– 17 –

15. April 1963

 

 

Gordon nahm sein Frühstück in Harry’s Coffee Shop am Girard ein. Er versuchte, seine Vorlesungsnotizen durchzulesen und einige Probleme für die Hausarbeiten zu formulieren. Das Klappern von Geschirr störte ihn, und ein blechernes Radio spielte Lieder des Kingston Trio, die er nicht mochte. Das einzige Stück der jüngeren Popmusik, das er tolerieren konnte, war »Dominique«, ein sonderbarer Schlager, vorgetragen von der Engelsstimme einer belgischen Nonne. Er war ohnehin nicht in der Stimmung, sich auf akademische Fragen zu konzentrieren. Die San-Diego-Union- Versionvon Sauls PR-Schnellschuß war schlimmer, als er erwartet hatte. Einige Mitglieder der Abteilung hatten ihn deswegen abfällig kritisiert.

Ohne zu einem Ergebnis zu kommen, dachte er während der Fahrt nach Torrey Pines darüber nach. Ein Schlangenlinien fahrender Cadillac mit aufgeblendeten Scheinwerfern machte ihn wütend. Der Fahrer war ein typischer Mann in den Vierzigern mit Filzhut und einem verwirrten Gesichtsausdruck. Ende der 50er Jahre hatte der National Safety Council viel Wirbel darum gemacht. An einem der offiziellen Feiertage hatten sie aufgefordert, mit eingeschalteten Scheinwerfern zu fahren, um alle Verkehrsteilnehmer an eine rücksichtsvolle Fahrweise zu erinnern. Irgendwie hatte sich dieser Einfall bei den Langsam-ist-sicher- Fahrern festgesetzt, und auch jetzt noch, Jahre danach, konnte man sie sich durch den Verkehr schlängeln sehen; ihre Scheinwerfer leuchteten sinnlos, und sie fuhren mit der Gewißheit, daß ihre Langsamkeit sie unverwundbar machte. Reflexhafte Dummheit wie diese brachte ihn immer wieder auf.

Cooper war bereits im Labor. Je näher seine Prüfung kommt, desto mehr Eifer legt er an den Tag, dachte Gordon, schalt sich aber sofort für seinen Zynismus. Coopers gestiegenes Interesse schien echt, möglicherweise, weil der ganze Komplex der Botschaft seine Dissertation nicht mehr betraf.

»Testen Sie neue Proben?« fragte Gordon. Sein freundlicher Ton war von Resten seines Schuldbewußtseins beeinflußt.

»Ja. Ganz gutes Material. Sieht so aus, als hätten die zusätzlichen Indium-Fremdatome die Sache gelöst.«

Gordon nickte. Er hatte eine Methode entwickelt, die Proben mit Zusätzen zu versehen, so daß sie die richtige Konzentration von Fremdatomen aufnahmen, und das war die erste Bestätigung, daß monatelange Bemühungen sich auszahlten. »Keine Botschaften?«

»Keine Botschaften«, antwortete Cooper mit offensichtlicher Erleichterung.

Von der Tür kam eine Stimme. »Hallo, man sagte mir…«

»Ja?« Gordon drehte sich um. Der Mann trug Schlackerhosen und eine Eisenhower-Jacke. Er war über fünfzig, und sein Gesicht war tiefbraun, als arbeitete er im Freien.

»Sie sind Professor Bernstein?«

»Ja.« Fast hätte Gordon einen der alten Witze seines Vaters angehängt: »Ja, ich habe die Ehre«, aber der ernste Gesichtsausdruck des Mannes sagte ihm, daß das fehl am Platze war.

»Ich, ich bin Jacob Edwards, aus San Diego? Ich habe an einigen Dingen gearbeitet, die Sie vielleicht interessieren?« Er machte jeden Satz zu einer Frage.

»An was für Dingen?«

»Nun, Ihre Experimente, die Botschaft und so? Sagen Sie, haben Sie hier die Signale aufgenommen?«

»Ja.«

Edwards schlenderte ins Labor und berührte staunend einige der Instrumente. »Beeindruckend. Wirklich beeindruckend.« Er musterte einige der neuen Proben, die auf dem Arbeitstisch lagen.

»He«, rief Cooper, vom Drucker aufblickend. »He, diese Proben sind – dreckig.«

»Ach, schon in Ordnung, ich habe sowieso schmutzige Hände. Ihr habt hier eine prima Ausrüstung? Wie bezahlt ihr das alles?«

»Wir bekommen Zuschüsse von… Mr. Edwards, was kann ich für Sie tun?«

»Nun ja, ich habe Ihr Problem gelöst? Das habe ich, o ja.« Edwards ignorierte Coopers wütenden Blick.

»Wie, Mr. Edwards?«

»Das Geheimnis«, antwortete er mit verschwörerischem Blick, »ist Magnetismus!«

»Oh!«

»Der Magnetismus unserer Sonne, da sind sie hinterher?«

»Wer?« Gordon begann zu überlegen, wie er Edwards von den Instrumenten weglotsen konnte.

»Die Leute, die Ihnen die Briefe schicken? Sie kommen hierher, um unseren Magnetismus zu stehlen. Und nur er läßt die Erde sich um die Sonne drehen – das habe ich bewiesen.«

»Sehen Sie, ich glaube nicht, daß Magnetismus irgend etwas…«

»Bei Ihren Experimenten hier…« – er klopfte auf die großen Magnetwicklungen – »… werden Magnete verwendet, oder?«

Gordon sah keinen Grund, das zu leugnen. Bevor er etwas sagen konnte, fuhr Edwards fort. »Sie werden von Ihrem Magnetismus angezogen, Professor Bernstein. Sie suchen nach mehr Magnetismus. Und jetzt haben sie Ihren gefunden, und sie werden kommen und ihn holen.«

»Verstehe.«

»Und sie werden auch den Magnetismus der Sonne nehmen.« Er fuchtelte mit den Händen und starrte zur Decke, als hätte er eine Vision. »Alles. Wir werden in die Sonne fallen.«

»Ich glaube nicht…«

»Ich kann das alles beweisen«, sagte der Mann in einem sachlichen Ich-bin-völlig- vernünftig-Ton. »Ich stehe vor Ihnen als der Mann, der das Rätsel der einheitlichen Feldtheorie gelöst – gelöst – hat. Wissen Sie das? Wo all die Teilchen herkommen und wo diese Botschaften herkommen? Ich habe das gelöst?«

»Du lieber Gott«, meinte Cooper wütend.

Edwards wandte sich ihm zu. »Was meinen Sie damit, mein Junge?«

Cooper blieb die Antwort nicht schuldig. »Sagen Sie mal, kommen sie in fliegenden Untertassen?«

Edwards’ Gesicht verfinsterte sich. »Wer hat Ihnen das verraten?«

»Nur eine Vermutung«, erwiderte Cooper sanft.

»Sie haben den Zeitungen gegenüber etwas zurückgehalten, stimmt’s?«

»Nein«, schaltete sich Gordon ein. »Nein, haben wir nicht.«

Edwards’ Finger bohrte sich auf Cooper zu. »Warum hat er dann gesagt – ah!« Er erstarrte, blickte Cooper an. »Sie erzählen es nicht den Zeitungen, oder?«

»Es gibt nichts…«

»Kein Wort über den Magnetismus?«

»Wir haben…«

»Ha, Sie behalten es nicht für sich! Die einheitliche Feldtheorie gehört mir, und Ihr gebildeten…« Er suchte nach dem richtigen Wort, gab auf und fuhr fort: »Ihr in euren Universitäten werdet mich nicht davon abhalten…«

»Es gibt keinen…«

»… zu den Zeitungen zu gehen und ihnen meine Version zu erzählen. Ich bin auch gebildet, und…«

»Wo haben Sie studiert?« fragte Cooper ironisch. »An der Baumschule?«

»Sie…« Plötzlich schien Edwards von Worten überflutet. Von so vielen, daß er sie nicht gleichzeitig herausbekam.

»Sie…«

Lässig stand Cooper auf. Er wirkte muskulös und wachsam. »Los, Junge. Bewegung.«

»Was?«

»Raus!«

»Sie können meine Ideen nicht stehlen!«

»Wir wollen sie gar nicht«, sagte Gordon.

»Warten Sie nur, bis Sie es in den Zeitungen finden! Warten Sie nur ab!«

»Raus!« befahl Cooper.

»Sie dürfen nicht einmal einen kurzen Blick auf meinen Magnetismusmotor werfen. Eigentlich wollte ich…«

Gordon stemmte die Hände in die Hüften und ging auf den Mann zu. Cooper und er nahmen ihn in die Zange, so daß nur der Weg zur Labortür frei blieb. Edwards wich, immer noch redend, zurück. Wild starrte er sie an und suchte nach einem letzten Satz, den er ihnen entgegenschleudern konnte, aber seine Phantasie ließ ihn im Stich. Murrend drehte Edwards sich um und ging hinaus.

Gordon und Cooper blickten einander an. »Eines der Naturgesetze lautet«, sagte Gordon, »daß die Hälfte der Menschen sich geistig unter dem Durchschnittsniveau befinden.«

»In einer Gausschen Verteilung, ja, sicher«, sagte Cooper. »Trotzdem ist es traurig.« Er schüttelte den Kopf und lächelte, dann ging er wieder an seine Arbeit zurück.

 

Edwards war der erste, aber nicht der letzte. Kaum hatten andere Zeitungen den Bericht des San Diego Union aufgegriffen, tauchten sie in regelmäßigen Abständen auf. Einige kamen aus Fresno oder Eugene, um das Rätsel der Botschaften zu lösen; und jeder wußte die Antwort mit Gewißheit, bevor er einen Blick auf das Material geworfen hatte. Einige brachten Manuskripte mit, in denen sie ihre Ideen über das Universum im allgemeinen oder eine spezifische Theorie niedergelegt hatten – Einstein schien ihr Lieblingskind zu sein, und ihn zu widerlegen, war an der Tagesordnung. Gordon war verwirrt von der Tatsache, daß Leute nur auf Grund eines vagen Zeitungsartikels gelehrte Abhandlungen schrieben. Einige der Besucher hatten ihre Hypothesen sogar veröffentlicht – ausschließlich in Amateurpublikationen. Sie wollten ihm ihre Abhandlungen zeigen, reichten ihm mit geradezu zärtlichen Bewegungen gebundene Papierbündel mit schaurigen Einbänden. In den Aufsätzen kämpften Fachbegriffe gegeneinander um Raum in langen Sätzen, die nirgendwo hinführten. Fingerfertig waren Gleichungen zu Papier gebracht, geschmückt mit neuen Symbolen wie Weihnachtsbäume. Wenn Gordon sich einmal die Zeit zum Zuhören nahm, begannen und endeten die Theorien im Nichts. Sie hatten keinerlei Verbindung mit allem, was in der Physik bekannt war, und verstießen stets gegen das erste Gesetz eines wissenschaftlichen Modells: Sie waren nicht nachprüfbar. Die meisten der Irren schienen zu glauben, zur Konstruktion einer neuen Theorie brauchte man nur neue Begriffe zu erfinden. Zusammen mit »Energie«, »Geld«, »Neutrino« und anderen bekannten Begriffen erschienen »Makron«, »Superon« und »Fluxkraft« – alle Undefiniert und alle von der magischen Aura des Gläubigen umgeben.

Gordon konnte sie nach kurzer Zeit auf den ersten Blick erkennen. Sie kamen in sein Büro oder ins Labor und riefen ihn zu Hause an, und sofort konnte er sie von normalen Menschen unterscheiden. Die Irren hatten immer Reizworte, die ziemlich am Anfang auftauchten. Sie behaupteten, alles gelöst zu haben – alle bekannten Probleme in einer großen Synthese zusammengefaßt zu haben. »Einheitliche Theorie« war ein hundertprozentiges Indiz. Ein anderes war das plötzliche, unerklärliche Erscheinen von Glaubensbegriffen wie »Superon«. Anfangs lachte Gordon, wenn das geschah, und nahm die Irren mit humorigen Worten auf den Arm. Aber ein drittes untrügliches Kennzeichen der Irren war ihre Humorlosigkeit. Sie lachten nie, wichen nie einen Zoll zurück. Wenn man sich offen über sie lustig machte, hatte das stets schlimme Folgen. Durch die Bank waren sie überzeugt, daß jeder Wissenschaftler darauf aus war, ihre Ideen zu stehlen. Einige warnten ihn, sie hätten bereits ein Patent angemeldet. (Die Tatsache, daß man eine Erfindung, nicht aber eine Idee patentieren kann, war ihnen entgangen.) An diesem Punkt versuchte Gordon, das Gespräch einigermaßen geschickt zu beenden. Am Telefon war das leicht, er hängte einfach ein. Mit Besuchern war das nicht so einfach. Widerstand gegen ihre bahnbrechenden Ideen führte unvermeidlich zu der Drohung, sie würden sich auf der Stelle an die Zeitungen wenden; dabei setzten sie ein grimmiges Gesicht auf, um zu signalisieren, daß sie nun, wenn auch widerstrebend, zur äußersten, ultimativen Waffe greifen mußten. Die Presse war für sie stets der Richter in Wissenschaftsfragen. Da Gordon durch den San Diego Union in ihr Blickfeld geraten war, würde er natürlich jede Attacke auf den gleichen geweihten Seiten zutiefst fürchten.

Schließlich entwickelte Gordon Verteidigungsmechanismen. Das Telefon hängte er schnell ein – so schnell, daß er einmal seine Mutter abhängte, weil er durch die transkontinentalen Störgeräusche ihre Stimme nicht erkannte und kaum etwas verstand. Ähnlich leicht war der Umgang mit Manuskripten und Briefen. Er schrieb zurück, die Ideen seien zwar »interessant«, überstiegen aber seine Fähigkeiten, so daß er keine Stellung zu ihnen nehmen könnte. Das funktionierte, sie antworteten nie. Am ärgsten war es mit persönlichen Besuchern. Er lernte, abrupt oder sogar grob zu sein. Die hartnäckige Sorte – wie Edwards – lenkte er behutsam auf andere Themen. Dann drängte er sie langsam zur Tür und murmelte beschwichtigende Worte – versprach aber nie, ein Manuskript zu lesen, sich einen Vortrag anzuhören oder für eine Theorie zu bürgen. Das hätte nur weitere Zeitverschwendung bedeutet. Er schob sie langsam auf die Tür zu, und sie gingen; verärgert manchmal, aber sie gingen.

Ein Nebeneffekt dieser Besuche von Irren waren Randbemerkungen der anderen Mitglieder der Abteilung. Zuerst nahmen sie mit Interesse von den Besuchern Notiz. Dann waren sie amüsiert, und Gordon erzählte ihnen Anekdoten über merkwürdige Theorien und noch merkwürdigere Verhaltensweisen. Aber mit der Zeit wandelte die Stimmung sich. Seine Kollegen fanden keinen Gefallen daran, daß der San Diego Union die Abteilung in ein so diffuses Licht gesetzt hatte. Sie hörten auf, ihn beim Nachmittagskaffee nach neuen Besuchern zu fragen. Gordon bemerkte die Veränderung.