, und hatte es tatsächlich vermocht, seine Männer zu unglaublicher Tapferkeit gegen die Eindringlinge anzuspornen. Doch am Ende waren sie der feindlichen Übermacht unterlegen. Nun, da die Schatzkammer von Aragón geplündert war und ein Volksaufstand drohte, während die Franzosen weiter an dem Königreich nagten wie die gierigen Wölfe, die sie im Grunde waren, musste Fernando seine Grenzen befestigen und vor weiteren feindlichen Einfällen schützen. Und bei all dem stand ihm niemand zur Seite, da sein Vater inzwischen vollkommen blind und hilflos war. So war er durch seine Taten, wenn auch nicht dem Titel nach, König seines vom Krieg zerrissenen Reichs.

Ich las:

Wir haben einen der maurischen Heilungskünste kundigen jüdischen Arzt kommen lassen, von welchem wir wahre Wunderdinge gehört hatten. Es heißt, dass dieser Arzt einmal einen Kalifen von Granada von demselben Gebrechen kuriert habe, an dem mein Vater leidet, ja, dass er in der Lage sei, die Ursache der Linsentrübung mittels einer Operation zu beseitigen. Er zeigt sich auch zuversichtlich, dass Papas Sehfähigkeit verbessert werden kann. Allerdings ist das eine gefährliche Prozedur, die vier verschiedene Eingriffe mit Nadeln erfordert, und ich mache mir große Sorgen. Mein Vater ist bereits jenseits seines sechzigsten Jahres und durch das Dahinscheiden meiner Mutter im Herzen und in der Seele geschwächt. Doch er verlangt, dass es geschieht. Er sagt, dass er am Tag unserer Vermählung kein blinder, alter Mann sein will.

Ich lächelte, denn ich sah ihn förmlich vor mir. Jede einzelne Zeile in jedem dieser Briefe drückte denselben unerschütterlichen Glauben aus, dass er am Ende siegen würde. Und wie um genau das noch einmal zu betonen, verabschiedete er sich am Ende stets mit denselben Worten:

Seid tapfer, Isabella. Wartet auf mich.

Erst als ich den letzten Brief gelesen hatte, merkte ich, dass ich fast die ganze Nacht in seine Worte versunken verbracht hatte. Schon hellte sich um mich herum die Dunkelheit auf, die Kerzen waren alle erloschen, nur eine letzte flackerte noch – ich hatte sie mehrmals aufs Neue angezündet und mir dabei die Fingerkuppen versengt. Während nun die Flamme in einer Lache aus geschmolzenem Wachs endgültig erstarb, blieb ich mit der Schatulle auf den Knien sitzen, schloss die Augen und stellte mir den lachenden, überschwänglichen Jungen vor, der Fernando bei unserer kurzen Begegnung in Segovia gewesen war. Jetzt war er ein Mann, den ich nicht kannte. Wieso konnte ich mich dann fühlen, als wäre er ein Teil meiner selbst? Doch egal wie eindringlich ich mir vorhielt, es sei närrisch und viel zu sentimental, meine Zukunft einem selbstsicheren Versprechen, einem unwiderstehlichen Lächeln und einem spontanen Tanz anzuvertrauen, tat ich in Wahrheit genau das. Er hatte mich etwas über mich selbst gelehrt. Er hatte mir gezeigt, dass ich meinen eigenen Instinkten trauen und mir meinen eigenen Weg bahnen konnte. Und ein inneres Gefühl sagte mir, dass es trotz der Entfernung zwischen uns und der vielen Prüfungen, die uns bevorstanden, auf der Welt keinen Menschen gab, der besser befähigt war, sein Leben mit mir zu teilen.

Mochte das Schicksal bringen, was es wollte, Fernando von Aragón und ich waren füreinander bestimmt.