Gloria

GLORIA

Der Regen hat sich verzogen, und alles fühlt sich sauberer an, als sie die Fahrt wiederaufnimmt und die Landschaft an ihr vorbeirollt wie ein alter Film, den sie irgendwo in einer Schublade verlegt hat. In fünf Tagen hat sie immerhin dreieinhalb Bundesstaaten abgehakt, hat an einer Tankstelle eine Frau mit Elefantenhaut gesehen und einen ungewollten Orgasmus gehabt, ausgelöst durch das Vibrieren des Mopedsattels zwischen ihren Schenkeln. Nicht der Rede wert. Auf der Toilette einer Raststätte hat sie ein Wildlederportemonnaie gefunden und sich das Bargeld eingesteckt, um dann die leere Geldbörse an die Frau zu schicken, die auf dem Führerschein abgebildet war. Doch als sie das Päckchen gerade beschriften wollte, fiel ihr Auge noch einmal auf das Passfoto, und das Gesicht sah so mitgenommen und ausgemergelt aus, dass sie sich selbst dafür verfluchte, eine schäbige Kleptomanin zu sein. Sie steckte das Geld wieder rein, schickte das Päckchen ab und heulte noch in ihren rosafarbenen Helm, als sie bereits einige Meilen unterwegs war.

Vielleicht werde ich nie wieder tanzen können. Sie kann sich schon nicht mehr daran erinnern, wie es war, keine Schmerzen zu verspüren. Erstaunlich, wie schnell man vergisst, was früher normal war. Ist wohl die schützende Hand der Natur. Irgendwie muss es in unseren Genen stecken, dieses Vergessen. Es hilft uns, mit den Löchern klarzukommen, die bleiben, wenn man uns Liebgewonnenes wegnimmt. Ich war so nah dran. So nah dran, wirklich zu tanzen. Ballett. Allein der Klang des Wortes! Konnte es etwas Schöneres geben? Ballett. Wie ein Vogel an deinem Fenster. Nein, eher wie ein Raum mit farbigen Fensterscheiben, den man betritt, wenn das Herz voll von Musik ist. Gerade, als ich meine Augen schließen und loslegen wollte. Gerade, als ich das erwartungsfrohe Publikum vor meinem geistigen Auge sah. Gerade, als ich schon meinen Schweiß auf der Bühne riechen konnte, kommt er und zerstört alles. Ballett. Dass ich Stripperin war, hat ihm nichts ausgemacht. Zuerst dachte ich, es habe vielleicht mit dem Geld zu tun, das ich im Stripclub verdiente. Wenn ich den Job im »Cat House« aufgegeben hätte, um meinen Traum zu verwirklichen, hätte er mich halt unterstützen müssen. Aber es ging nicht ums Geld. Er hatte genug davon. Ross Klein – der Großkritiker. Dabei war nichts an ihm groß. Mein früherer Freund war ein Biker, ein harter Hund mit Mundgeruch und ohne Job, aber er war ein Knuddelbär, der keinem ein Haar krümmte und mich wahrscheinlich wirklich liebte.

Und dann kam Ross Klein mit seinem silbernen Laptop. Ross Klein mit der Yacht seines Vaters. Sein Apartment in Venice. Seine Frisur. Sein Blog. Eigentlich hatte er davon geträumt, selbst Songs zu schreiben – jedenfalls sagte er das einmal, als wir betrunken waren. Dass er vielleicht diesen einen genialen Song schreiben könne, der sein krankes Herz kitten könnte, den einen Song, der ihm seine Mutter wieder zurückbringen würde. Er brauchte dreißig Jahre, bis er zu der traurigen Erkenntnis kam, dass er dazu kein Talent hatte. Und was macht man mit dieser Einsicht? Wenn er schon keine Songs schreiben konnte, die kleine Mädchen zu Tränen rühren, dann war wohl das Nächstbeste, andere Leute in der Zeitung niederzumachen.

Als ich ihm schließlich davon erzählte, dass ich beim »City Ballet« vortanzen durfte, brannten ihm wohl die Sicherungen durch. Der Baseballschläger, mit dem er auf mich einprügelte, hatte noch immer das Preisschild. Brown Shugah, meine Freundin im »Cat House«, sagte mir mal: »Es sind die geleckten weißen Jungs, vor denen du dich in Acht nehmen musst. Man erkennt sie daran, wie sie sich selber im Spiegel anschauen. Seit ihrer Geburt hat man ihnen nur Zucker in den Arsch geblasen, und wenn’s mal nicht nach ihrem Willen läuft, rasten sie aus. Und wenn sie ausrasten, geht’s zu wie in Nightmare On Elm Street.« Hätte wohl besser auf sie hören sollen.

An einem Feldweg, kurz hinter dem Straßenschild »Effingham, Illinois«, dreht sie den Motor ab, schiebt das Moped auf den Ständer, nimmt ihren Helm und hängt ihn an die Lenkstange. Sie bahnt sich den Weg durch eine Ansammlung von Touristen, humpelt an einem Maschendrahtzaun vorbei den Weg hinunter, bis sie auf ein Maisfeld kommt, das erst am Horizont aufhört. Sie hat sich nicht die Mühe gemacht, dem Aushang am Eingang Aufmerksamkeit zu schenken: »Amerikas größtes Kruzifix« stand dort, aber nun sieht sie es mit eigenen Augen, mitten im Feld. Was für ein Ungetüm. Ganz in Weiß und im Licht der Sonne erstrahlend, wächst es wie ein Albtraum aus der stummen Erde. Wie aus dem Nichts. Wie aus der Zeit gefallen.

Die Pilger tragen pastellfarbene Kleidung und sind oft Hunderte Meilen gefahren, um den geweihten Ort zu besuchen. Doch nun lassen sie achtlos ihre Kameras baumeln und beobachten das seltsame Mädchen.

»Was macht sie da draußen bloß?«

»Sie geht in den abgesperrten Bereich.«

»Ja, aber was will sie denn dort?«

»Wie zum Teufel soll ich das wissen.«

»Sicher ein Drogenwrack, das um Vergebung bitten möchte.«

»Dann muss sie sich aber mächtig ins Zeug legen.«

»Schau mal, sie kann sich kaum auf den Füßen halten.«

»Hey«, rufen sie ihr zu. »Ist alles okay mit dir?« Aber sie dreht sich nicht um, hört sie nicht mal rufen.

»Sie geht geradewegs auf das Kreuz zu.«

»Sieht so aus, als wolle sie es berühren.«

»Ist das nicht verboten?«

Mit ihren wüsten Haaren und den abgehackten Bewegungen könnte sie eine weibliche Vogelscheuche sein, die durch Zauberei zum Leben erweckt wurde – von der großen Leere des Lebens wahllos ausgespuckt an diesem Touristenspektakel, vom Schicksal dazu verdammt, nach Liebe zu suchen, vom Leben dazu verpflichtet, eine Antwort auf die großen Fragen in den Boden zu kratzen.

»Was macht sie denn jetzt?«

»Sie dreht sich um.«

»Sie schaut direkt zu uns herüber.«

»Sieht aus, als würde sie sich zum Beten hinknien.«

»Sie tut’s tatsächlich.«

»Das ist jemand, dem der Herrgott schon ein kleines Wunder spendieren muss.«

»Ich kann’s nicht glauben. Der Tramp pisst da hin. Schnell, wo ist die Kamera? Das müssen wir fotografieren.«

»Lucy, halt dir die Augen zu.«

»Lester, geh mit dem Zoom näher ran.«

»Ich versuch’s ja, aber ich find den blöden Knopf nicht.«

»Du Versager von einem Mann. Gib mir die verdammte Kamera.«

Und so ereignete es sich, dass die Familie Van Kleek aus Vermilion Country in Illinois in den Besitz eines Schnappschusses kam, der für alle Ewigkeit auf ihrem Speicher ruhen sollte und Zeugnis davon gab, dass die abgerissene Streunerin tatsächlich diesen geheiligten Ort besuchte. Nur mit ihrem Gefühl als Kompass. Und einem gefalteten Prospekt im Rucksack. Und einem neuen Namen, den sie aus einem toten Popsong geklaut hatte. Die Jeans auf ihren Füßen. Die Hände auf den Knien. Das Kreuz über ihrem Kopf. Diesem eindeutigen Ausdruck im Gesicht. Ungeniert mitten im Feld. Breitbeinig am helllichten Tage.