Lionel White

LIONEL WHITE

In der Lobby des Tigris Hotel klingelt das Telefon, aber der Mann vom Empfang kann nicht rangehen, weil er tot ist. Er ist genauso steif wie die Plastikblumen neben ihm – anders als der Gefreite Lionel White, der mitten auf der Treppe steht, sein schwarzes Maschinengewehr vor der Brust, den Rücken gegen die Wand.

Dieses gottverdammte Telefon.

Wie Farbe aus der Sprühdose überzieht eine beängstigende Stille das erste Stockwerk. Selbst die Staubmilben, die in einem Lichtstrahl über seinem Helm tanzen, halten für einen Moment inne und bewegen sich nicht.

Und wieder dieses furchtbare Telefon.

Schüsse, und dann bricht in Zimmer 213, sechs Stufen über ihm, das Inferno los. Als hätte er nicht schon alle Hände voll zu tun. Unseren Marine zieht es nach unten, schließlich muss ja einer den Hörer abnehmen.

Dass es seine eigene Stimme ist, die dort am anderen Ende der Leitung wartet, macht seinen Traum nicht erträglicher. Es ist nur ein weiterer Flicken in seiner Patchworkdecke, die sich jede Nacht aus Schmerz und Farben und Gestank neu zusammensetzt – hier oben in der Mansarde, die er seit seiner Rückkehr aus der Wüste bewohnt. Mit Babar, dem Elefanten, in seinem Bett.

»Hallo.«

»Hi Lionel.«

»Wer spricht dort?«

»Du weißt genau, wer hier spricht.«

»Warum musst du mich gerade jetzt anrufen? Im ersten Stock sterben die Leute wie Fliegen.«

»Ich hab Angst.«

»Angst wovor?«

»Weiß nicht.«

»Nun spuck’s schon aus, du Memme.«

»Ich kann nicht.«

»Sag es!«

»Ich hab Angst, dass dir was zustoßen könnte.«

Schweigen am anderen Ende. Schreie und Maschinengewehrsalven aus dem Chaos im ersten Stock, eine tödliche Stille in der Lobby. Der tote Mann ist noch immer tot. Sein Kopf lehnt gegen einen Schreibtisch, die Arme weit ausgebreitet. Eine kleine schwarze Fliege auf seiner braunen Hand. Heute hat die Tochter des toten Mannes ihren fünften Geburtstag. Sie wurde in der Nacht geboren, als diese Stadt eingenommen wurde. Sie wünscht sich eine DVD mit Cinderella. Mein Gott, sie würde ihr Leben geben für Cinderellas langes, blondes Haar.

»Hast du gehört, was ich sage?«

»Ja, dass du Angst hast. Gibt’s sonst noch was Neues?«

»Ich hab Angst vor dem, was kommen wird.«

»Was denn? Hast du etwa eine gottverdammte Kristallkugel?«

»Nein, aber ich kann Dinge sehen.«

»Was zum Teufel soll das wieder heißen?«

»Ich weiß, was sie mit diesem Mädchen angestellt haben.«

»Was für ein Mädchen?«

»Du weißt genau, wovon ich spreche. Du hättest dich eigentlich gar nicht an dem Ort aufhalten dürfen. Aber du hast gesehen, wie sie das Mädchen an die Wand genagelt haben, du hast sie dabei genau beobachtet.«

»Hör auf. Bitte.«

»Und wie das Benzin auf ihr glänzte. Gib zu, dass dir diese Erinnerung an die Nerven geht. Und seitdem verschließt du dich vor jedem. Vor allem vor dir selbst, also vor dir und vor mir.«

»Jetzt bist du völlig übergeschnappt.«

»Ich kann einfach nicht mitansehen, wie du den Rest deines Lebens als Pillen-schluckender Junkie in diesem Stuhl verbringst.«

»Was für einem Stuhl?«

»Dem Stuhl von Mamas Flohmarkt.«

»Wie zum Teufel konnte es überhaupt dazu kommen? Ich bin ein Marine, ich bin ein gottverdammter Marine.«

Die Stimme am anderen Ende schweigt. Die Schießerei im ersten Stock klingt inzwischen so, als würden am Unabhängigkeitstag Feuerwerkskörper in ein Ölfass geworfen. Und die Augen des Toten sind noch immer offen. Und glasig. Ein Frösteln fährt durch den Soldaten, hier, in der heißen Lobby, während sein MG auf dem Tisch liegt und er das stumme Telefon gegen sein staubiges Ohr drückt.

»Hallo«, sagt er. »Bist du noch da?«

Am anderen Ende meldet sich niemand. Stille.

»Soll das ein Witz sein? Sag gefälligst was.«

Niemand. Die kleine schwarze Fliege nun auf Lionels Arm. Die kleine schwarze Fliege auf seinem Gesicht. Und oben ballern sie immer weiter. Oben und rund um den Globus.