– 22 –
Sie kam pünktlich zum vereinbarten Treffpunkt, der niedrigen Steinmauer vor dem King’s. Peterson zögerte nur einen Moment, um sich den Begriff ins Gedächtnis zurückzurufen, der ihn an ihren Namen erinnern würde. Ach ja, Laura – von Bowes. »Ich habe Sie hoffentlich nicht warten lassen«, sagte sie und glättete ihr Kleid mit zierlichen Händen.
Automatisch murmelte er eine Antwort. Erneut verblüffte ihn, wie hübsch sie war. Amüsiert stellte er fest, daß sie ein billiges Kleid trug, das eine Kopie von einem der Modelle Sarahs war. Eine gute Kopie, die fast jeden getäuscht hätte.
Laura war von dem Wagen beeindruckt, einem neuen Modell, das für ihn mit Sonderausstattung versehen worden war. Staunend betrachtete sie das Armaturenbrett aus Edelholz, sagte aber nichts. Sie versucht, einen gelangweilten Eindruck zu machen, dachte er. Selbst Sarah, die schon als fünfjähriges Kind weltklug gewesen sein mußte, hatte beim Anblick der Innenausstattung entzückt aufgeschrien. Wobei ihm einfiel, daß – soweit er sich erinnern konnte – Renfrew der einzige gewesen war, der sich unbeeindruckt zeigte. Er fragte sich, was das bedeuten mochte.
Als sie das Restaurant einige Meilen von Cambridge betraten, erkannte ihn der Oberkellner anscheinend wieder. Anders als die männlichen Gäste, deren Blicke Laura auf sich zog. Gin-and-Tonics, riesige Stoffservietten, das Übliche. Laura blickte sich auf eine Weise um, als machte sie sich für ihre Freundinnen im Geiste Notizen. Eindrucksvoll, urteilte er, aber stilistisch ein Mischmasch. Im Grunde eine englische Landschenke mit Andeutungen französischer Eleganz, die nicht ganz passend waren. Der Chintz, der große gemauerte Kamin, der jetzt im Sommer voller Pflanzen stand, die Balkendecke, die niedrigen runden Eichentische – alles war von gemütlicher Vertrautheit, solide. Die Kerzenleuchter und die getönten Spiegel waren falsch. Und noch ärger wirkte die Fernsehleinwand, auf der eine perspektivisch falsche Sicht eines französischen Hofs aufleuchtete; in den Feldern bewegten sich kleine Gestalten, anscheinend Bauern bei der Heuernte. Und der nachgemachte Louis XVI.-Tisch an der Wand mit den gekrümmten, vergoldeten Beinen war einfach eine Monstrosität.
»Französisch!« rief Laura aus.
»Ja«, sagte er trocken.
Mit sorgfältiger Aussprache sagte sie: »Ich möchte gerne wissen, wie die rognons de veau flambé sind. Und die côtes d’agneau à l’ail.«
»Die Nieren sind wahrscheinlich so lala. Mit dem Flambieren haben sie’s hier. Und das Lamm wird wohl eher ein ausgewachsener Hammel sein. Ihr Französisch ist recht gut.« Warum sollte er ihr das Kompliment nicht machen? Er sagte ein paar schmeichelhafte Sätze in französisch.
»Tut mir leid, ich kann nur die Speisen.«
Er lachte, erfreut darüber, daß sie auch witzig sein konnte.
Sie redeten über Ladendiebstahl bei Bowes & Bowes. Den meisten Fragen über Ratsangelegenheiten war Peterson ausgewichen. »Warum steht an der Tür kein Wächter, der die Taschen durchsucht?« fragte er.
»Mr. Smythe möchte, daß es ein vornehmer Laden bleibt, in dem die Kunden sich nicht bespitzelt fühlen.«
Peterson erinnerte sich an die Zeit, als man immer darauf zählen konnte, im College ein Zimmer zu bekommen, als man Sherry bekam, wenn man seinen Tutor besuchte, und als man im weißen Dinnerjacket zum Maiball ging. Jetzt ließen alle Colleges Frauen zu, und wenn sie es mochten, teilten die Frauen sich ihr Zimmer mit einem Mann; es gab sogar ein reines Homosexuellen-College, und nirgendwo wurde mehr akademische Kleidung verlangt.
Sie sprach über die Flegelhaftigkeit der heutigen Studenten. Er nickte. Vermutlich erwartete sie, daß er solche Sachen gern hörte. Womit sie gar nicht einmal so unrecht hatte. Aber er war an ihrem Charme interessiert, nicht an ihrer Meinung.
Er entschloß sich, die Entwicklung der Situation zu forcieren. Es schien ein simples Problem im zeitlosen Spiel der Sexualität. Vielleicht war es die Tatsache, wie berechenbar alles war, die ihn für Details unaufmerksam machte. Er mußte sich zwingen, ihrem Redefluß zu folgen. Sie wollte zum Film oder vielleicht zur Bühne. Ein Apartment in London, wenn ein Umzug möglich war. Cambridge war so fade, es sei denn, man mochte die entsetzlichen Unterhaltungsmöglichkeiten akademischer Natur. Sie hatte das Gefühl, in der momentanen politischen Situation müßte etwas Entscheidendes geschehen. Keine Überraschung, aber sie war außergewöhnlich hübsch und bewegte sich graziös.
Sie nahm von allen Gemüsen, die in Silberschüsseln serviert wurden, jedes in einer eigenen Sauce. Zu Hause hatte sie wahrscheinlich wenig Abwechslung, besonders seit den französischen Mißernten. Einen Moment dachte er darüber nach, ob der Rat hätte eingreifen und die neuen Techniken verbieten sollen. Doch dann verbannte er das Thema aus seinen Gedanken; sinnlos, über Probleme der Vergangenheit zu sinnieren.
Da es ihm schwerfiel, sich zu konzentrieren, begann er, den Gesprächsfluß zu steuern. Es war einfach genug, ein Staatsamt zu bekleiden und ein paar Namen beiläufig zu erwähnen, die Eindruck machten. Als er eine Bemerkung über Charles machte, fuhr sie auf. »Kennen Sie den König tatsächlich?« In Wirklichkeit war seine Beziehung zu Charles rein beruflich und von Respekt geprägt, aber er zögerte nicht, ihr Verhältnis übertrieben darzustellen, aber so, daß es noch glaubhaft erschien. Er war sicher, daß sie nicht einmal die diskrete Handbewegung bemerkte, mit der er eine weitere halbe Flasche Wein beim Kellner bestellte. Allmählich wurde sie ein wenig beschwipst. Das machte er sich zunutze, indem er ein paar zweideutige Bemerkungen einfließen ließ. Einmal hielt sie protestierend die Hand übers Glas und bestand darauf, genug getrunken zu haben… Er setzte die Flasche ab und begann, ihr einige pikante Details über die kürzliche Scheidung des Duke of Shropshire zu erzählen. Schnell kam er zu der Szene vor Gericht, als das berühmte Foto »ohne Kopf« gezeigt wurde. Lady Pringle hatte geschworen, es wäre der Herzog, sie würde ihn überall erkennen. Der Richter hatte gebeten, das Foto sehen zu dürfen. Er identifizierte es als deutlich erkennbare Großaufnahme männlicher Geschlechtsteile, auf der jedoch das Gesicht seiner Gespielin gut zu erkennen war. Laura kicherte so hilflos, daß er sicher war, sie würde nicht sehen, wie er ihr Glas nachfüllte. Als er zu der Frage des Richters an Lady Pringle kam, woher sie so sicher sein konnte, daß es der Herzog war, hob er sein Glas, und Laura tat es ihm unwillkürlich nach. Er ließ sie zuerst trinken, bevor er Lady Pringles Antwort zitierte, die im Saal ein solches Gelächter hervorgerufen hatte, daß der Richter ihn räumen ließ.
Er lehnte sich zurück und betrachtete sie. Es entwickelte sich hervorragend. Sie hatte ihr kokettierendes Verhalten abgelegt und vergaß auch einen Moment ihre gepflegte Aussprache.
»Ach, hör’nse auf!« sagte sie.
Der Kellner hatte einen Wagen mit französischen Süßspeisen an ihren Tisch geschoben. Wie erwartet, nahm sie die sahnigste und rückte ihr mit dem beherzten Eifer eines Schulmädchens zu Leibe.
Beim Kaffee wurde sie wieder ernst, achtete sorgfältig auf ihre Aussprache und löcherte ihn mit politischen Fragen. Sie wiederholte das übliche Zeitungslamento über unverantwortliche Unternehmer, die ohne einen Gedanken an die sozialen Folgen fragwürdige neue Produkte auf den Markt warfen. Peterson begnügte sich damit, diese Standardpredigt über sich ergehen zu lassen. Doch dann war er, ohne es richtig zu bemerken, plötzlich dabei, laut über Dinge zu sprechen, die er lange Zeit verschüttet hatte. »Nein, nein, das sehen Sie falsch«, sagte er abrupt. »Der Knick setzte ein, als wir anfingen, die vorgeblich sozial relevanten Forschungsbereiche mit Prioritäten zu versehen. Wir akzeptierten die Einstellung, die Wissenschaft sei wie andere gesellschaftliche Bereiche, in denen man ein Produkt schafft, das dann von oben nach unten unter die Leute gebracht wird.«
»Sicher, das ist möglich«, sagte Laura, »wenn oben die richtigen Leute sitzen.«
»Es gibt keine richtigen Leute«, erwiderte er energisch. »Ich bin gerade dabei, das zu lernen. Sehen Sie, wir sind zu den führenden Wissenschaftlern gegangen und haben sie aufgefordert, sich der vielversprechendsten Bereiche anzunehmen. Die unterstützen wir dann und beschneiden den Rest – ›um unsere Kräfte zu konzentrieren‹. Aber die wahre Vielfalt in der Wissenschaft kommt von unten, nicht von den Neuerungsmanagern an der Spitze. Wir haben die Bandbreite der Wissenschaft verengt, bis alle nur noch die wohlbekannten Probleme sahen. Um Geld zu sparen, haben wir Phantasie und Begeisterung erstickt.«
»Mir scheint, was wir haben, ist zuviel Wissenschaft.«
»Zuviel angewandte Arbeit ohne wirkliches Verständnis, jawohl. Ohne Verfolgung der Grundlagen bekommt man eine Generation von Technikern, und die haben wir jetzt.«
»Mehr Kontrollen, um die unvorhergesehenen Nebenwirkungen zu sehen…«
»Um zu sehen, muß man einen Blickpunkt haben«, sagte er ernst. »Ich fange gerade erst an, diese Tatsache zu begreifen. Das ganze Gerede über ›soziale Relevanz‹ setzt voraus, daß irgendwo ein Bürokrat sitzt, der am besten beurteilen kann, was nützlich ist. Und jetzt laufen die Probleme den Praktikern, den Leuten mit beschränktem Horizont davon…«
Er brach ab, verblüfft über seinen Ausbruch. Er hatte die sorgfältig kultivierte Stimmung des Abends verändert, vielleicht auf verhängnisvolle Weise. Möglicherweise lag es daran, daß er den ganzen Tag mit Renfrew verbracht hatte. Einen Moment lang hatte er heftig gegen genau die Sichtweise argumentiert, die ihn so schnell nach oben gebracht hatte.
Er nahm einen tiefen Schluck von seinem Kaffee und kicherte. »Mich hat es wohl ein wenig aus der Kurve getragen. Muß am Wein liegen.« Wenn er es geschickt anstellte, konnte er den plötzlichen Ausbruch dazu nutzen, sich als einen Mann zu präsentieren, der voller Leidenschaft über die Probleme der Welt reflektierte, der ein engagierter und unabhängiger Denker war. Er machte sich daran, diesen Eindruck zu verstärken.
Der Mond stand hoch über den Bäumen. Über die Lichtung strich still eine Eule. Vorsichtig zog er seinen Arm unter ihrem Kopf fort und schaute auf die Uhr. Schon nach Mitternacht, verdammt! Er stand auf und begann sich anzuziehen. Sie blieb stumm liegen, selbstvergessen, die Beine immer noch weit gespreizt.
Sie lag auf seiner Jacke. Er bückte sich, um sie unter ihr fortzuziehen, und sah im Mondlicht Tränen auf ihrem Gesicht. O verflixt. Damit wollte er sich nicht auch noch belasten.
»Zieh dich besser an«, sagte er. »Es ist schon früh.«
Sie setzte sich auf und fingerte an ihrem Kleid herum. »Ian«, begann sie mit dünner Stimme, »das ist mir noch nie passiert.«
»Ich bitte dich«, sagte er ungläubig. »Du willst mir doch nicht erzählen, daß du noch Jungfrau warst.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
Er vermutete zu verstehen, was sie meinte. »Du hast noch nie…?«
»Ich… nicht mit einem Mann… nicht so… Ich habe nie…« Sie stolperte über ihre Worte, verstummte verlegen.
Das war es also. Er half ihr nicht weiter. Er fühlte sich müde und gereizt, das unausgesprochene Kompliment berührte ihn nicht. Es war Ehrensache, sie zu befriedigen, mehr nicht. Sie hatte lange genug gebraucht, weiß Gott. Aber es war immer noch besser gewesen als mit der nymphomanischen Japanerin in La Jolla, Kiefers Frau. Als er jetzt an sie dachte, hatte es einen unangenehmen Beigeschmack. Er hatte das Übliche getan – tatsächlich, nicht mehr. Sie war immer wieder gekommen, schien unersättlich zu sein. Eine fiebernde Gier war ihr zu eigen gewesen, etwas, das er in letzter Zeit nicht bei vielen Frauen bemerkt hatte. Aber das war ihr Problem, nicht seins. Seufzend verdrängte er die Erinnerung.
Er schüttelte seine Jacke aus, wischte ein paar Grashalme ab. Sie war jetzt still und fingerte noch immer an der Krawatte ihres Kleids herum. Wahrscheinlich versuchte sie, den gleichen Knoten wie vorher zu knüpfen. Er ging voran, hatte kein Verlangen mehr, sie zu berühren. Als sie nach seiner Hand griff, hielt er es für taktisch klug, sie zu halten; schließlich würde er ja wieder nach Cambridge kommen. Geistesabwesend kratzte er einen Mückenstich an seinem Hals, den er bekommen hatte, als sie sich im Gras wälzten. Morgen würde wieder ein langer Tag sein. Er spannte die Schultern. Die Kälte hatte seine Muskeln sich verkrampfen lassen. Mal überlegen, morgen war die Unterausschußsitzung, und dann mußte er sich über den Krieg um die heiligen Kühe informieren, der immer noch in Gang war… Abrupt wurde er sich bewußt, daß er in diesen Tagen stets ein wenig in der Zukunft lebte, eine Gewohnheit, die ihm schon in Fleisch und Blut übergegangen war. Bei den Renfrews war er durch Gedanken an Essen und Wein abgelenkt worden. Im Restaurant hatte er Lauras Haare betrachtet und überlegt, wie es wohl auf einem weißen Kissen ausgebreitet aussehen mochte. Dann, direkt nach dem Geschlechtsverkehr, waren seine Gedanken zum nächsten Tag und zu dem, was er zu tun hatte, gewandert. Mein Gott, ein Esel, der der Möhre nachlief.
Er war leicht überrascht, als sie aus dem dunstigen Wald ins Mondlicht hinaustraten und er sich erinnerte, daß er noch in Cambridge war.