Gloria

GLORIA

Wenn die Landkarte ihrer Heimat als »Malen nach Zahlen« angelegt worden wäre, hätte sie das zerquetschte Quadrat, das Missouri darstellt, nur zur Hälfte in einem stumpfen metallischen Grau bemalt, weil sie mittendrin genervt den Pinsel weggeschmissen und sich längst die Bettdecke über den Kopf gezogen hätte.

Seit gestern regnet es ununterbrochen, und sie hat sich in der Raststätte einer Tankstelle verkrochen, wo sie nun in einer verblassten roten Sitzecke hockt, den Rucksack auf dem Schoß, das Gesicht gegen die Fensterscheibe gepresst. Draußen versucht ein Mann, den Sprit mit seiner Kreditkarte zu zahlen, hat aber keinen Erfolg. Er nimmt die Karte heraus, starrt sie an, versucht es erneut, hat aber wieder kein Glück. Er tritt gegen die Zapfsäule. Er spuckt. Er flucht und steigt wieder in seinen Truck und fährt in den Regen hinaus. Seltsam, aber jenseits der Scheibe scheint alles in einer fast schon provokanten Lautlosigkeit abzulaufen – das Hupen eines Autos, das Geräusch eines vorbeifahrenden Trucks, der Wind, sogar der strömende Regen. Hier drinnen kratzen Messer auf Tellern, klirren Gläser – und manchmal unterhalten sich die Leute in einer Sprache, die ihr fremd geworden ist, auch wenn es die Einzige ist, die sie kennt. Die große Uhr am Eingang sagt, dass es 6 Uhr 49 ist, und sie hört das Ticken, während ihr gebrochenes Herz einer eigenen Zeitrechnung folgt. Sie muss an den Tag denken, als sie im vierten Schuljahr war und ihre Mutter vor der Schule in ihrem kleinen rostigen Auto wartete und mit ihr nicht nach Hause fuhr, sondern auf den Highway, und den ganzen Bundesstaat Maine durchquerte, bevor sie zu der Musik aus dem Radio, dem Summen der Räder und dem Knattern des Motors endlich einschlief – und alles nur, um vor ihrem gewalttätigen Vater zu fliehen. Einige Dinge ändern sich nie.

Am nächsten Morgen wachte sie auf dem Beifahrersitz auf, während ihre Mutter noch schlief. Ihr ausgewaschenes Madonna-T-Shirt, das sie ohne BH trug, schien die ersten Sonnenstrahlen einfangen zu wollen. Ihre Zähne knirschten zu einem Traum, den ihre Tochter erst in zehn Jahren verstehen würde. Vorsichtig öffnete das Mädchen die Tür und ging auf den Parkplatz hinaus, auf dem sie die Nacht verbracht hatten. Es war kalt um diese Stunde. Und weit und breit war nur ein anderes Auto zu sehen, ein klappriges rotes Ding mit einem Pappschild hinter der Windschutzscheibe, auf dem zu lesen war: »850 Dollar oder höchstes Gebot«.

Sie parkten an einem wenig befahrenen Highway, den sie noch nie gesehen hatte. Ein Stück weiter stand eine Garage, auf der anderen Straßenseite ein weißer Trailer, aber sonst war nichts zu sehen als Wald. Als sie sich wieder zu den Bäumen umdrehte, unter denen sie geparkt hatten, sah sie ein großes hölzernes Schild: »Mystery Spot«.

Die Zeit und das Wetter hatten ihre Spuren hinterlassen, aber sie konnte die Schrift noch problemlos lesen. Was muss es in einem neunjährigen Mädchen auslösen, wenn ihr das Schicksal einen derartigen Wink gibt? Zu einem Zeitpunkt, an dem die zarten Geheimnisse dieser Welt noch nicht ausgesaugt wurden wie das Benzin aus einer gefräßigen Kettensäge. Es war, als würde sie das Schild magisch anziehen. Mystery Spot. Als sie näher trat, entdeckte sie eine Metallkiste mit der Aufschrift: »Nimm dir eins.« Sie holte gerade einen der Prospekte heraus, als sie ihre Mutter rufen hörte: »Komm zum Auto – wir müssen weiter.« Sie faltete den Zettel und steckte ihn in ihre Jeans.

Gloria starrt in ihren kalten Kaffee. Sie schließt die Augen, atmet langsam, öffnet die Augen, dann ihren Rucksack, sucht und findet ein zerknittertes Papier, das sie vor sich auf den Tisch legt: Mystery Spot.

Der Regen läuft seitwärts am Fenster ab, ein Mann in der nächsten Sitzecke hustet – und das Schmerzmittel, das sie genommen hat, zeigt keinerlei Wirkung. Sie sitzt in der Trostlosigkeit der Raststätte und öffnet das Faltblatt, dieses Relikt ihrer Kindheit, das sie überall mitgenommen hat, durch all ihre Tränen und Neuanfänge:

briefkopf.tif

Tief im Herzen der Catskills finden Sie diesen magischen Ort. Ein unerklärliches Phänomen der Schwerkraft sorgt hier für haarsträubende Attraktionen, die Sie und Ihre ganze Familie faszinieren werden.

WILLKOMMEN AM MYSTERY SPOT,
wo das Wasser bergauf fließt, Stühle ganz wie von selbst tanzen und die Dinge nicht sind, was sie zu sein scheinen.

Sie finden uns auf der Route 32, nicht weit vom New York Thruway, nördlich von Carson City und gleich in der Nähe des Ortes, wo sich Rip Van Winkle zu seinem langen Schlaf niederlegte.

ERWACHSENE: $ 5 / KINDER UND SENIOREN: $ 2.50

Versuchen Sie Ihr Glück und besuchen den Mystery Spot, wo selbst das Unmögliche möglich wird.