Gay Paris, New York

GAY PARIS, NEW YORK

Die ganze Nacht hat es in Strömen geregnet. Ein heftiger, bösartiger Sturm, der Gloria immer wieder aus dem Schlaf gerissen hat, ein Sturm, bei dem man dankbar ist, vier Wände und ein Dach über dem Kopf zu haben, die diesem kinetischen Derwisch aus Wind und Wasser beharrlich den Zutritt verweigern.

Dann hört sie ein lautes Krachen und hebt ihren Kopf, den sie in einem sicheren Versteck zwischen zwei Kissen vergraben hat. Sie sieht im fahlen Morgenlicht, wie draußen der Sturm noch immer wütet und die große blaue Plane über den Flohmarkt weht.

Aus dem Hinterzimmer hört sie ein Schlurfen und ein unterdrücktes Fluchen. Debbie und Joe stürmen heraus, bahnen sich ihren Weg durch den vollgestopften Raum, der einst das Dairy Queen beheimatete, und rennen zum Eingang – als seien sie Sanitäter, die nach einem Erdbeben als Erste die zerstörte Shoppingmall betreten.

»Herr im Himmel, nicht die Porno-Spielkarten! Die hatte ich doch gerade erst aufgetrieben«, hört Gloria Debbie schreien. »Schnell, Joe, sammle sie ein, es sind Originale aus den Fünfzigern.«

Dann hört sie ein anderes Geräusch. Es kommt von oben – Lionel in seiner Dachkammer. Sie atmet einmal durch, steht auf, zieht ihre Stiefel an, geht zur Leiter und lauscht den Wortfetzen, die oben aus der Luke kommen.

»Tut mir leid tut mir leid tut mir leid«, scheint er zu sagen. Immer und immer wieder.

»Lionel?«, ruft sie vorsichtig die Leiter hinauf. »Ist alles okay bei dir?«

Sie wartet auf eine Antwort, aber nichts passiert. Nur die alte zerkratzte Schallplatte, die unaufhörlich die gleichen Worte wiederholt: »Tut mir leid tut mir leid tut mir leid.«

Sie steigt die Leiter hinauf, ihr Bein schmerzt mit jeder Sprosse mehr, und sie denkt: Er muss wohl träumen. Als sie oben ankommt, macht sie sich für einen Augenblick mit dem seltsamen kleinen Zimmer vertraut, tritt dann an sein schmales Bett, schaut zu ihm hinunter und weiß sofort, dass es kein guter Traum sein kann.

»Tut mir leid tut mir leid tut mir leid, dass ich sie nicht aufgehalten habe«, stöhnt der Junge. Auf seinen blassen Schläfen steht der Schweiß, die Sonnenbrille steckt auf seinem Gesicht wie ein schlechter Scherz, Babar liegt achtlos auf dem Boden.

»Black Jesus«, sagt sie und berührt vorsichtig seinen Fuß. »Wach auf, es ist nur ein Traum.« Als er sich nicht rührt, schüttelt sie sein Bein. »Raus aus den Federn, Soldat!«

In diesem Moment schießt er in seinem Bett hoch, wie ein Vampir aus einem B-Movie, und legt seine Arme um den Oberkörper, als wache er in eisiger Kälte auf.

»Wer bist du?«, fragt er mit entrückter Stimme.

»Ich bin’s, Gloria. Du bist in Sicherheit. Es ist nur ein Traum.«

»Nein, ist es nicht«, sagt er, und etwas in seiner Antwort lässt sie erschaudern. »Wo ist meine Mutter?«, sagt er.

»Sie ist draußen, zusammen mit Joe. Der Wind hat die Planen aus der Befestigung gerissen und bläst alle Sachen weg.«

»Ich brauch meine Pillen.«

Gloria antwortet nicht.

»Kannst du sie für mich holen?«, sagt er.

»Bist du sicher, dass du diese Dinger wirklich nehmen willst? Sie können nicht gut für dich sein.«

»Was soll ich denn sonst nehmen?«

Die Stripperin weiß nicht, was sie darauf antworten soll.

»Bitte, Gloria.«

»Wo sind sie?«

»Mama verwahrt sie neben dem Waschbecken.«

Als sie wieder die Leiter hinaufklettert, die Pillen in ihrer Hosentasche, ein Glas Wasser in der freien Hand, hört sie in ihrem Kopf Bea Two-Feathers Stimme: Ein Zaun, damit die Trauer nicht rauskommen kann.

Es gibt so viele Arten von Zäunen, denkt die Ausreißerin, als sie oben auf der Leiter ankommt. Weiße Holzzäune. Elektrische Zäune. Stacheldraht. Stripstangen. Tarnanzüge in der Wüste. Schmerzmittel. Altersheime. Wo zum Teufel ist da der Unterschied?

Nun sitzen sie Seite an Seite auf Lionels Bett. In ihrer Abwesenheit muss der Junge aufgestanden sein und auf dem Boden nach Babar gefischt haben, weil der ausgestopfte Elefant nun inmitten der Bettbezüge und Polyesterdecken thront, die Goldkrone mit den schlaffen Zacken auf dem Kopf, die weißen Stoßzähne inzwischen ein gräuliches Gelb.

Gloria ignoriert die warnende Stimme in ihrem Kopf, dreht den Verschluss auf und holt zwei große Tabletten aus der überdimensionalen, fleischfarbenen Dose, auf der zu lesen ist: »OxyContin«, »60 MG«, »Für Kinder unzugänglich aufbewahren«.

Sie legt die Pillen auf seine offene Handfläche und führt das Wasserglas an seine Lippen.

Draußen im Regen-Inferno hören sie Debbie rufen: »Hiev es hoch, Joe, hiev’s hoch!« Fat Debbie, der schrullige Captain Ahab von Gay Paris.

»Danke, Gloria.«

»Wofür? Dass ich dich mit diesem Mist füttere?«

»Ich weiß nicht, was ich sonst nehmen soll«, sagt er. Seine Stimme zittert, seine Hand ebenso.

»Ich weiß es auch nicht«, sagt sie und nimmt die kalte Hand. »Aber ich werd dir dabei helfen, das Richtige zu finden.«

»Kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.«

»Doch, wirklich. Ich versprech’s dir. Hol dir deinen Kick, solange du high bist. Aber ich hab das Gefühl, dass wir für dieses Zeugs hier noch eine bessere Verwendung finden.«