Gay Paris, New York
GAY PARIS, NEW YORK
Auf einem fremden Sofa aufzuwachen, ist ein Gefühl, das jeder Tagträumer kennt. Fliege auf deiner Hand. Das ungewohnte Licht. Fliege auf deinen trockenen Lippen. Sieben mittelschwere Albträume, die sich vermischen wie nasse Farbe im Regen, einer alltäglicher als der andere. Fliege auf deinen ungekämmten Haaren.
Wo bin ich? Riecht seltsam hier. Ein unglaubliches Durcheinander, diese Kisten, der Kleiderständer, die Schaufensterpuppe mit ihrem Chiffon-Kleid und der violetten Perücke – vielleicht weiß sie ja mehr als ich? Es ist totenstill hier, aber nein, da ist das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos, und noch eins. Jetzt wieder völlige Stille. Ein Vogel. Mein Kopf tut weh. Ist das eine Softdrinkmaschine da drüben? Warum habe ich das Gefühl, schon mal hier gewesen zu sein? Wer hat die Decke über mir ausgebreitet?
»Hallo«, sagt sie in den modrigen Raum hinein, noch immer auf dem Sofa liegend, den Kopf leicht zur Seite gewandt, ihre Augen auf das abgedunkelte Fenster mit den Aluminiumjalousien gerichtet.
Niemand antwortet. Doch dann hört sie Schritte und Bewegungen über sich. Da oben scheint jemand zu sein. Sie muss an Flowers In The Attic denken, diesen Horrorfilm, und zittert. Sie richtet sich auf, bewegt langsam ihr verletztes Bein und schlägt die alte Strickdecke um ihren Oberkörper.
»Hallo«, sagt sie noch einmal und reckt ihren Kopf, um der Quelle dieser Geräusche auf die Spur zu kommen. Sie braucht nicht lange zu suchen, um die Öffnung in der Decke zu sehen und die Leiter, die von dort aus hinunter zum Fußboden führt. Und schon kommen die wuchtigen Stiefel hinunter, Sprosse für Sprosse, dann die graue Jogginghose – wie ein zweitklassiger Astronautendarsteller. Und dann weiß sie, wer er ist. Der Bursche aus dem Schaukelstuhl. Die gleiche lächerliche Sonnenbrille. Auch wenn sie jetzt gar nicht mehr lächerlich wirkt. Weil er zu ihr sagt: »Hi, ich wusste nicht, ob du schon wach bist.« Er schaut sie nicht an, sondern starrt gerade hinaus, mit der gleichen kümmerlichen Körpersprache, die sie schon hundertmal im Fernsehen gesehen hat, diese Unschlüssigkeit, diese unausgesprochene Scham und Orientierungslosigkeit eines Menschen, der erst vor Kurzem erblindet ist.
»Brauchst du Hilfe?«, sagt sie, als er am Fuße der Leiter angekommen ist.
Worauf Lionel White nur ein kurzes, süffisantes Lachen entfährt. »Das soll wohl ein Witz sein«, sagt er. »Bist du nicht diejenige, die hier auf unserer Couch übernachtet?«
Das Mädchen schaut ihn im Halbdunkel an, seine fahlen, ungepflegten Haare, sieht sein Elend und seine Depression und zieht die Decke näher an sich heran. »Tut mir leid. Ich dachte nur …«
»Du dachtest, dass ich ein hilfloser Spastiker sein muss, nur weil ich blind bin.«
»Nein, überhaupt nicht. Es schienen nur die passenden Worte zu sein, die mir in dem Moment einfielen. Sorry, hab’s nicht so gemeint. Ich glaube, die Batterien für meinen Richtig- und Falschmelder müssen schon seit einiger Zeit leer sein. Frag nur mein Bein.«
Reflexartig fährt sie mit ihrer Hand an dem geschwollenen Schienbein entlang, fühlt das Fieber, fühlt das Pochen des Kreislaufs, ihr eigener kleiner Trommler, ihr eigener kleiner Krieg.
»Was ist passiert?«, fragt er.
»’ne Menge.«
»Was ist mit deinem Bein.«
»Hab’s gebrochen.«
»Wie?«
»Beim Tanzen im Ballett. Ein Pferdedoktor sagte mir, das Schienbein sei zersplittert. Muss schon ein paar Wochen her sein. Oder noch länger. Mein Gott, ich verlier den Verstand.«
»Ich glaub, ich weiß, was du meinst«, sagt der Soldat, der sich noch immer an der Leiter festhält.
»Wirklich?«
»Ja.«
»Kann einem ganz schön Angst einjagen, oder?«
Er denkt einen Moment darüber nach, während seine Gesichtsmuskeln mahlen wie ein Motor. Zwei verlorene Seelen warten auf eine Antwort, hier in der ehemaligen Eis-Diele, die inzwischen zum durchgedrehten Trödellager/Eigenheim mutiert ist, umgeben von ausgestoßenen, toten Gegenständen, von Kleidern, die niemand mehr tragen mag, von Gemälden, die niemand an die Wand hängen will, von Erinnerungen, die besser in Kisten verstaut bleiben sollten.
»Ja«, sagt er schließlich. »Irgendwie kann’s einem Angst einjagen.« Manchmal sind meine Träume so greifbar, so übel, dass ich mir in die Hose scheiße, möchte er sagen. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt noch am Leben bin. Bis zur Schädeldecke bin ich mit Pillen vollgestopft. Es ist dunkel, und ich vermisse alles, was ich nicht sehen kann. Es klingt sicher bescheuert, aber ich vermisse den Himmel. Und die Autos, die auf der Straße vorbeifahren. Und das Gesicht meiner Mutter, möchte er sagen, kann’s aber nicht.
»Ich habe oft an ihn gedacht«, sagt Gloria.
»An wen?«
»Den Vet, der mir geholfen hat.«
»Ein Kriegsveteran?«
»Nein, ein Veterinär. Am Ende des Tages sind wir wohl alle Tiere.«
»Was für eins bist du?«
»Tier?«
»Ja.«
»Weiß nicht. Ich denke, irgendein Vogel. Ein Schwan vielleicht.« Sie lacht. »Und wie sieht’s mit dir aus?«
»Ein Wolf«, sagt der Soldat.
»Wirklich?«
»Ich weiß nicht. Jedenfalls hab ich mir das gewünscht, als ich ein Kind war«, sagt er. »Was hat denn der Arzt mit dir angestellt?«
»Er hat mir das Bein geschient und gesagt, ich solle eine Weile bei ihm bleiben und mich erholen, aber ich hab nicht auf ihn gehört.«
»War er ein Perversling?«
»Nein, er war ein netter Mann, aber ich musste einfach weiter.«
»Warum?«
Sie antwortet nicht. In ihrem pochenden Schädel läuft ein wirrer Zusammenschnitt all der Szenen ab, die sie auf der abstrusen Pilgerfahrt durch ihre Heimat erlebt hat. Ein Land auf der Kippe. Tankstellen. China-Restaurants mit »All You Can Eat«-Büffets. LKW-Ladungen voller Wanderarbeiter. Eine verlassene Farbenfabrik. Zuggleise auf der Straße. Ein sterbender, schöner Bär. Ineinander verkeilte Trailer auf dem Highway. Sonnenuntergänge, die einem die Tränen in die Augen treiben. Zehntausende kleiner, dunkler Vögel, die im Flug ihre Formation verändern wie auf einer Zaubertafel – angetrieben von der gleichen verspielten Kraft, die das Leben erschaffen hat und auch wieder beendet. Telefonmasten, die wie Bäume verkleidet sind. Truckstops. Rodeos. Maisfelder, so weit das Auge reicht. Kühe, so weit das Auge reicht. Ein sonnengegerbter Tramp mit Hund. Sonnenaufgänge, die dir den Glauben zurückgeben. Regen. Scheinwerfer im Regen. Wohnwagenhalden. Ein pornografisches Bild auf einer Klowand. Ein Kreuz bis in den Himmel. Ein riesiges Gefängnis auf einem Hügel. Autowaschanlagen. Baseballfelder. Eine Million fahler Windmühlen, die sich im Dunkeln drehen.
»Ich hatte das Gefühl, jemand sei hinter mir her.«
»Wer?«
»Mein Freund.«
»Glaubst du, dass er dich aufspüren wird?«
»Weiß nicht. Mein Kopf ist einfach so abgefuckt. Irgendwie dachte ich, ich wäre in Sicherheit, wenn ich den Mystery Spot finden würde.«
»Er ist nicht mehr da.«
»Ich weiß. Bin lange gefahren, um das rauszufinden.«
Sie atmen beide und lauschen. Draußen auf der Straße hat der Verkehr zugenommen, es ist Samstag: Autos, die den Berg rauffahren, Autos, die wieder runterkommen. Kaum wahrnehmbar Debbies Stimme, die an ihrer alten Registrierkasse steht und mit einem Kunden über ein unfassbar wertloses Nichts feilscht.
»Kann ich mich zu dir setzen?«, fragt Lionel plötzlich und klingt dabei wie ein Kind.
»Wenn du möchtest.«
»Okay.«
Und wie ein kleines Ruderboot stößt er sich von der Leiter ab und tastet seinen Weg durchs Dairy Queen, hin zu ihrer Stimme. Mit pochendem Kopf und noch immer verschlafenen Augen sieht sie ihm zu. Er ist schon fast am Sofa, als er über eine Puppe stolpert und ins Straucheln gerät. Gloria schreit auf, streckt die Arme aus und erwischt ihn gerade noch unter seinen Achseln, bevor er auf die staubige Lehne des Sofas kracht.
»Alles in Ordnung?«
»Ich bin okay«, sagt er und schämt sich nicht so, wie sie es befürchtet hatte. Sie hilft ihm auf das durchgesessene Kissen neben ihr.
»Mama hat so viel Mist hier rumliegen«, sagt er mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen.
»Kann man wohl sagen. Obwohl einiges wirklich cool ist.«
»Würdest du wohl kaum denken, wenn du mit dem Krempel groß geworden wärest.«
»Bist du hier aufgewachsen?«
»Ja. Nein. In einem Trailer in der Nähe. Aber sie hatte immer ihren Flohmarkt. Unser Fleisch und Brot, wie sie es nennt. Sagt, sie würde lieber verhungern, als für ›die da oben‹ zu arbeiten. Ich hab nie verstanden, wen sie damit meinte. Erst als ich ins Trainingslager der Marines kam. Da hab ich’s schnell kapiert.«
»Hast du da deinen Namen bekommen?«
»Black Jesus?«
»Ja.«
Er nickt. »Die Marines haben mich so getauft. Als ich ein Kind war, passte ich nirgendwo so richtig rein. Insofern war’s ein gutes Gefühl, einen Spitznamen zu bekommen.«
»Hast du in Irak gekämpft?«
»Klar.«
»War’s dort, wo dir das passiert ist?«
Der Junge nickt.
»Tut mir leid.«
Nach einer Weile sagt er: »Es braucht dir nicht leidzutun. Ich will nicht, dass es anderen Leuten leidtut. Andere Jungs hat’s noch viel schlimmer erwischt. Wenn wir sie nicht dort drüben bekämpften, müssten wir sie hier zu Hause bekämpfen, in unserem eigenen Hinterhof.«
Die Tänzerin registriert, wie der letzte Satz so mechanisch aus seinem Mund kommt, als sei er ein Papagei, ein Priester bei seinem täglichen Ritual.
»Du bist ein tapferer Kerl«, sagt sie. »Und wer weiß: Vielleicht gibt es ja einen Grund, dass du es lebend nach Hause geschafft hast. Vielleicht hat das Schicksal für dich noch was in der Hinterhand.«
»Wie was?«
»Das ist die Millionen-Dollar-Frage«, sagt sie. »Das große Geheimnis. Was wird passieren? Manchmal denke ich mir, dass es der einzige Grund ist, warum wir weitermachen. Wenn wir schon jede Szene aus dem Film kennen würden – warum sollten wir dann noch sitzen bleiben, um ihn uns bis zum Ende anzuschauen?«