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Den Sonntagmorgen verbrachte John Renfrew damit, neue Regale an der Längswand der Küche anzubringen. Marjorie hatte ihn schon seit Monaten darum gebeten. Ihre anfänglichen freundlichen Randbemerkungen über die Frage, was mit den Modellflugzeugen geschehen solle, »wenn du dazu kommst«, waren allmählich zu einem drückenden Gewicht gewachsen – die Aufgabe wurde zur Pflicht, der er sich nicht entziehen konnte. Die Lebensmittelgeschäfte waren nur noch wenige Tage in der Woche geöffnet – »um Versorgungsengpässe zu vermeiden«, lautete die gängige Erklärung in den Abendnachrichten –, und durch die Stromsperren war Einfrieren nicht möglich. Marjorie hatte begonnen, Gemüse einzumachen. Eine Menge großer Gläser mit dicken Deckeln wartete in Pappkartons auf die versprochenen Regale.
Mit der gleichen Sorgfalt, die ihn im Labor auszeichnete, legte Renfrew sich systematisch seine Werkzeuge zurecht. Ihr Haus war alt und ein wenig schief, als würde es von einem unmerklichen Wind angeblasen. Renfrew stellte fest, daß sein an der Wandverkleidung befestigtes Lot volle drei Zoll von der abgescheuerten Fußleiste weghing. Der Boden gab wie eine vielbenutzte Matratze nach. Er trat von der Wand zurück, kniff die Augen zusammen und sah, daß die Linien seines Hauses schief waren. Man steckt sein Geld in ein Haus, überlegte er, und bekommt ein Labyrinth von Pfosten, Balken und Leisten, die von der Geschichte samt und sonders aus dem Lot gedrückt werden. Dort hatte sich die Wand etwas gesetzt, da war eine Diagonallinie verrutscht. Plötzlich fiel ihm ein, wie er als kleiner Junge von einem Steinfußboden zu seinem Vater aufgeschaut hatte, der den Deckenputz musterte, als wollte er abschätzen, ob das Dach einstürzen würde.
Während er das Problem durchdachte, polterten seine eigenen Kinder durchs Haus. Ihre Füße traten über die Kanten aus poliertem Holz, die den dünnen Teppichboden säumten. Sie erreichten die Haustür und lärmten nach draußen. Ihm wurde bewußt, daß er für sie wahrscheinlich den gleichen ernsten, angespannten Gesichtsausdruck hatte wie sein Vater.
Er ordnete sein Werkzeug und begann mit der Arbeit. Der Holzstapel auf der hinteren Veranda schrumpfte allmählich, als er passende Bretter zurechtschnitt. Um das Holz an der Decke einzupassen, mußte er mit der Langsäge Schrägschnitte anbringen. Das Holz splitterte, riß aber nicht aus. Johnny kam, der keine Lust mehr hatte, mit seiner älteren Schwester Fangen zu spielen. Renfrew beschäftigte ihn damit, das Werkzeug je nach Arbeitsgang anzureichen. Durchs Fenster verkündete ein blechern klingendes Radio, daß Argentinien dem Atomklub beigetreten war. »Was ist ein Atomklub, Daddy?« fragte Johnny mit großen Augen. »Leute, die Bomben abwerfen können.« Johnny betastete eine Holzfeile. »Kann ich da mitmachen?« Renfrew unterbrach seine Arbeit, leckte sich über die Lippen und spähte in den tiefblauen Himmel. »Nur Dummköpfe machen da mit«, sagte er und arbeitete weiter.
Das Radio schilderte die brasilianische Ablehnung eines Vorzugshandelsabkommens, das eine großamerikanische Zone unter Beteiligung der USA gebildet hätte. Es gab Berichte, die Amerikaner hätten billigere Importe zur Bedingung für ihre Hilfe bei dem Blütenproblem in Südamerika gemacht. »Eine Blüte, Daddy? Der Ozean ist doch keine Blume.« Kurz angebunden erwiderte Renfrew: »Das ist eine andere Blüte.« Er nahm einen Bretterstapel unter den Arm und trug ihn hinein.
Als er dabei war, Sägekanten abzuschleifen, kam Marjorie aus dem Garten herein, um seine Arbeit zu inspizieren. Dankenswerterweise hatte sie das batteriebetriebene Radio mit hinausgenommen. »Wieso springt es unten vor?« fragte sie beim Hereinkommen und stellte das Radio auf den Küchentisch. Es schien sie an diesen Tagen überallhin zu begleiten, dachte Renfrew, als könnte sie ein wenig Ruhe allein nicht ertragen.
»Die Regale sind gerade, die Wände sind schief.«
»Es sieht merkwürdig aus. Bist du sicher…?«
»Überzeuge dich selbst!« Er reichte ihr die Wasserwaage, die sie behutsam auf eins der Bretter legte. Die Luftblase blieb genau zwischen den beiden Markierungen. »Siehst du? Völlig plan.«
»Scheint so«, gab Marjorie widerwillig zu.
»Mach dir keine Sorgen, deine Gläser werden schon nicht runterfallen.« Er stellte einige Gläser aufs Regal. Die rituelle Handlung vollendete seine Arbeit. Das nüchterne Fichtenholz des Kastenrahmens hob sich von der alten Eichentäfelung ab. Langsam fuhr Johnny mit der Hand über die Bretter; daß er dabei geholfen hatte, die Holzkonstruktion fertigzustellen, schien ihm Ehrfurcht einzuflößen.
»Ich werde wohl noch mal kurz ins Labor fahren«, sagte Renfrew, während er Säge und Feilen zusammenlas.
»Nur die Ruhe, du hast noch mehr Vaterpflichten. Du wirst Johnny mit zur Quecksilberjagd nehmen.«
»Oh, verdammt, habe ich ganz vergessen. Sieh mal, ich dachte…«
»…du könntest noch einen ganzen Nachmittag herumbasteln«, beendete Marjorie den Satz mit mildem Vorwurf. »Wohl kaum, fürchte ich.«
»Na gut, dann hole ich mir nur ein paar Notizen über Markhams Arbeit.«
»Dazu nimmst du am besten Johnny mit. Kannst du nicht mal am Wochenende pausieren? Ich dachte, du hättest gestern alles erledigt.«
»Wir haben mit Peterson eine Botschaft ausgearbeitet. Größtenteils betrifft es die Ozeane. Die Sache mit der Massengärung von Zuckerrohr zur Treibstofferzeugung lassen wir fallen.«
»Warum das denn? Die Verbrennung von Alkohol ist sauberer als das gepantschte Benzin, das jetzt verkauft wird.«
Renfrew wusch sich die Hände im Waschbecken. »Sicher. Der Haken ist, daß die Brasilianer für die Zuckerrohrfelder so viel Dschungel roden. Das verringert die Anzahl der Pflanzen, die Kohlendioxyd aus der Luft absorbieren können. Wenn man die Auswirkungen ein wenig weiterdenkt, erklären sie Veränderungen im Klima, Treibhauseffekt, Regenfälle und so weiter.«
»Hat der Rat das entschieden?«
»Nein, nein, das waren Forschungsgruppen auf der ganzen Welt. Der Rat macht nur Politik, um Probleme auszugleichen. Das UN-Mandat, zusätzliche Energiegewinnung und so was.«
»Dein Mr. Peterson muß ein sehr einflußreicher Mann sein.«
Renfrew zuckte die Achseln. »Er meint, es sei schieres Glück, daß das Vereinigte Königreich eine so gewichtige Stimme hat. Der einzige Grund dafür ist, daß wir immer noch Forschungsgruppen haben, die an deutlich erkennbaren Problemen arbeiten. Sonst hätten wir einen Sitz wie Nigeria, die Viet-Union, oder irgendein anderer stümpernder Niemand.«
»Und was du machst ist – wie hast du es genannt: ›erkennbar‹, nicht wahr?«
Renfrew kicherte. »Nein, es ist total durchsichtig. Peterson hat einiges an Unterstützung für mich abgezweigt, aber das ist wohl eher eine persönliche Grille, schätze ich.«
»Das ist sehr nett von ihm.«
»Nett?« Nachdenklich trocknete Renfrew sich die Hände. »Er hat intellektuelles Interesse, da bin ich sicher, auch wenn er nach meinem Verständnis alles andere als ein Intellektueller ist. Ein fairer Handel, würde ich sagen: Er hat seinen Spaß dabei, und ich habe seine Pfundnoten.«
»Aber er muß doch von deinem Erfolg überzeugt sein.«
»Muß er? Mag sein. Ich bin selbst nicht sicher, daß ich es schaffe.«
Marjorie schien entsetzt. »Warum tust du es dann?«
»Es ist handfeste Physik. Ich weiß nicht, ob wir die Vergangenheit ändern können. In dieser Frage liegt die Physik im Chaos. Wäre die Forschung nicht praktisch lahmgelegt, würden sich alle möglichen Leute mit dem Problem befassen. Ich habe hier eine Chance, die wesentlichen Experimente durchzuführen. Das ist der Grund, Wissenschaft, Schatz.«
Marjorie runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Renfrew prüfte das Produkt seiner Basteltätigkeit. Geschäftig räumte sie Gläser in das Regal. Jedes hatte einen Gummiring unter dem Deckel und Metallverschlußklammern. Hinter dem Glas schwammen farblose Gemüseklumpen. Renfrew fand den Anblick ausgesprochen unappetitlich.
Plötzlich hielt Marjorie inne. Mit besorgtem Gesichtsausdruck sagte sie: »Du betrügst ihn, oder?«
»Nein, Schatz, ich – wie heißt es noch? – halte seine Erwartungen hoch.«
»Er erwartet…«
»Sieh mal, Peterson ist an dem Thema interessiert. Meine Aufgabe ist es nicht, seine wahren Motive zu erraten. Mein Gott, als nächstes wird er neben dir auf der Couch sitzen und über seine Kindheitserlebnisse plappern.«
»Ich habe den Mann nie kennengelernt«, sagte sie steif.
»Genau. Siehst du, unser Gespräch hat keine Grundlage.«
»Du bist es, über den wir sprechen, Du…«
»Nun mach mal halblang! Marjo, altes Haus, du bist dir nicht bewußt, daß niemand irgend etwas über diese Experimente weiß. Du kannst mir nicht vorwerfen, daß ich zuviel Reklame dafür mache. Und außerdem schien Peterson über die Störungen, die wir haben, ebenso besorgt wie ich; vielleicht habe ich ihn also mißverstanden.«
»Jemand stört euch?«
»Nein, nein, etwas. Eine Menge Störeinflüsse. Aber ich werde sie herausfiltern. Genau daran wollte ich heute nachmittag arbeiten.«
Entschlossen sagte Marjorie: »Die Quecksilberjagd!«
Sie schaltete das Radio an, aus dem es blechern tönte: »Ihr Schatz wird zum Schatzgräber, beim neuen Job-Sharing-Plan! Jawohl, ein Paar, das sich einen Arbeitsplatz teilt, kann gegen die derzeitige…«
Renfrew schaltete es aus. »Gar nicht so schlecht, aus dem Haus zu kommen«, sagte er spitz.
Er radelte mit Johnny zum Cav. Renfrew verzog sein Gesicht zur Grimasse, als sie an Bauernhäusern vorbeikamen, die von Squattern übernommen worden waren. Einige hatte er aufgesucht, um das Paar zu finden, das Marjorie so in Angst versetzt hatte. Sie hatten ihm böse Blicke zugeworfen und ihn weggescheucht. Der Wachtmeister war auch keine Hilfe gewesen.
Als sie an eingefallenen Mauern einer Scheune vorbeiradelten, roch Renfrew beißenden Kohlequalm. Jemand verbrannte die gesetzlich verbotene minderwertige Qualität, aber es stieg kein bläulicher Rauch auf, der den Wachtmeister hätte auf die Spur führen können. Das war wieder typisch. Sie gaben gutes Geld für Geräte aus, die die sichtbaren Emissionen verhinderten, und sparten die Kosten umgehend durch billigen Brennstoff ein. Renfrew hatte gehört, daß ansonsten achtbare Menschen genau mit solchem Verhalten prahlten; wie Kinder, die kleinen verbotenen Unarten frönten. Das waren die gleichen Menschen, die ihre Flaschen und Dosen auf große Müllhalden in den Wald warfen, statt sie dem Recycling-Programm zuzuführen. Manchmal glaubte er, die Angehörigen der schrumpfenden Mittelklasse seien die einzigen, die die Vorschriften beachteten.
Beim Cav angekommen, strolchte Johnny durch die dunklen Flure, während Renfrew einige Aufzeichnungen holte. Johnny überredete ihn, schnell zum Institut für Astronomie auf der anderen Seite der Madingley Road zu radeln. Früher hatte der Junge oft dort gespielt und sah es jetzt, da es geschlossen war, nur noch selten. Tiefe Schlaglöcher klafften in der Straße; hier waren die Panzer gefahren, die den Aufruhr von ’96 unterdrückt hatten. Renfrew fuhr in eines hinein, ein Schlammfleck auf seiner Hose war die Folge. Sie radelten am Verwaltungsgebäude des Instituts vorbei. Die übergroßen Fenster erinnerten an den einst populären amerikanischen Stil aus den Jahren des Ölreichtums. Dann ging es weiter zum Hauptgebäude, einem Sandsteinbau aus dem 19. Jahrhundert mit einer antiquierten astronomischen Kuppel über den Etagen, die Bibliothek, Büros und Sternkarten-Archive beherbergten. Auf dem Weg kamen sie an der kleinen Kuppel und den Maschinenhallen vorbei, deren Fenster von Lehmspritzern fleckig waren. Unter ihren Reifen spritzte Kies zur Seite, als sie die lange Zufahrt entlangradelten. Die hellen Fenstereinfassungen umrahmten schwarze Innenräume. Renfrew bog gerade in den Weg ein, der den Hang hinunter zur Madingley Road führte, als die großen Tore sich ächzend öffneten. Ein kleingewachsener Mann spähte heraus. Er trug einen Anzug mit Weste und eine sorgfältig gebundene Regimentskrawatte. Der Mann, der in den Sechzigern war, musterte sie durch dickwandige Brillengläser. »Sie sind nicht der Wachtmeister«, sagte er überrascht.
Renfrew, der diese Tatsache für nur zu offensichtlich hielt, blieb stehen, sagte aber nichts. »Mr. Frost!« rief Johnny. »Erinnern Sie sich an mich?«
Frost runzelte die Stirn, dann lächelte er. »Johnny, ja, ich hab’ dich seit Jahren nicht mehr gesehen. Bei den Beobachtungsabenden bist du so regelmäßig wie die Sterne gekommen.«
»Bis Sie sie eingestellt haben«, meinte der Junge vorwurfsvoll.
»Das Institut ist geschlossen«, entschuldigte Frost sich und beugte sich vor, um Johnny ins Gesicht zu blicken. »Es gab kein Geld mehr.«
»Aber Sie sind noch hier.«
»Das ist wahr. Aber man hat uns den Strom abgestellt, und man kann kein Publikum zulassen, wenn die Leute im Dunkeln stürzen könnten.«
Renfrew schaltete sich in den Dialog ein: »Ich bin übrigens John Renfrew – Johnnys Vater.«
»Ach ja. Ich dachte, Sie könnten der Wachtmeister sein. Ich habe ihn heute morgen benachrichtigt«, sagte Frost und zeigte auf das nächste Fenster. Der Rahmen war gesplittert. »Sie haben es einfach eingetreten.«
»Haben sie was mitgenommen?«
»Mengenweise. Ich wollte sie noch reparieren lassen, als wir damals das Drahtgitter drinnen im Flur anbrachten. Immer wieder habe ich ihnen gesagt, die Bibliothek sei geradezu sträflich offen. Aber auf mich hört ja keiner, ich bin ja nur der Museumsverwalter, ich rede ja nur dummes Zeug.«
»Haben sie das Teleskop mitgenommen?« fragte Johnny.
»Nein, das ist beinahe wertlos. Sie haben die Bücher geklaut.«
»Welche Bücher?« Renfrew konnte sich nicht vorstellen, daß die akademischen Wälzer jetzt von großem Wert sein sollten.
»Die Sammlerstücke, natürlich«, erwiderte Frost mit dem Stolz des Kurators. »Einen Kepler, zweite Ausgabe, einen Kopernikus, zweite Ausgabe, das Original des Astrometrischen Atlas aus dem siebzehnten Jahrhundert – wirklich jede Menge. Es waren Spezialisten, das waren sie. Die neueren Bände haben sie einfach liegen lassen. Sie konnten sogar die fünfte von der dritten Ausgabe unterscheiden, ohne sie aus der Schutzhülle zu nehmen. Gar nicht so einfach, wenn man es eilig hat und nur mit einer Taschenlampe leuchtet.«
»Wieso hatten sie es eilig?«
»Weil sie mit meiner Rückkehr rechneten. Als es dunkelte, bin ich zu meinem abendlichen Verdauungsspaziergang hinausgegangen; zum Soldatenfriedhof und wieder zurück.«
»Wohnen Sie hier?«
»Als das Institut geschlossen wurde, wußte ich nicht wohin.« Frost richtete sich auf. »Es sind noch mehr hier. Meist alte Astronomen, die von ihren Hochschulen entlassen wurden. Sie wohnen unten in dem anderen Gebäude – im Winter ist es wärmer. Die Ziegel hier halten die Kälte. Eins sage ich Ihnen, früher haben sich Colleges um ihre alten Dozenten gekümmert. Als Boyle das Institut gründete, hatten wir alles. Jetzt ist alles auf dem Müll gelandet, ab dafür. Vorbei ist vorbei, heute geht es um die Krise…«
»Da kommt der Wachtmeister«, sagte Renfrew und zeigte auf die ferne Gestalt auf dem Fahrrad, um den Fluß des Lamentos zu unterbrechen. In den letzten Jahren hatte er diese Klagen oft genug gehört, außer Langeweile bewirkten sie bei ihm gar nichts mehr. Als der Wachtmeister keuchend eintraf, holte Frost den Band heraus, den die Diebe zurückgelassen hatten, eine späte Kepler-Ausgabe. Renfrew untersuchte das Buch einen Moment, während Frost von dem Wachtmeister einen Alarmeinsatz verlangte, um die Diebe möglicherweise auf der Landstraße zu fassen. Die Seiten waren trocken und spröde, sie knisterten, als Renfrew sie umblätterte. Er hatte ganz vergessen, daß eine Letternreihe auf der anderen Buchseite eine Ausbuchtung hinterlassen konnte, als läge der Druck der Geschichte in jedem Wort. Die Buchstaben, tiefschwarz und breit, standen in weiten Abständen. Die breiten Ränder, die präzisen Himmelszeichnungen, das Gewicht des Bands in seiner Hand – das alles schien von einer Zeit zu sprechen, als die Herstellung von Büchern ein Wegweiser auf einem Marsch nach vorn war, ein Druck auf die Zukunft.
Die Gruppe der Väter verbreitete plaudernd und lachend Feiertagsstimmung. Einige spielten auf dem grauen Pflaster mit einem Fußball. Es war ein großer Spaß, ein Treffen, um Geld für die darbende Stadtverwaltung Cambridges zu sammeln. Ein Beamter hatte über solche Suchaktionen in amerikanischen Großstädten gelesen, und letzten Monat hatte London eine veranstaltet.
Mit hellen Lampen, die sich durch die Dunkelheit bohrten, stiegen sie in die Kanalisation hinab. Unter den wissenschaftlichen Labors und dem Industriegebiet der Stadt waren die Schächte übermannshoch. Renfrew drückte die Atemmaske fest gegen sein Gesicht und lächelte Johnny durch den transparenten Rüssel an. Der Frühlingsregen hatte den Dreck weggespült, es stank kaum. Ihre Jagdgenossen überholten sie, summende Erregung lag in der Luft.
Quecksilber war inzwischen höchst selten, ein Kilogramm kostete tausend Neue Pfund. In den unbekümmerten Jahren Mitte des Jahrhunderts war Quecksilber in Abflüsse und Kanäle gespült worden. Damals war es billiger gewesen, verunreinigtes Quecksilber wegzuschütten und neues zu kaufen. Als schwerstes Metall suchte es sich im Kanalisationssystem die tiefsten Stellen und sammelte sich dort. Sie brauchten nur einen Liter wiederzugewinnen, um den ganzen Aufwand lohnend zu machen.
Renfrew und Johnny entfernten sich von der Gruppe und drangen in schmalere Schächte vor. Ihre Lampen warfen von der Oberfläche der Wasserpfützen funkelnde Reflektionen. »He, hier entlang, Dad«, rief Johnny. Die Akustik der Tunnel ließ jedes Wort hohl schallen. Renfrew drehte sich um und glitt plötzlich aus. Fluchend rutschte er in eine dreckige Pfütze. Johnny beugte sich vor. Der Strahl seiner Lampe erfaßte einen Faden trüben Quecksilbers. Renfrews Stiefel war in einen Spalt getreten, der sich an der Nahtstelle zweier Rohre gebildet hatte. Unter der Wasseroberfläche leuchtete das Quecksilber und gab einen schmutzig-warmen Glanz ab; eine dünne Schlange, hundert Guineen wert.
»Ein Fund! Ein Fund!« jubelte Johnny. Sie saugten das Metall mit Unterdruckflaschen auf. Der Fund hatte ihre Stimmung beträchtlich gesteigert, Renfrew lachte gut gelaunt. Sie gingen weiter, entdeckten unerforschte Höhlen und dunkle Verstecke in dem unterirdischen Labyrinth. Johnny stieß auf eine hohe Nische, die verbreitert und mit Matratzen bestückt worden war. »Die Wohnung eines Stadtstreichers, nehme ich an«, murmelte Renfrew. Sie fanden Kerzenstummel und zerfledderte Taschentücher. »He, das hier ist von 1968, Dad«, sagte Johnny. Auf Renfrew machte es einen pornographischen Eindruck, er warf es mit der Titelseite nach unten auf die Matratze. »Wir sollten zurückgehen«, sagte er.
Mit Hilfe ihrer Karte fanden sie eine Eisenleiter. In die Spätnachmittagssonne blinzelnd, kroch Johnny hinaus. Oben stellten sie sich in die Schlange, um ihren Metallfund dem Förderer der Jagdgruppe auszuhändigen. Entsprechend der zur Zeit vorherrschenden Theorie, überlegte Renfrew, wurden soziale Gruppierungen jetzt gefördert, nicht geleitet. Er beobachtete Johnny, der mit zwei Jungen in der Schlange ins Gespräch kam und sich den tastenden Annäherungsritualen einer solchen Situation unterwarf. Der Junge kam bereits in das Alter, in dem die Eltern ihn nicht mehr grundlegend beeinflussen konnten. Jetzt begann der Druck der Altersgenossen und der allgemeingültigen Regeln – auf bewährte Art mit dem Ball zu tricksen; die angemessene Verachtung für Mädchen zu zeigen, sich eine Pufferrolle zwischen natürlichen Tyrannen und den Tyrannisierten zu suchen, eine gewisse grobe, aber notwendigerweise vage Vertrautheit mit dem Sex und der Funktionsweise jener rätselhaften weichen Organe vorzutäuschen. Bald würde Johnny mit den verzehrenden Problemen des Heranwachsens konfrontiert sein – wie man es zum erstenmal mit einem Mädchen macht und so durch die Flamme zum Mann wird, ohne dabei in die Falle zu stolpern, die die Gesellschaft auslegt. Aber vielleicht war diese eher zynische Sichtweise inzwischen veraltet. Vielleicht hatte die Welle sexueller Freiheit, die frühere Generationen erfaßt hatte, alles leichter gemacht. Doch Renfrew argwöhnte, daß dies nicht zutraf. Was ihm am schlimmsten erschien: Er sah keine Möglichkeit, selbst in diese Entwicklung einzugreifen. Vielleicht war es das beste, sich auf die Intuition des Jungen zu verlassen. Welche Anleitung könnte er Johnny geben? »Sieh mal, mein Sohn, denk immer daran – nimm keine Ratschläge an!« Er konnte förmlich sehen, wie der Junge mit großen Augen erwiderte: »Aber das ist doch Unsinn, Daddy. Wenn ich deinen Ratschlag annehme, tue ich das Gegenteil dessen, was du sagst.« Renfrew lächelte. Überall sprossen Paradoxe.
Eine kleine Studentengruppe begrüßte das Ergebnis der Jagd, insgesamt mehrere Kilogramm, mit großem Hallo. Jubelrufe ertönten. Ein Mann murmelte: »Wir leben von gestern.« Und Renfrew stimmte knapp zu: »Wie wahr.« Er hatte das Gefühl, daß hier das Wissen und die Rohstoffe der Vergangenheit ausgeschlachtet wurden, ohne etwas Neues zu schaffen. Wie das ganze Land, dachte er.
Auf dem Heimweg wollte Johnny anhalten und den Bluebell Country Club besuchen – ein unerträglich aufgesetzter Name für ein Sommerhäuschen aus dem 18. Jahrhundert. Miss Bell führte darin für die Eigentümer, die fortgezogen waren, ein Katzenhotel. Einmal hatte Marjorie eine widerwärtige Katze aufgenommen, die Renfrew schließlich dort für dauernd untergebracht hatte; er hatte nicht das Herz, das Tier einfach in den Cam zu werfen. Miss Beils Zimmer stanken nach Katzenurin und tuberkulöser Feuchtigkeit. »Keine Zeit«, entgegnete Renfrew auf Johnnys Frage, und sie radelten an der Katzenbehausung vorbei. Danach fuhr Johnny ein wenig langsamer, sein Blick war starr. Renfrew bedauerte es sofort, so barsch gewesen zu sein. In letzter Zeit hatte er häufiger solche Momente, wurde ihm bewußt. Vielleicht machten seine Arbeit im Labor und die Abwesenheit von zu Hause ihn für die nachlassende Nähe zu Marjorie und den Kindern sensibler. Vielleicht gab es aber auch eine Zeit im Leben, in der einem vage bewußt wird, daß man den eigenen Eltern ähnlich ist und nicht ursprünglich reagierte. Gene und Umwelt hatten ihre eigene Dynamik.
Über dem Horizont sah Renfrew eine merkwürdig geformte gelbe Wolke. Ihm fielen die Sommernachmittage ein, an denen er und Johnny die Wolkenbilder über London beobachtet hatten. »Sieh mal!« rief er und zeigte hinüber. Pflichtbewußt schenkte Johnny der gelben Wolke einen Blick. »Gleich pinkeln die Engel«, sagte Renfrew, »wie mein alter Herr immer sagte.« Von dem kleinen Ausschnitt aus der Familiengeschichte aufgemöbelt, lächelten beide.
An einer Bäckerei in King’s Parade hielten sie an. Johnny wurde ein hungriger englischer Schuljunge, der kaum noch durchhalten konnte. Renfrew erlaubte ihm zwei Stück, aber keins mehr. An der Tür des Zeitungsladens nebenan verkündete eine Kreideaufschrift die tragische Nachricht, daß die Literaturbeilage der Times den Geist aufgegeben hatte, eine Information, die Renfrew kaum mehr interessierte als die Bananenproduktion auf Borneo. Die Schlagzeilen gaben keinen Hinweis darauf, ob finanzielle Erwägungen die Einstellung verursacht hatten oder – was Renfrew wahrscheinlicher erschien – ob es der Mangel an lohnenden Büchern war.
Johnny polterte ins Haus, der Begrüßungsschrei seiner Schwester folgte prompt. Renfrew fühlte sich von der Radtour ein wenig erschöpft und merkwürdig deprimiert. Er saß im Wohnzimmer und versuchte, wenigstens einmal an gar nichts zu denken – was ihm mißlang. Das halbe Zimmer schien ihm völlig unvertraut. Antike Briefbeschwerer aus Glas, matt gewordene Kerzenständer, ein mit Blumen bestickter Lampenschirm, eine Gauguin-Reproduktion, ein sonderbar gemustertes Porzellanschwein auf dem Herd, ein Messingrelief einer mittelalterlichen Dame, ein heller Porzellanaschenbecher in Form einer Katze mit einem Dichterwort rund um den Rand. Kaum ein Quadratzentimeter, der nicht mit dumpfer Behaglichkeit gestaltet war. Als er dies alles registriert hatte, durchfuhr ihn die dünne, blecherne Stimme von Marjories Radio; wieder ging es um die Nicaragua-Sache. Die Amerikaner versuchten erneut, von der buntgemischten Gruppe der Nachbarregierungen die Zustimmung für einen Kanal auf Meeresniveau zu erhalten. Die Konkurrenz zum Panamakanal wäre angesichts der Tatsache, daß dieser die Hälfte des Jahres blockiert war, ein leichtes. Renfrew erinnerte sich an ein Interview der BBC zu diesem Thema, in dem der Saukerl aus Argentinien oder sonstwo den amerikanischen Botschafter attackiert hatte, weil die Amerikaner Amerikaner genannt wurden und die südlich der USA nicht. Die Argumentationskette führte geradewegs zu der Annahme, daß sich die USA, die sich den amerikanischen Namen angeeignet hatten, ebenso jeden neuen Kanal aneignen würden. Der Botschafter, in Fernsehdingen nicht sehr gewitzt, hatte mit einer rationalen Erklärung aufgewartet. Er stellte fest, daß kein südamerikanischer Staat das Wort Amerika im Namen führte und daher keinen nachdrücklichen Anspruch darauf hätte. Die Trivialität dieses Arguments im Angesicht eines Ausbruchs psychischer Energie des Argentiniers hatten den Botschafter deutlich ins Hintertreffen geraten lassen, als die Zuschauer am Telefon ihre Meinung zu der Diskussion äußerten. Der Botschafter hatte kaum einmal gelächelt oder in die Kamera gegrinst oder mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Wie hätte er da erwarten können, Medienwirkung zu erzielen?
In der Küche fand er Marjorie, die, so schien es, die Einmachgläser zum drittenmal neu ordnete. »Irgendwie sieht es nicht gerade aus«, sagte sie verwirrt. Er setzte sich an den Küchentisch und goß sich Kaffee ein, der, wie erwartet, eher wie Hundefell schmeckte. Das war in jüngster Zeit immer so. »Ich bin sicher, sie sind gerade«, murmelte er. Aber dann schaute er genau hin, als sie die zylindrischen Behälter in die Regale hob, und tatsächlich, die Bretter schienen schief zu sein. Er hatte sie in einer präzisen Radiallinie gebaut, die verlängert genau auf den Mittelpunkt der Erde wies, geometrisch tadellos, absolut rational und eigentlich völlig problemlos. Die Zeit hatte ihr Haus schief und winklig werden lassen. Wissenschaft wurde in diesen Tagen außer Kraft gesetzt. Diese Küche war der wahre Bezugsrahmen, die galileische Konstante. Genau. Während er seiner Frau zusah, wie sie Gläser hin und her schob, preußische Exaktheit auf Fichtenbrettern, sah er, daß es jetzt die Regale waren, die schief standen; die Wände waren gerade.