Gloria
GLORIA
In der Raststätte beobachten sie, wie sie die Stufen hinaufhumpelt und die Tür öffnet – die Kellnerin und eine Handvoll Männer, die gerade beim Frühstück sitzen. Sie wären vermutlich aufgestanden und hätten ihr geholfen, aber sie wissen nicht so recht, was sie von dem seltsamen Besucher halten sollen. Es ist kurz vor Sonnenaufgang – jene Stunde, in der sich der neue Tag noch nicht eindeutig festgelegt hat, in der das Leben ein bisschen ist wie Theater und noch nicht ganz klar ist, welche Rolle du spielen wirst.
Krumm und x-beinig steht das Mädchen mit ihrem Helm auf dem hellen Linoleum – wie ein Flüchtling aus dem Weltall, der den Erdenbewohnern schreckliche Nachrichten zu überbringen hat. Und all die Hasen, Eierkörbe und der ganze andere grelle Osterschmuck, der an Fäden von der Decke hängt, drehen sich trunken in dem Windstoß, den sie durch die Tür hineingelassen hat.
Die Kellnerin zieht die angemalten Augenbrauen nach oben, während ihre Hand in der Kasse erstarrt ist. »Alles okay bei dir, Puppe?«, fragt sie.
Die Puppe antwortet nicht. Stattdessen sackt sie langsam in sich zusammen, wie ein abrissreifes Gebäude nach der ersten Ladung Dynamit. Ein Mann, auf dessen T-Shirt ein heulender Koyote zu sehen ist, springt vom Tresen auf. Er bewegt sich wie ein Ringer, fängt das Mädchen in seinen Armen auf, bevor sie den Boden berührt, und schleift ihren leblosen Körper zur Tür. Die Kellnerin stemmt ihre Hände auf die Hüften. Die Anwesenden schauen sprachlos zu, die Gabeln vor den geöffneten Mündern.
»Wo willst du denn mit ihr hin?«, fragt einer.
»Mach dir keine Sorgen«, sagt der Mann mit dem Koyoten. »Sie gehört zu mir.«
»Was ist mit deinen Rühreiern?«, bellt ihm die Kellnerin hinterher.
»Schreib sie auf meinen Deckel«, sagt er – und ist mit dem Mädchen verschwunden.
Als sie wieder zu sich kommt, sitzt sie in seinem Truck. Ein zerfleddertes indianisches Amulett hängt am Rückspiegel, ein Hufeisen am Armaturenbrett. Sie rumpeln einen Feldweg hinunter, durch das wackelnde Fenster sieht sie die Kiefern am Wegesrand. Schmerz und Übelkeit schießen durch ihren Körper. Leere Kaffeebecher und süßlich riechende Apfelkitschen liegen auf dem Boden, der von dem jungen Tageslicht geflutet wird.
»Halt dein Bein still.«
»Wohin fahren Sie mich?«
»Die Straße rauf.«
»Und wohin?«
»Wo dich niemand finden kann. Ist es nicht das, was du suchst?«
Im Kopf des Mädchens dreht sich alles. »Wo ist mein Moped?«, sagt sie.
»Hinten auf dem Truck. Du wirst es noch brauchen, wenn wir dich wieder auf Vordermann gebracht haben.«
»Sie wollen mir helfen?«
»Ja.«
»Und warum?«
»Weil ich weiß, wie ein gehetztes Mädchen aussieht. Meine Mutter sah immer so aus: Ihre Augen waren ein einziges gefrorenes Fragezeichen, und niemand konnte ihre Fragen beantworten. Im Laufe meines Lebens hab ich genug Scheiße erlebt und weiß sofort, ob jemand auf der Flucht ist, und ich war lange genug auf der Jagd, um zu wissen, wie eine Beute aussieht, die in die Enge getrieben ist.«
»Beute?«
»Jemand ist doch hinter dir her, oder nicht?«
Sie fühlt, wie sie sich wieder der Ohnmacht nähert. Sie atmet tief durch und sagt: »Weiß nicht. Gut möglich, dass er mich verfolgt.«
Der Wagen rumpelt weiter, und der Fahrer hat beide Hände am Lenkrad. Sein Rücken ist aufrecht, und hinter seiner Pilotensonnenbrille suchen seine Augen nach Schlaglöchern, Hochwild und streunenden Hunden. Ihr Kopf will dem Mädchen Angst einreden, doch ihr Körper fühlt nichts davon. Sie beginnt zu verstehen, dass Sicherheit ein Wort mit unterschiedlichen Bedeutungen ist. Es gibt solche Zufluchtsorte und solche. Ein ausgetrockneter toter Hase liegt am Straßenrand, unter den Bäumen wachsen wilde Blumen, ihre Augen, zum Fragezeichen gefroren, sehen inzwischen alles doppelt – und der Kassettenrekorder singt ein Lied, zu dem sie früher getanzt hat.
Im Club arbeitet sie an der Stripstange, während ein orangefarbenes Stroboskoplicht über ihr flackert. Die Männer an den Tischen beobachten sie, und ein alter Hit namens »Gloria« dröhnt aus dem Lautsprecher, der an einer Kette von der Decke hängt. Für eine Stripperin hat sie kleine Titten. Gloria, Gloria. Sie hat lange Beine und hat ihren Mund angemalt, und ein Mann flüstert seinem Nachbarn etwas ins Ohr, und sie lachen und grölen und prosten sich in diesem klimagekühlten Krawall aus Lust und Lärm mit den Gläsern zu. Gloria. Das Mädchen kauert nieder, legt ihre Handflächen auf den Boden, streckt den Arsch in die Höhe und schwingt ihn von einer Seite zur anderen.
Als sie ihre Augen wieder aufschlägt, liegt sie auf einem schmalen Bett in einem schlichten, aufgeräumten Zimmer. Ein Glas Wasser steht auf dem Nachttisch. Sie setzt sich auf und trinkt. Die Flüssigkeit in ihrem ausgetrockneten Mund fühlt sich gut an. Als sie das Glas wieder absetzt, merkt sie, dass unterhalb ihrer Hüfte etwas passiert sein muss. Mit ihrer Hand schlägt sie die dünne Decke zurück und sieht, dass ihr Bein auf einem Kissen liegt. Unter ihrem Knie ist es mit einem Metallstab geschient, der mit sauberem Verbandszeug umwickelt ist.
Durch die Schiebetür auf der anderen Seite des Zimmers sieht sie auf einen trockenen Rasen und dünne weiße Wolken in einem endlosen Himmel. Ein Mann tritt in ihr Blickfeld. An einer kurzen Leine führt er ein Pferd Richtung Haus. Als sie näher kommen, sieht das Mädchen, dass das Pferd verletzt sein muss: Sein Kopf hängt kraftlos herab, es scheint sich nur mühevoll bewegen zu können. Der Mann beugt sich zu seinem Ohr und flüstert ihm etwas zu. Dann küsst er es auf die Stirn und streichelt ihm über den Kopf.
Er öffnet die Schiebetür und – das Mädchen mag ihren Augen nicht trauen – führt das Pferd ins Zimmer hinein.
»Das ist Cher«, sagt er mit einer Kopfbewegung.
»Hi, Cher«, sagt sie auf dem Bett liegend, noch immer benommen.
»Ich würde die Vorstellung ja fortsetzen, aber ich weiß nicht, wie du heißt.«
»Gloria«, hört sie sich sagen.
»Nur Gloria?«
»Ja.«
»Gut, dann haben wir gleich zwei Diven auf unserem Grundstück. Cher, das ist Gloria.«
Draußen hat ein leichter Regen eingesetzt, und der Mann dreht sich um und schließt die Tür. Cher hebt den Kopf und gibt mit den Nüstern ein leises Geräusch von sich. Die Ausreißerin lächelt, fühlt sich warm und wohl unter ihrer Decke und weiß, dass sie hier sicher ist.
»Wer sind Sie?«, sagt sie zu dem Mann.
»Charles P. Shoemaker der Vierte, der Letzte in einer langen Reihe von Sonderlingen.«
»Reparieren Sie Schuhe?«
»Die Vermutung liegt nahe, aber ich repariere Pferde. Vielleicht sollte ich besser sagen: Ich versuche, sie wieder auf die Beine zu stellen.«
Sie schaut ihn an, greift nach dem Glas und trinkt einen Schluck. »Haben Sie schon jemals ein kaputtes Mädchen geflickt?«
»Nein. Hätte ich mal besser mit meiner geschiedenen Frau gemacht, dem Flittchen. Hätte ihr die Eierstöcke abbinden und zu einem giraffenförmigen Ballon aufblasen sollen.«
Das Mädchen lacht und trinkt noch einen Schluck Wasser. »Nun, es gibt für alles ein erstes Mal«, sagt sie.
»So sagt man.«
Nach einer Weile sagt sie: »Danke, Charles.«
»Chuck.«
»Danke, Chuck, dass du mir hilfst. Ich bin wirklich mutterseelenallein.«
»Keine Familie?«
»Niemanden, der mir etwas bedeutet.«
»Ein Beau?«
»Ein was?«
»Ein Boyfriend.«
»Er war es, der mich so zugerichtet hat.«
Chuck weiß nicht, was er darauf antworten soll.
»Er ist Kritiker bei der LA Times«, sagt sie leise und spürt, wie sich der Nebel in ihrem Kopf wieder zuzieht. »Ich glaube, er liebt mich. Er war nur außer sich, weil ich ein kommender Star im ›City Ballet‹ gewesen wäre und …«
»Psst«, sagt der Mann. »Ruh dich erst mal aus. Du musst jetzt wirklich an deiner Genesung arbeiten.«
»Was für ein kultiviertes Wort«, sagt sie mit einem gequälten Lächeln.
»Ich bin auch ein kultivierter Bursche«, sagt er und spuckt demonstrativ in das Waschbecken an der Wand. »Dein Schienbein ist gebrochen. Du musst es hochlegen und dich erholen. Bis es dir besser geht, kannst du gerne hierbleiben. Dann kannst du wieder auf deinen Kinderroller steigen und die Sieben Meere befahren, so lang es dir Spaß macht. Tu mir nur den Gefallen und spiel nicht den Draufgänger.«
Sie verbringt die Tage damit, auf den Krücken, die er ihr gegeben hat, das Gelände zu erforschen – bis hin zum Ende der Farm, wo ein elektrischer Zaun die Pferde von den Wölfen trennt. Umgeben vom Panorama der wild zerklüfteten Berge, scheint jeder Atemzug in ihren Lungen ein kleines Wunder zu sein. Charles P. kommt und geht wie ein Schatten. Sie entdeckt ihn manchmal in der Entfernung, hört seinen Truck in der Einfahrt, sieht ihn vor dem Fenster oder auf dem Feld, sie lächeln sich kurz an, winken einander zu oder wechseln ein Wort.
An einem Nachmittag sitzt sie unter einem großen einsamen Baum, mit dem Rücken am Stamm, die Augen geschlossen gegen die helle Sonne auf ihrem Gesicht. Ein hochschwangeres Pferd hat sich unhörbar genähert, steht nun vor ihr, senkt seinen weißen Kopf und berührt mit seinem Maul die Augenbraue des Mädchens.
»Huch.« Sie schreckt hoch, noch immer von der Sonne benommen. Sie öffnet die Augen und sieht das Tier hoch über sich stehen.
Das Mädchen streckt vorsichtig seinen Arm aus und streichelt seinen Scheitel, die dichten, drahtigen Haare über den großen, dunklen Augen.
»Wo kommst du denn her?«, fragt sie. Das Pferd, dankbar für die Berührung, schnaubt warme Luft durch seine feuchten Nüstern. »Wahrscheinlich fragst du dich das Gleiche?«, sagt sie, noch immer seinen Kopf streichelnd, und schaut zu einem fernen Punkt am Horizont. »Ich wurde an der Küste von Maine geboren, landete aber irgendwie in Venice Beach – von einem Ozean zum anderen. Mein richtiger Name ist Desiree, mein Bühnenname ist Desire, aber jetzt bin ich wohl Gloria. Was macht es schon für einen Unterschied? Diese Welt saugt ein Mädchen leer und pisst es wieder aus und fragt nicht mal nach seinem Namen.«
In der nächsten Nacht wird sie von einem Traum geweckt und steht auf, um sich im Dunkeln anzuziehen. Sie sitzt auf dem Bett und starrt durch die Glastür hinaus. Außer ihrem Atem ist kein Geräusch zu hören.
Sie schiebt sich den Rucksack auf den Rücken und die Krücken unter die Arme. Sie öffnet die gläserne Schiebetür und humpelt geräuschlos durch den Vorgarten zum Schuppen, wo ihr kleines, schwarzes Ross auf sie wartet. Sie setzt ihren Helm auf. Und dreht den Zündschlüssel.
In ihrem Traum geht sie in einem verwunschenen Wald an einem rauschenden Bach entlang. Ihre nackten Füße gleiten über das Moos und wirbeln trockene Blätter hoch. Geruch von Kiefern. Sonne zwischen den Bäumen. Nach einer Weile sieht sie ein Mädchen, nicht älter als zehn, das auf einem Felsbrocken am Wasser sitzt und ihre Zehenspitzen hineintaucht. Die Träumerin muss ob der malerischen Szene lächeln. Wie eine kitschige Postkarte. Aber als sich das Kind umdreht und ihr in die Augen schaut, verwandelt sich ihr Lächeln in Schrecken. Sie weiß, dass dieses kleine Gesicht ihr eigenes ist, sie kennt die violetten Haarspangen, sie weiß instinktiv, wie brutal schnell die Zeit vergeht, sie kennt die stockende Stimme, die sie beim Aufwachen zwei Dinge fragt: »Warum hast du nichts unternommen? Was ist nur aus uns geworden?«