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Marjorie schloß die Küchentür hinter sich und ging, einen Eimer mit Hühnerfutter in der Hand, ums Haus herum. Der Rasen hinter dem Haus wurde durch Pflasterwege geviertelt, in der Mitte, wo sie sich trafen, stand eine Sonnenuhr. Aus Gewohnheit folgte sie dem Weg und trat nicht auf das feuchte Gras. Hinter dem Rasen lag ein von ihr entworfener Rosengarten. Als sie hindurchging, zerriß sie mit ihrem Körper feuchtglitzernde Spinnweben. Hier und da blieb sie stehen, um eine tote Blüte abzuschneiden oder an einer Knospe zu riechen. Es war noch früh im Jahr, aber einige wenige Rosen blühten bereits. Im Vorbeigehen redete sie mit jedem Busch.
»Prächtig machst du dich, Charlotte Armstrong. All diese Knospen! In diesem Sommer wirst du eine vollkommene Schönheit sein. Wie geht es dir, Tiffany? Da sehe ich doch ein paar Blattläuse. Ich werde dich spritzen müssen. Guten Morgen, Queen Elizabeth, du siehst sehr gesund aus, aber du ragst zu weit in den Pfad hinein. Ich hätte dich an dieser Seite mehr beschneiden müssen.«
Irgendwo in der Ferne hörte sie ein klopfendes Geräusch. Dazwischen erklang das Trillern einer Blaumeise, die auf der Hecke saß. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß das Klopfen von ihrem Haus kam. Heather oder Linda konnten es nicht sein, sie wären ums Haus herumgekommen. Sie drehte sich um. Regentropfen spritzten von den Blättern, als sie die Rosenbüsche streifte. Sie eilte über den Rasen und um die Haustür herum. An der Küchentür setzte sie den Eimer ab.
Eine schäbig gekleidete Frau mit einem Krug in der Hand wandte sich gerade von der Haustür weg. Sie sah aus, als hätte sie die ganze Nacht im Freien verbracht; ihr Haar war verfilzt, auf ihrem Gesicht waren Schmutzflecken zu sehen. Sie war etwa so groß wie Marjorie, aber dünner, und sie hatte hängende Schultern.
Marjorie zögerte, die Frau ebenso. Sie musterten einander über den U-förmig geschwungenen Kiesweg hinweg. Dann trat Marjorie einen Schritt vor.
»Guten Morgen.« Sie wollte noch sagen: »Kann ich etwas für Sie tun?«, unterließ es aber; sie war sich unschlüssig, ob sie für die Frau etwas tun wollte oder nicht.
»Morgen, Frollein. Können Sie mir vielleicht was Milch leihen? Ich habe nix mehr, und die Kleinen haben noch kein Frühstück gehabt.« Ihr Auftreten war selbstsicher, aber irgendwie nicht herzlich.
Marjories Augen verengten sich. »Wo kommen Sie her?« fragte sie.
»Wir sind gerade in die alte Farm unten an der Straße eingezogen. Nur ein bißchen Milch, Gnädigste.« Den Krug ausgestreckt, kam die Frau näher.
Die alte Farm – aber die ist doch verlassen, dachte Marjorie. Es müssen Squatter sein. Ihr Unbehagen wuchs.
»Wieso kommen Sie hierhin? Die Läden haben um diese Zeit schon geöffnet. Und an der Straße liegt eine Farm, wo Sie Milch kaufen können.«
»Aber Gnädigste, Sie woll’n doch wohl nicht, daß ich meilenweit renne und die Kleinen warten lasse, oder? Sie kriegens’s zurück. Glauben Sie mir nicht?«
Nein, dachte Marjorie. Warum war die Frau nicht zu ihresgleichen gegangen? Nur ein paar Meter hinter ihrer Behausung standen ein paar kleine Siedlungshäuser.
»Tut mir leid«, sagte sie entschlossen, »aber ich habe nichts übrig.«
Einen Moment lang standen sie Auge in Auge. Dann wandte die Frau sich auf das Gebüsch zu.
»Hierher, Rog«, rief sie. Ein großer, hagerer Mann tauchte zwischen den Rhododendronsträuchern auf. An der Hand zog er einen kleinen Jungen mit sich. Marjorie mußte sich zusammenreißen, um ihre Angst zu verbergen. Sie stand starr, den Kopf ein wenig zurückgelegt, und versuchte den Eindruck zu erzeugen, die Situation unter Kontrolle zu haben. Der Mann trat neben die Frau. Marjories Nasenlöcher weiteten sich unmerklich, als sie den herben Geruch von Schweiß und Rauch aufnahm. Er trug eine Mischung von Kleidungsstücken, die aus vielen verschiedenen Quellen stammen mußten; eine Stoffmütze, einen langen gestreiften Collegeschal, Wollhandschuhe mit aufgetrennten Fingern, ein Paar blaugemusterte Espadrillen, bei denen eine Sohle sich schon löste, Hosen, die einige Zentimeter zu kurz und zu weit waren, und obendrein eine üppig bestickte Weste unter einer verschmutzten alten Vinyljacke. Er war wahrscheinlich in Marjories Alter, sah aber zehn Jahre älter aus. Sein Gesicht war ledrig, seine Augen waren tief eingesunken, und mehrere Tage alte Bartstoppeln bedeckten sein Kinn. Sie war sich des Kontrasts bewußt, den sie zu den beiden bildete: rosig und wohlgenährt, das kurze Haar vom Waschen weich, ihre Haut von Cremes und Lotions gepflegt, bekleidet mit, wie sie es nannte, »alten« Gartensachen: einem flauschigen blauen Wollrock, einem selbstgestrickten Sweater und einer Lammfelljacke.
»Erwarten Sie etwa, daß wir Ihnen abnehmen, daß Sie keine Milch im Haus haben?« knurrte der Mann.
»Das habe ich nicht gesagt.« Marjorie sprach gepreßt. »Ich habe genug für mich und meine Familie, aber nicht mehr. Da unten sind genug andere Häuser, in denen Sie es versuchen können, aber ich würde vorschlagen, Sie gehen ins Dorf und kaufen Milch. Es ist nur eine halbe Meile. Tut mir leid, daß ich Ihnen nicht helfen kann.«
»Nichts tut Ihnen leid! Sie wollen einfach nicht helfen. Hochnäsig wie alle reichen Typen. Sie wollen alles für sich behalten. Sehen Sie nur, was Sie da haben – ein großes, schönes Haus nur für sich allein, schätze ich. Sie wissen nicht, wie hart das Leben für uns ist. Vier Jahre habe ich keinen Job gehabt und keine Wohnung, aber Sie haben es bequem…«
»Rog!« sagte die Frau warnend. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Er schüttelte sie ab und machte einen Schritt auf Marjorie zu. Sie blieb stehen, Wut stieg in ihr auf. Welches Recht, zum Teufel, hatten sie, hierherzukommen und sie in ihrem eigenen Garten anzuschreien?
»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich nur genug für meine Familie habe. Für jeden ist es eine schwere Zeit«, sagte sie kühl. Aber ich würde nie betteln gehen, dachte sie. Kein moralisches Rückgrat, diese Leute.
Der Mann kam näher. Instinktiv ging sie zurück und wahrte den Abstand zwischen sich und ihm.
»Für jeden eine schwere Zeit«, äffte er sie nach. »Schlimm, nich’ wahr? Schlimm für jeden, solange man ein hübsches Haus hat und genug zu essen und vielleicht ein Auto und einen Fernseher.« Seine Augen wanderten über das Haus, nahmen die Garage, die Fernsehantenne auf dem Dach und die Fenster auf. Gott sei Dank waren die Fenster verschlossen, dachte sie, und die Haustür auch.
»Ich kann Ihnen nicht helfen. Würden Sie jetzt bitte gehen.« Sie drehte sich um und wollte wieder ums Haus herumgehen. Der Mann hielt Schritt mit ihr, stumm folgten ihm die Frau und das Kind.
»O ja, so ist es richtig. Drehen Sie uns nur den Rücken zu, und gehen in Ihr großes Haus. So leicht werden Sie uns nicht los. Der Tag wird kommen, an dem Ihr alle von eurem verdammten hohen…«
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn…«
»Es reicht, Rog!«
»Eure Zeit ist abgelaufen. Es wird eine Revolution geben, und dann bettelt ihr um Hilfe. Und glauben Sie etwa, Sie kriegen sie? Nicht ein bißchen!«
Marjorie beschleunigte ihren Schritt und versuchte, ihn abzuschütteln, bevor sie die Küchentür erreichte. Sie tastete in ihrer Tasche nach dem Schlüssel, als er von hinten an sie herantrat. Aus Angst, er könnte sie berühren, wirbelte sie herum.
»Raus hier! Gehen Sie! Belästigen Sie mich nicht. Gehen Sie zu den Behörden. Verlassen Sie mein Grundstück!«
Der Mann trat einen Schritt zurück. Sie packte den Eimer mit Hühnerfutter – es sollte nichts draußen bleiben, was er vielleicht stehlen könnte. Leicht drehte sich der Schlüssel im Schloß, Gott sei Dank, und sie schlug die Tür zu, als er gerade die Stufen hinaufkam. Im Nu hatte sie den Riegel vorgeschoben. Er schrie durch die Tür: »Du verdammte, eingebildete Nutte! Dir ist es scheißegal, ob wir verhungern, nicht wahr?«
Marjorie begann am ganzen Körper zu zittern, doch sie schrie zurück: »Ich rufe die Polizei, wenn Sie nicht sofort verschwinden.«
Sie ging durchs Haus und betrachtete die Fenster. Sie wären so leicht aufzubrechen. Sie fühlte sich verwundbar, in ihrem eigenen Haus gefangen. Ihr Atem ging schnell und flach, sie verspürte einen Brechreiz. Draußen schrie der Mann immer noch, seine Sprache wurde immer obszöner.
Das Telefon stand auf dem Tisch in der Diele. Sie nahm den Hörer und hielt ihn ans Ohr. Nichts. Sie drückte die Gabel ein paarmal. Nichts. Verdammt, verdammt, verdammt. Ausgerechnet jetzt! Es geschah natürlich öfter, daß das Telefon nicht funktionierte. Aber bitte nicht jetzt, betete sie stumm. Sie rüttelte das Telefon. Immer noch Stille. Sie war völlig abgeschnitten. Was, wenn der Mann einbricht? In Gedanken prüfte sie mögliche Waffen, den Schürhaken, die Küchenmesser – o Gott, nein, nicht mit Gewalttätigkeiten beginnen; sie waren zu zweit, und der Mann sah nach einem üblen Burschen aus. Nein, sie würde das Haus auf der Rückseite verlassen. Durch die Terrassentür im Wohnraum. Und dann ins Dorf rennen und Hilfe holen.
Sie hörte ihn nicht mehr schreien, fürchtete aber, sich am Fenster zu zeigen, um zu sehen, ob er noch da war. Sie versuchte es noch einmal mit dem Telefon. Immer noch nichts. Sie knallte den Hörer auf die Gabel. Jetzt konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf Türen und Fenster und lauschte nach Geräuschen eines gewaltsamen Einbruchs. Da klopfte es erneut an der Haustür. Sie war erleichtert zu wissen, daß der Mann noch draußen war. Die Hand um die Tischkante gepreßt, stand sie abwartend in der Diele. Verschwinde, befahl sie ihm stumm. Wieder klopfte es. Nach einer Pause knirschende Fußgeräusche auf dem Kies. Ging er endlich? Dann klopfte es an der Küchentür. O Gott! Wie konnte sie ihn nur loswerden?
»Marjorie! Wo bist du?« rief eine Stimme.
Eine Woge der Erleichterung erfaßte sie, und sie war den Tränen nah. Sie war zu schwach, sich zu rühren.
»Marjorie! Wo bist du?« Die Stimme entfernte sich. Sie nahm sich zusammen, ging zur Küchentür und öffnete sie.
Ihre Freundin Heather war auf dem Weg zum Gartenschuppen.
»Heather!« rief sie. »Hier bin ich.«
Heather kam zurück. »Was ist denn los? Du siehst ja furchtbar aus«, sagte sie.
Marjorie trat vor die Tür und blickte umher. »Ist er weg?« fragte sie. »Da war ein entsetzlicher Mann hier.«
»So ein zerlumpter mit einer Frau und einem Kind? Sie gingen gerade, als ich kam. Was ist passiert?«
»Er wollte sich etwas Milch borgen.« Sie begann hysterisch zu lachen. Es klang so alltäglich. »Dann wurde er grob und fing zu schreien an. Sie sind Squatter. Letzte Nacht in das leere Farmhaus unten an der Straße eingezogen.« Sie sank in einen Küchenstuhl. »Mein Gott, hatte ich eine Angst, Heather.«
»Das glaube ich dir. Du wirkst ziemlich aufgelöst. Sieht dir gar nicht ähnlich, Marjorie. Ich dachte, du kämst mit allem zurecht, selbst mit wilden, gefährlichen Squattern.« Sie sprach in scherzendem Tonfall, und Marjorie reagierte darauf.
»Natürlich, das könnte ich auch. Wäre er eingebrochen, hätte ich ihm eine mit dem Schürhaken übergebraten und ihn dann mit einem Küchenmesser niedergestochen.«
Sie lachte, aber es war nicht komisch. Hatte sie tatsächlich daran gedacht, das zu tun?