Gay Paris, New York

GAY PARIS, NEW YORK

Sie sind verführerisch lang, die Zigaretten, die Bea Two-Feathers raucht. Auf der elfenbeinfarbenen Packung steht »Extra Light«, darüber eine silberne, mit Juwelen besetzte Krone, die enorm Eindruck schindet, ja fast schon sexy ist – so als würde diese Billig-Marke jeder Frau, die sie in ihrer Handtasche trägt, einen Vorteil verschaffen gegenüber den anderen Sterblichen, ein stilvolleres Verhältnis zum Leben. Bea stützt einen Ellenbogen auf ihre Gehhilfe und bläst den Rauch durchs Fenster ihres Zimmers, das sich im ersten Stock des »Serenity Grove« befindet.

Es müssen die Filme gewesen sein. All diese Schönheiten in eleganter Garderobe, die auf Veranden saßen und über die Lichter von L. A., von Chicago oder London blickten. Diese kaum registrierbare Bewegung des Handgelenks, der geschminkte Mund, der den Filter nur leicht zusammendrückte, die flüchtige Spur der Glut in der Dämmerung – wie ein Stern, dem man bis ans Ende der Welt folgen wollte. Das war damals, als nichts unmöglich schien. Dreizehn war sie, als sie ihre erste Lucky Strike rauchte. Der Junge vom Ende der Straße hatte sie ihr gegeben, der Junge mit den Sommersprossen und den glühenden grünen Augen, der Junge, der keinen Vater mehr hatte und den alle für einen gefährlichen Strolch hielten. Er erzählte ihr von prähistorischen Flugechsen und japanischen Samurais und dass sein Großonkel mütterlicherseits niemand anderes als Buffalo Bill gewesen sei. Sie saßen in einem verschrotteten Truck, gleich hinter dem Bungalow, den er zusammen mit seiner Mutter bewohnte, die im Ort nur als Luder galt. Und was für ein seltsames Gefühl war es gewesen, als das Nikotin erstmals in ihrem Körper anschlug. Nachdem die Übelkeit sich gelegt hatte. Was für ein Gefühl.

»Erzähl mir mehr von diesen fliegenden Dinosauriern.«

»Sie hatten Flügel, die breiter waren, als dieser Truck lang ist. Wenn man einen hätte reiten können, hätte er dich zum Nordpol fliegen können.«

»Und was war mit dem Mann, der im Bauch des Wales lebte?«

»Er zündete eine Kerze und ritzte seine Lebensgeschichte mit einem Klappmesser in die Magenwand des Wales. Er hielt sich für 40 Tage und 40 Nächte dort auf, starb dann aber an Erstickung. Und als die Armee den Wal schließlich zum Bermudadreieck jagte und erlegte, schnitten sie ihn auf und fanden das Skelett des Mannes und all die Sachen, die er geschrieben hatte.«

»Was mach ich eigentlich mit der Zigarettenasche?«

»Man reibt sie sich auf die Jeans. Bringt Glück.«

»Aber ich trag doch ein Kleid.«

»Da wird’s wohl auch funktionieren.«

»Aber meine Eltern werden es sehen.«

»Willst du nun hören, was der Mann schrieb, oder nicht?«

»Entschuldigung. Was schrieb er denn?«

»Willst du es wirklich wissen?«

»Wirklich. Bitte erzähl’s mir.«

»Die Frau, der er die Ehe versprochen hatte, war in Wahrheit eine deutsche Spionin. Und sie machte das so gut, dass man keine Spur Deutsch raushörte, wenn sie Amerikanisch sprach. Aber weil er ein Patriot war, vergiftete er sie, obwohl er sie noch immer liebte. Und dann fuhr er zum Meer und warf ihren Körper hinein.«

»Und da hat der Wal zugeschnappt?«

»Nun sei nicht so voreilig.«

»Entschuldigung.«

»Wo war ich? Also, er warf sie gerade ins Meer …«

»Whitey?«

»Was ist?«

»Kannst du mich rauslassen? Ich glaub, mir wird gerade schlecht.«

Und in diesem Moment klopft es an ihrer Tür.

»Wer ist da?«, fragt sie, wirft ihre Zigarette aus dem Fenster und fährt mit der dünnen Hand durch die Luft, um den Rauch zu vertreiben.

»Ich bin’s, Ma.«

»Joe Boy?«

»Wer nennt dich sonst noch Ma?«

»Gib mir eine Minute. Ich bin noch nicht richtig angezogen«, lügt sie und humpelt mit ihrer Gehhilfe zur Kommode am Bett, wo sie ein »Georgia Pfirsich«-Raumspray versteckt hat. Doch auf halbem Weg hält sie inne und sagt zu sich selbst: Was für einen Unterschied macht das noch? und ruft ihrem Sohn zu: »Okay, du kannst reinkommen. Ich bin empfangsbereit.«

Ihr groß gewachsener Sohn tritt ein und sagt mit einem Lächeln: »Ich danke Ihnen, meine Königin.«

Er schaut sie an, wie sie da in der Mitte des traurigen kleinen Zimmers steht, und als sich ihre Augen treffen, entdeckt er etwas, das er noch nie gesehen hat.

»Hast du geraucht?«

»Jawohl, Kommandant«, versucht sie zu scherzen. »Sie haben mich auf frischer Tat ertappt.«

»Was ist passiert, Mama?«

Sie lässt sich Zeit mit der Antwort und humpelt zum offenen Fenster, von dem aus sie die Hartriegelbäume im Garten sehen kann, die weißen Blüten und die Blätter im Wind.

»Er klopft an meiner Tür, Joe Boy.«

Der Hilfssheriff weiß genau, wovon sie spricht, bringt es aber nicht übers Herz es auszusprechen. »Wovon redest du, Ma?«

»Ich wollte es dir nicht erzählen, bevor die Auswertung der Untersuchung reinkam und ich mir ganz sicher bin.«

»Dass du sterben wirst?«

»Nicht sofort.«

»Und wann?«

»Das weiß nur der Große Geist, nicht wir.«

»Mama, hör bitte mit dem Hokuspokus auf. Bis wann haben sie dir denn gegeben?«

»Er sagt, dass der Krebs mit ’ner Chemo ganz verschwinden könnte, ich aber zumindest fünf, sechs Jahre bekommen sollte.«

»Wann fängst du mit der Chemo an?«

»Ich werde nicht anfangen.«

»Du machst Scherze.«

»Nein, Sir. Großes Indianerehrenwort.«

»Wie kannst du darüber Witze machen?«

Das belustigte Grienen verschwindet aus ihrem Gesicht. Sie schaut ihren Jungen an, die Nachmittagssonne in ihrem Rücken, der Wind in ihrem silbernen Pferdeschwanz. »Ich weiß keinen anderen Weg, um es dir auf angenehmere Art und Weise beizubringen.«

Worauf er zu weinen beginnt.

»Oh, Joe. Bitte. Ich kann’s nicht mitansehen, wenn du traurig bist.«

Ihr Sohn bringt kein Wort heraus. Dieser stechende Schmerz im Kehlkopf, die trockene Zunge, der unerklärliche Mangel an Sauerstoff – all die Dinge, die wir selbst schon erlebt haben.

»Die Wunder der Chemotherapie – ich hab sie alle gesehen. Es ist immer das Gleiche: Man stirbt so oder so. Wenn deine Zeit gekommen ist, ist sie gekommen. Hier im Altersheim lernt man Leute kennen und freundet sich an, man sitzt in der Cafeteria, spielt Bridge oder schaut sich vielleicht einen Film im Fernsehzimmer an.« Bea hält inne, ihre Augen wandern zum Boden, feuchte Glaskugeln, mit Erinnerungen gefüllt – ein Kriegsfilm, ein Wagenrennen, ein Starlet, das barfuß am Strand tanzt –, und dann sagt sie: »An einem Tag sitzt man mit ihnen zusammen – und am nächsten Tag sind sie plötzlich weg.«

Joe hockt auf ihrem Bett und rutscht unruhig hin und her. Die Bettfedern quietschen, eine weiche Decke, der vage Geruch von Pfirsich und Tod. Plötzlich klingelt sein Handy: We will, we will rock you.

»Geh lieber ran, Joe.«

Er schüttelt den Kopf, während die Tränen seine hohen indianischen Backenkochen herunterrinnen. We will, we will rock you.

»Es könnte was Wichtiges sein.«

»Es ist meine Freundin.«

»Die vom Dairy Queen?«

Er nickt.

»Ich glaube, du solltest mit ihr sprechen«, sagt Bea.

Joe bemüht sich, sein inneres Gleichgewicht zu finden, und klappt sein Motorola auf.

»Hallo?«

»Joe?«

»Ja, ich bin’s.«

»Du klingst so anders.«

»Tut mir leid. Ich besuch gerade meine Mutter. Wir müssen wohl eine schlechte Verbindung haben.«

»Und wir haben hier einen Notfall.«

Das Wort »Notfall« lässt den Staatsdiener hochschrecken, als habe man einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht eines Volltrunkenen geschüttet.

»Was ist passiert?«

»Ich habe einen Ladendieb dingfest gemacht.«

»Machst du Scherze?«

»Ich hab jetzt keine Zeit für Erklärungen. Komm bitte, so schnell es geht, Baby.«

»Aber ich sitze hier mit meiner Mutter, und sie …«

Joe braucht den Satz nicht abzuschließen, weil Debbie schon aufgelegt hatte.

»Ich muss los, Ma. Es gibt wohl Ärger beim Dairy Queen.«

»Geh nur. Es wird dir vielleicht helfen, auf andere Gedanken zu kommen.«

»Was ich doch stark bezweifle«, sagt er und springt vom Bett auf, während die Sprungfedern laut aufstöhnen.

Er beugt sich hinunter, küsst sie zum Abschied und sagt, dass er morgen wiederkommen wird.

Als er schon an der Tür ist, ruft sie ihm nach: »Sei vorsichtig, Joe. Heute ist Vollmond.«

Wann hört sie endlich mit dem Blödsinn auf?, denkt er, aber er sagt: »Klar, Mama. Versprochen.«

Als er gegangen ist, steht die alte Frau lange am Fenster. In den Bäumen sitzen Vögel.

Auf dem Weg durch den Ort sieht Joe, wie sich neben dem Shakespeare’s Bar & Grill zwei Trunkenbolde an die Gurgel gehen. Er kennt beide seit Ewigkeiten. Sie wälzen sich auf dem Boden und wirbeln Staub auf – nichts als Stiefel und T-Shirts und zerraufte Haare. Einer von ihnen hat eine zerbrochene Flasche in der Hand.

Debbie braucht mich, denkt Joe. Außerdem werden sie wieder die dicksten Kumpel sein und sich in den Armen liegen, bevor in der Jukebox die nächste Nummer anfängt. Und wenn nicht: Sollen sie sich doch in Stücke reißen. Selbst die Luft zum Atmen ist für die beiden reine Verschwendung.

Als er zum Dairy Queen einbiegt, bemerkt er ein seltsames Moped, das neben Debbies Kombi parkt. Aus alter Gewohnheit überprüft er im Rückspiegel seine Frisur, bevor er aussteigt. Auf dem Weg zum Tatort sieht er ein Mädchen, das neben Lionels Schaukelstuhl auf dem Boden hockt, einen Helm auf dem Kopf, den Kopf zwischen beiden Knien versteckt, die Arme um ihre Knie gelegt, als wolle sie für alles gewappnet sein, falls der Himmel über ihr einstürzen sollte.

»Bist du’s, Joe?«, fragt Lionel von seinem Stuhl.

»Ich bin’s, Black Jesus«, sagt Joe und sieht nun, warum sich das Mädchen nicht bewegt: Ihre Hände sind mit Handschellen am Rücken des Stuhl befestigt.

»Wo zum Teufel steckt deine Mutter?«, fragt er.

»Ich glaub, sie ist reingegangen«, sagt Lionel mit einem bekifften Lächeln. »Du hast wohl nicht gewusst, auf was für eine durchgeknallte Lady du dich da eingelassen hast, was?«

»Es muss doch eine vernünftige Erklärung hierfür geben.«

»Natürlich. Aber nimm den Sicherheitsgurt lieber nicht ab, Geronimo. Das hier ist nur die Spitze des Eisbergs.«

»Debbie«, schreit er in Richtung des Dairy Queen, doch bevor sich der Klang ihres Namens unter den blauen Planen verflüchtigt hat, marschiert sie schon durch die Fliegentür – wie eine Diva auf der Theaterbühne.

»Na, guck mal einer an. Wenn das nicht der große Hilfssheriff persönlich ist. Ich dachte schon, du würdest nie deinen Arsch hierherbewegen. Und schau dir nur mal an, was für einen Fang ich gemacht habe«, sagt sie und deutet auf das Mädchen, das in seiner erbärmlichen Haltung wie festgefroren scheint.

»Was geht hier vor, Babe?«, sagt Joe und tut sein Bestes, um seinen wachsenden Unmut runterzuschlucken.

»Der Freak wollte uns beklauen.«

»Dafür habe ich dir aber nicht die Handschellen gegeben.«

»Ich mag’s nicht glauben«, schreit Lionel. »Muss ich mir den Scheiß wirklich anhören? Als ob ich nicht schon genug Albträume hätte.«

»Sie hat ein Paar Handschuhe gestohlen, Joe.«

»Ein Paar Handschuhe?«, sagt Joe und fühlt sich immer unwohler in seiner Haut.

»Die glitzernden Michael-Jackson-Dinger. Ein authentisches Exemplar aus der ›Thriller‹-Ära. Ich hatte sie mit achtzig Dollar ausgezeichnet!«

»Ich hab ihr gesagt, sie soll sie laufen lassen«, sagt Lionel. »Sie ist die Tänzerin – die Tänzerin, die ich sah, als sie mich in die Luft gejagt haben.«

»Darüber reden wir später, Schatz, okay?«, fährt Debbie dazwischen.

»Sie kam hier vorbei, weil sie zum Mystery Spot wollte«, sagt Lionel. »Mama erklärte ihr den Weg. Nach einer Weile kam sie zurück und sagte mir, dass sie eiskalte Hände habe. Sie sagte mir, ich solle sie fühlen, und legte mir eine Hand aufs Gesicht, und sie war wie ein Eisklumpen. Mama stand gerade unter der Dusche, also sagte ich ihr, sie solle sich ein Paar Handschuhe nehmen – egal welche.«

»Debbie?«

»Was, Joe?«

»Gib mir den Schlüssel für die Handschellen.«

»Herr im Himmel, wenn du mir nicht glaubst, dann guck dir doch selbst auf eBay an, wie viel Geld man für die Dinger bekommt.«

»Die Handschuhe gehen mir völlig am Arsch vorbei, Debbie! Du solltest dich was schämen. Meinst du etwa, ich würde mich nicht mehr dran erinnern, wie du eine Nacht im Knast verbracht hast, weil du damals bei Jamesway in Catskill einen Mixer geklaut hast? Wie nennt man das denn? Willst du vielleicht den Bock zum Gärtner machen?«

»Joe Two-Feathers! Was zum Teufel ist bloß in dich gefahren?«

»Willst du es wirklich wissen?«

»Natürlich, mein Turteltäubchen.«

»Meine Mutter liegt im Sterben. Hat Krebs in den Lungen. Ich bin hierhergekommen, weil ich annehmen musste, dass du und BJ in akuter Gefahr seid. Und jetzt gib mir den gottverdammten Schlüssel.«

Verdattert händigt sie ihm den Schlüssel aus. Joe geht zum Schaukelstuhl, wo Lionel unbewegt sitzt, kniet sich auf den Boden und nimmt der Tänzerin die Handschellen ab. Sie bewegt sich nicht. Mit dem Helm auf den Oberschenkeln, die Arme fest um die Beine geschlungen, sieht sie wie eine versteinerte Schildkröte aus, die jemand am Wegesrand gefunden hat.

»Ist sie nicht wunderschön?«, sagt Black Jesus, aber niemand antwortet, weil sie alle nicht glauben wollen, dass er überhaupt so etwas sagt. Doch dann, wie die aufgehende Sonne, hebt sie langsam ihren Kopf und starrt den blinden Soldaten an, ihre grünen Augen ein Fragezeichen, ihr Kopf vom Helm umrahmt – und ihre Gesichtszüge wirken plötzlich wie die einer Exotin, die nach einer Reise durch Wind und Schmerz und Gott-weiß-was-noch-alles den Weg an diesen seltsamen Ort gefunden hat.

»Sind Sie okay?«, fragt Joe.

»Nein«, sagt die Tänzerin und schaut ihn an – und allein dieses Wort klingt wie eine Tragödie in drei Akten.

»Sie armes Ding«, sagt Joe. »Wie heißen Sie denn?«

»Gloria«, sagt Black Jesus. »Sie heißt Gloria.«

»Also, Gloria, wir bringen Sie jetzt rein. Sie brauchen was zum Abendessen. Und eine Dusche. Sie werden die Nacht hier im Dairy Queen verbringen. Unter Freunden. Ist es nicht so, Debbie White?«