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14. Oktober 1963

 

 

»Gordon, Claudia Zinnes hier. Ich wollte Sie informieren, daß wir den Effekt dieses Wochenende verloren haben. Und Sie?«

»Ich hatte keinen Durchlauf. Leider.«

»Wäre sowieso Verschwendung gewesen. Das seltsame Zeug hat sich einfach ausgeblendet.«

»Es kommt und geht häufig auf diese Art.«

»Aber wir versuchen’s weiter.«

»Gut, gut. Ich auch.«

Gordon verbrachte einen Nachmittag über Sternenkarten und skizzierte die Bewegung des Punkts in Herkules. Einen Großteil des Tages lag er unter dem Horizont. Wenn es Tachyonen gab – was immer dieser Begriff bedeutete –, würden sie auf einer direkten Linie zwischen seinen NMR-Geräten und Herkules kommen. Wenn sich die Erde zwischen ihm und Herkules befand, würden die Teilchen wahrscheinlich absorbiert. Das hieß, er mußte sich dann einschalten, wenn Herkules über dem Horizont war.

»Claudia?«

»Ja, ja, ich habe Sie nicht angerufen, weil wir noch nicht…«

»Ich weiß, ich weiß. Die Koordinaten, die Sie und ich empfangen haben. Sie befinden sich im Sternbild Herkules. Ich glaube, wir haben mehr Glück, wenn wir nur zu bestimmten Zeiten empfangen, so – haben Sie einen Stift zur Hand? Ich habe es gerade berechnet. Ich schätze, zwischen sechs Uhr morgens und…«

 

Doch weder Columbia noch La Jolla konnten zu den berechneten Zeiten Signale empfangen. Könnte es eine andere Störungsquelle geben? Das würde alles komplizieren, aber was war die Ursache? Gordon überprüfte die Zeiten, zu denen er oder Cooper Signale aufgezeichnet hatten. Die meisten stimmten mit der Zeit überein, wenn Herkules am Himmel stand. Allerdings war in einigen Fällen nicht verzeichnet, wann das Experiment durchgeführt wurde. Andere Aufzeichnungen waren definitiv entstanden, als Herkules unter dem Horizont stand. Gordon hatte »Ockhams Schnitt« immer gemocht: Wesenheiten sollten nicht übers notwendige Maß hinaus multipliziert werden. Das hieß, die einfachste Theorie zur Erklärung der Daten war die beste. Die Störungstheorie war einfach, aber sie mußte auch die Zeiten berücksichtigen, in denen Herkules unter dem Horizont stand. Vielleicht waren es Aufzeichnungsfehler, vielleicht aber auch nicht. Gordon entschloß sich, weitere Daten aufzunehmen und sie sich selbst ordnen zu lassen, anstatt voreilige Schlüsse zu ziehen.

 

Erst seit wenigen Wochen hatte Gordon anhand des üblichen Jackson-Texts die Vorlesung über Klassische Elektrizität und Magnetismus gehalten, doch allmählich war er am Ende seiner vorbereiteten Notizen und lag bei der Benotung der Seminararbeiten zurück. Und dazu kam der vertraute Ansturm von Routinepflichten: Ausschußsitzungen, Sprechstunden für Studenten, die Überprüfung von Coopers Arbeit und die Gespräche darüber, Vorbereitung von Seminarübungen. Die erste Fortgeschrittenenklasse machte einen guten Eindruck, soweit Gordon es aus den Seminararbeiten entnehmen konnte. Burnett und More waren scharfsinnig. Die mittlere Gruppe - Sweedler, Coon und Littenberg insbesondere – war vielversprechend. Die Zwillinge aus Oklahoma waren in ihren Leistungen schwankend und hatten eine aufreizende Art, ihn ins Kreuzverhör zu nehmen. Vielleicht war er im Moment ein wenig empfindlich, aber…

»He, haben Sie einen Moment Zeit?«

Gordon blickte von den schriftlichen Arbeiten hoch. Ramsey. »Sicher.«

»Ich wollte mit Ihnen über die Pressekonferenz sprechen, die Hussinger und ich geben.«

»Pressekonferenz?«

»Ja, wir, äh, werden unsere Schlußfolgerungen veröffentlichen. Sieht nach einer großen Sache aus.« Ramsey, bar seiner üblichen Munterkeit, stand ruhig im Türrahmen.

»Ja, gut. Gut.«

»Wir wollten die Kettenstruktur verwenden, die ich entwickelt habe. Wissen Sie, die, von der ich dachte, Sie und ich würden sie gemeinsam publizieren.«

»Müssen Sie sie verwenden?«

»Das untermauert unseren Fall, ja.«

»Wie werden Sie ihre Herkunft erklären?«

Ramsey wirkte gequält. »Ja, das ist wohl der Haken. Wenn ich bekanntgebe, daß sie aus Ihren Experimenten stammt, werden einige Leute die ganze Sache für Blödsinn halten.«

»Das fürchte ich auch.«

»Aber, sehen Sie…« Ramsey spreizte die Hände. »Unsere Argumente sind überzeugender, wenn man die Struktur sieht…«

»Nein.« Heftig schüttelte Gordon den Kopf. »Ich bin sicher, man wird Ihnen auch allein auf Grund der Experimente glauben. Es ist nicht nötig, mich da reinzuziehen.«

Ramsey machte einen zweifelnden Eindruck. »Aber trotzdem ist es eine gute Arbeit.«

Gordon lächelte. »Lassen Sie sie weg! Lassen Sie mich weg, okay?«

»Wenn Sie’s sagen, sicher. Sicher«, entgegnete Ramsey und ging.

 

Für Gordon war das Gespräch mit Ramsey amüsant. Ein ferner Erinnerungsposten aus der realen Welt. Für Ramsey und Hussinger war die Veröffentlichung der kritische Schritt. Eine Pressekonferenz prägte ihr Siegel noch stärker auf die Arbeit. Aber Ramsey wußte, ohne Gordon wäre es gar nicht dazu gekommen, und dieser Gedanke quälte den Mann. Der richtige Weg wäre es gewesen, Gordons Zustimmung zu einer getrennten Veröffentlichung einzuholen und dann eine freundliche Dankadresse ans Ende des Aufsatzes zu stellen. Gordon erzählte Penny abends von dem Gespräch und merkte an, wie merkwürdig ihm der ganze Ablauf jetzt vorkam. Immerhin brachte er die Ergebnisse, die wissenschaftlicher Tätigkeit ihren Wert gaben; der öffentliche Applaus war nur ein geringes Randvergnügen. Menschen wurden Wissenschaftler, weil sie gerne Rätsel lösten und nicht, weil sie Preise gewinnen wollten. Penny nickte und meinte, daß sie Lakin ein wenig besser verstand. Er war ein Mann, der den Punkt schon überschritten hatte, an dem man etwas wirklich Grundlegendes fand; normalerweise läßt die wissenschaftliche Erfindungsgabe nach dem vierzigsten Lebensjahr nach. Deshalb klammerte Lakin sich jetzt an den Applaus, die sichtbaren Talismane des Erfolgs. Gordon nickte. »Ja«, sagte er, »Lakin ist ein Mechaniker ohne wirkliche Eigenwerte.« Es handelte sich um einen verschrobenen Physikerwitz, den Penny nicht verstand, aber zum erstenmal seit mehreren Tagen lachte Gordon.

 

»He, sind Sie immer noch hier?« fragte Cooper von der Labortür her.

Gordon blickte vom Oszilloskop hoch. »Ja, ich versuche, ein paar neue Daten aufzunehmen.«

»Schon spät. Ich meine, ich habe nur noch mal reingeschaut, um ein paar Bücher zu holen, und das Licht gesehen. Sind Sie hier, seit ich zum Abendessen gegangen bin?«

»Hm, ja. Ich habe mir was aus dem Automaten geholt.«

»Huii, ein schlimmes Futter.«

»Allerdings«, sagte Gordon und wandte sich wieder den Geräten zu.

Cooper kam herbeigeschlendert und sah die Resonanzdiagramme auf dem Labortisch. »Sieht wie meine Sachen aus.«

»Ziemlich, ja.«

»Testen Sie Indium-Antimonid? Wissen Sie, Lakin hat mich gefragt, warum Sie so viel Zeit hier im Labor verbringen.«

»Warum fragt er mich nicht selbst?«

Ein Schulterzucken. »Ich will nicht…«

»Ich weiß.«

Nach ein paar neutralen Bemerkungen ging Cooper. Während der letzten Wochen war Gordon seinen normalen Pflichten nachgegangen und hatte dann die Abende damit verbracht, Daten aufzunehmen, zu lauschen und zu warten. In den Aufzeichnungen waren gelegentliche gelbe Zitterstreifen, aber kein Signal. Alles ging in Störungen unter. Die Pumpen keuchten, die elektronischen Geräte gaben manchmal ein schrilles Ping von sich. Tachyonen, dachte er. Überlichtschnelle Teilchen. Es ergab keinen Sinn. Er hatte den Gedanken mit Wong, dem Teilchenphysiker, besprochen und die übliche Antwort erhalten: Sie verletzten das Gesetz der speziellen Relativität, und außerdem gab es keinen Beweis für sie. Tachyonen, die schneller durchs Universum glitten, als Gordons Augen ein Photon des bleichen wäßrigen Laborlichts aufnahmen – so etwas sprach jeder Vernunft Hohn.

Dann kam es zu schwankenden Unterbrechungen der Resonanzkurven. Gordon hatte eine schnellere Methode zur Zusammenstellung der Kurven entwickelt und konnte die Morse-Teile fast sofort herausziehen.

 

BEDROHT OZEANE.

 

Eine Sekunde später weitere Unterbrechungen:

 

CAMBRIDGE CAVENDISH LABO

 

Und dann verschwamm alles in Störungen. Gordon nickte. Bei seiner einsamen, mönchischen Arbeit fühlte er sich wohl. Penny mochte seine langen Stunden hier nicht, aber das war ein zweitrangiges Problem. Sie verstand nicht, daß man manchmal beharrlich sein mußte, bis die Welt sich offenbarte.

Als der Bildschirm hell wurde, legte er eine Pause ein. Er wanderte durch die stillen Flure des Physikgebäudes, um seine Schläfrigkeit abzuschütteln. Vor Grundkinds Labor hing ein großer Bogen Computerpapier mit dem ermutigenden Gekritzel eines Studenten ganz oben:

 

Ein Experiment kann als Erfolg angesehen werden, wenn nicht mehr als 50% der Meßergebnisse getilgt werden müssen, um Übereinstimmung mit der Theorie zu erzielen.

 

Gordon lächelte. Die Öffentlichkeit hielt die Naturwissenschaft für eine absolute, sichere Angelegenheit, eine Bank. Sie wußte nicht, wie ein geringfügiger Irrtum zu den absurdesten Resultaten führen konnte. Unter diesem ersten Satz standen Fußnoten anderer Studenten:

 

Mutter Natur ist eine Hure.

Die Wahrscheinlichkeit, daß ein gegebenes Ergebnis eintritt, ist umgekehrt proportional zu seiner Erwünschtheit.

Wenn man lang genug an etwas herumfingert, kommt man schließlich auch zu einem Erfolg.

Eine zurechtgemachte Kurve ist tausend doppeldeutige Worte wert.

Keine Analyse ist ein völliger Fehlschlag – sie kann immer als schlechtes Beispiel dienen, Erfahrung variiert mit der Anzahl der ruinierten Geräte.

 

Er zog sich einen Schokoladenriegel und ging ins Labor zurück.

 

»Mein Gott«, sagte Penny am Morgen, »du siehst aus wie jemand, den man aus einer alten Reisetasche gezogen hat.«

»Ja, ja. Ich habe gleich eine Vorlesung. Was haben wir zu essen da?«

»Weizenflocken.«

»Ich habe Hunger.«

»Nimm zwei Schalen!«

»Sieh mal, ich muß arbeiten.«

»Die verpaßte Beförderung hat dich wohl aufgerüttelt, was?«

»Ich muß es herausfinden.«

»Diese Frau Zinnes. Mehr hast du doch nicht gebraucht.«

»Zur Bestätigung, ja. Aber wir verstehen es nicht.«

Gordon stöberte nach den Weizenflocken, schüttete sie in eine Schale und warf die Packung weg. Im Mülleimer lag eine leere Halbgallonenflasche Brookside-Burgunder.

»Bleibst du über Nacht?« fragte Penny.

»He, ja.«

»Meine Mutter hat geschrieben.«

»Aha.«

»Sie halten dich für ziemlich verschroben.«

»Sie haben recht.«

»Du hättest es wenigstens versuchen können.«

»Ich habe versucht, es lässig und WASP zu tun.«

»Lässig und dämlich.«

»Ich wußte nicht, daß es wichtig war.«

»War es auch nicht. Nur so ein Gedanke.«

»Ach, es gibt noch andere Gelegenheiten.«

»Da war ein Anruf für dich.«

»Vielleicht am Thanksgiving.«

»Mhm.«

»San Francisco. Wir haben kaum was von der Stadt gesehen.«

»Aus New York.«

Er unterbrach seine Löffelmahlzeit. »Was?«

»Der Anruf. Ich habe ihm deine Büronummer gegeben.«

»Ich war kaum im Büro. Wer war es?«

»Hat er nicht gesagt.«

»Hast du gefragt?«

»Nein.«

»Nächstes Mal fragst du!«

»Jawoll, Sir.«

»Ach, Mist.«

 

Die Schlagzeile im San Diego Union hieß: REGIERUNGSSTURZ IN VIETNAM. Gordon besah sich die Bilder von Leichen in den Straßen und dachte an Cliff. Der Union nannte es einen offenen militärischen Staatsstreich. Jemand hatte Ngo Dinh Diem gefangengenommen und ihn erschossen, und das war das Ende. Die Kennedy-Regierung versicherte, nichts damit zu tun zu haben. Sie bedauerte die Entwicklung. Andererseits, sagte sie, würde das vielleicht den Weg für einen echten Fortschritt in der Kriegssituation dort freimachen. Vielleicht, dachte Gordon und warf die Zeitung in den Mülleimer.

 

Claudia Zinnes hatte einige der Signalfragmente aufgenommen, aber nicht alle. Der Störungspegel schwankte ständig. Gordon fragte sich, ob außer der Position von Herkules ein anderer Effekt einwirkte. Vielleicht war die Ausstrahlung der Tachyonen nicht exakt. Das würde die Schwankungen des Signals erklären. Zusammen mit einigen Vermutungen und Ahnungen behielt er diesen Gedanken im Hinterkopf. Während der langen Abende vor dem Oszilloskop drehte und wendete er die Teile eines Puzzles und fügte Ränder zusammen. Seine Ahnung beruhte auf der Solarapex-Zahl und führte zu einer Schlußfolgerung, die zu glauben er schwer fand. Er versuchte, sich von dieser Schlußfolgerung zu lösen. Schließlich könnte es ebensogut eine andere Erklärung geben. Andererseits hatte Wong das Kausalitätsargument gegen die Tachyonen angebracht, also gab es zumindest eine oberflächliche Verbindung. Ockhams Schnitt schien hier nicht viel wert zu sein. Die ganze Sache trug einen Alice-im-Wunderland-Stempel. Was hieß, mahnte er sich selbst, daß es um so wichtiger war, sich an Fakten, Zahlen und Daten zu halten. Gebt mir eine solide Zahlenreihe, und ich regiere die Welt, dachte er und lachte laut auf.

 

Er war eingeschlummert, schüttelte sich und rieb sich die Augen. Mitten in der Bewegung starrte er auf das Aufzeichnungsgerät.

Gezackte Linien. Die harmonischen Kurven der Resonanzen waren von plötzlichen Unterbrechungen aufgelöst. Er rollte die Bandspule zurück. Wenn er den Einsatzpunkt verpaßte…

Aber nein, da war er. Er begann mit der Entschlüsselung.

 

NEUROM I OL AJ SCHREIBEN SIE ANFUEHRUNG BOTSCHAFT ERHALTEN LA JOLLA ABFUEHRUNG AUF PAPIER LEGEN SIE ES IN BANKSCHLIESSFACH SAN DIEGO BUNDESSPARKASSE AUF DEN NAMEN IAN PETERSON SCHLIESSFACH MUSS GARANTIERT SECHSUNDDREISSIG JAHRE BESTEHEN BLEIBEN SENDE DIES UM EMPFANG DER BOTXMCBJT ZU PRUEFEN LMKSHT ERGEBNIS SIND DINOSPOREN UND PLANKTONISCHE AVSDLDU AHXNDUROPFLM

 

Der Bankangestellte musterte ihn konsterniert. »Ja, sicher, wir haben freie Schließfächer. Aber bis zum Ende des Jahrhunderts…!« Er zog die Augenbrauen hoch.

»Sie werben damit, oder?«

»Nun ja, aber…«

»In einer Anzeige.«

»Gewiß. Die Absicht ist jedoch…«

»In Ihrer Anzeige heißt es, ich bekomme ein Schließfach, wenn ich mindestens fünfundzwanzig Dollar einzahle, richtig?«

»In der Tat. Aber ich wollte gerade sagen, daß wir es als Einführungsangebot verstehen, um Kunden zur Einrichtung von Konten zu bewegen. Unser Unternehmen meint sicherlich nicht, daß Kunden die Schließfächer unendlich lange behalten, nur weil…«

»Ihre Anzeige macht solche Ausflüchte nicht.«

»Ich glaube nicht, daß…«

»Ich habe recht, und das wissen Sie. Möchten Sie, daß wir den Direktor hinzuziehen? Sie fangen gerade hier an, oder?«

Das Gesicht des Angestellten verriet nicht, was er dachte. »Nun… Sie scheinen da einen Aspekt entdeckt zu haben, den wir nicht voraussehen konnten…«

Gordon grinste. Er nahm das gelbe Blatt aus einem Umschlag und legte es auf den Schreibtisch.