Lionel White
LIONEL WHITE
Am späten Nachmittag rollt Joe, der Hilfssheriff, in seinem rot-weißen Ford auf den Parkplatz des Dairy Queen. Er pfeift einen Pink-Floyd-Song im Radio mit, überprüft im Rückspiegel seine Frisur, schiebt die pomadisierten Haare in Form, öffnet die Tür des Streifenwagens und betritt – einen Schuhkarton unterm Arm – das Labyrinth von Tischen unter den blauen Planen, an dessen Ende seine wohlbeleibte Liebesgöttin auf ihn warten wird.
Joe hat sein ganzes Leben in Gay Paris verbracht. Sein Vater war ein echter Mohikaner, der sein Geld damit verdiente, im benachbarten »Carson City Western«-Erlebnispark den wilden Indianer zu mimen. Er schoss mit Pfeil und Bogen, tanzte den Regentanz, warf seinen Tomahawk in Bäume, ritt ohne Sattel auf einer armen alten Mähre und trank sich abends, wenn die Pforten geschlossen hatten, zielstrebig in den Schlaf.
Als das Geschäft nicht mehr lief und der Park schloss, habe der alte Diabetiker – so erzählt man sich im Ort – sein Insulin im Kühlschrank seines Wohnwagens zurückgelassen, sei in die Wälder gegangen und nie wieder zurückgekehrt. Eine halbherzige Suchaktion wurde nach einer Woche eingestellt und der Mohikaner für tot erklärt. Bis zum heutigen Tag schwört Bea, Joes betagte Mutter, dass sein Vater in Form eines Falken regelmäßig an ihr Fenster im »Serenity Grove« komme, dem Altersheim, das sich ein Stück weiter die Straße hinauf befindet. Und wenn sie dort sitzt, den Shoppingkanal im Fernseher voll aufgedreht, mit einer schwarzen Feder im weißen Zopf und einer Tasse Earl Grey in den knochigen Händen, wird sie ihrem Sohn davon erzählen, dass der Falke letzte Nacht wieder gekommen sei und Neuigkeiten aus der anderen Welt gebracht habe – eine Botschaft von Tante Arleen oder eine Warnung von Soundso, dass er nächste Woche besser nicht die Nachtschicht übernehme, weil etwas Schlimmes passieren würde, und dass er nicht so langsam an dem Drogenhaus vorbeifahren solle, weil sie sich seine Nummer notiert hätten – und so weiter und so fort. Und obwohl er sie aus ganzem Herzen liebt, hat der Sheriff dem Voodoo der alten Dame nie größere Beachtung geschenkt. Wenn sie solches Zeug zum Besten gibt, mahlt er mit den Zähnen, und seine hohen, braunen Backenknochen erzählen die Geschichte seines Herzens: Mann, ich wünschte mir, ich könnte an diesen Scheiß glauben. Vielleicht wäre ich dann nicht sechsundfünfzig Jahre alt und noch immer allein.
All das hatte sich schlagartig geändert, als er an dem Morgen zu Debbies brennendem Trailer kam. Während die Spanplatten und die Vinylverkleidung laut knisterten, hatte sie ihn in die Büsche gezogen, ihm etwas zugeflüstert und ihm dann einen runtergeholt, damit er noch nicht die Feuerwehr rufe und auch die Benzindose, mit der sie den Brand gelegt hatte, in seinem Kofferraum verstecke und keiner Menschenseele etwas erzähle.
Und so ist er nun also hier. Er zieht seinen Kopf unter dem Segeltuch ein und sieht ihren blinden Sohn, der auf einem knarzenden Stuhl hin- und herschaukelt, neben sich eine Kommode, auf der grün angemalte Frösche aus Ton sitzen. Der Polizist nimmt seinen Hut ab und sagt: »Hi, Black Jesus.«
»Hallo, Joe.«
»Hab dir ein Geschenk mitgebracht, Mann.«
»Warum?«
»Weiß nicht. Dachte, es würde dich auf andere Gedanken bringen. Es ist nichts Besonderes, nur etwas, das ich als Kind hatte. Hab’s im Schrank entdeckt und dachte, es könnte dir gefallen.«
Joe geht vor dem Schaukelstuhl in die Hocke und drückt den Schuhkarton in Lionels Hände. Der greift ihn, stellt ihn auf seinen Schoß und will gerade den Deckel anheben, als er hört, wie seine Mutter die Fliegentür des Dairy Queen öffnet. Sie hat Make-up aufgelegt und trägt ein violettes Band im dunkelblonden Haar.
Ihr uniformierter Kavalier schaut sie von oben bis unten an und flötet verliebt: »Na, schau mal einer her.«
»Danke für die Blumen. Was hast du meinem Baby denn mitgebracht?«
»Ich war gerade dabei, es herauszufinden«, schnaubt Lionel, »bis ihr zwei Turteltäubchen auf Touren kamt.«
»Na, mach’s schon auf«, sagt sie.
»Ja«, sagt Joe. »Mach auf.«
Der blinde Junge nimmt den Deckel in beide Hände, hebt ihn und lässt ihn auf den Boden fallen. Er greift in den Karton und fühlt den abgenutzten Holzgriff, gleitet mit den Händen daran herunter, bis er auf Metall stößt, riecht das Metall, riecht das Alter, fühlt die kalte scharfe Klinge.
»Ein Beil?«
»Fast«, sagt Joe. »Es ist ein Tomahawk.«
»Was soll er denn damit anstellen?«, knurrt Debbie.
»Nun, ich dachte mir, ich könne ihm beibringen, wie man damit wirft.«
»Wohin werfen?«
»Gegen Bäume.«
»Wie zum Teufel soll er …?«
»Ma«, meldet sich Lionel zu Wort.
»Ja, mein Liebling?«
»Ich mag es. Danke, Joe.«
»Es ist viel zu gefährlich«, zetert sie noch immer. »Du weißt, dass er auf Schmerzmitteln ist. Und außerdem wette ich, dass wir dreißig Dollar dafür bekämen, wenn wir ein Preisschild draufpappen würden. Mindestens dreißig! Es ist eine Antiquität, vielleicht sogar …«
»Ma!«
»Ja, Schatz?«
»Es ist unverkäuflich.«
Während er das sagt, fährt ein Mietwagen, einer dieser benzinsparenden Hybriden, auf den Parkplatz, zwei gut aussehende Männer steigen aus und nähern sich den Ständen.
Joe verfolgt sie mit den Augen und sagt: »Schau dir nur mal diese zwei Homos an.«
»Von mir aus können sie auch gottverdammte Dschihadis sein«, flüstert Debbie. »Hauptsache, sie kaufen was.« Joe hält die Klappe.
»Können wir Ihnen helfen?«, zwitschert sie mit ihrer sonnigsten Stimme.
Der Größere antwortet in britischem Akzent, der in Gay Paris so verbreitet ist wie der Weiße Tiger. »Wir sahen das Schild, dass es hier einen Flohmarkt gibt.«
»In der Tat. Und ich kann den Herrschaften versichern, dass es hier etwas für jedermann gibt.«
»Ja«, flüstert Joe. »Ich glaub, ich hab ein Stück trockener Scheiße in einer der Kisten gesehen.« Lionel, die Hände auf seinem Beil, kichert vor sich hin.
»Das ist ja toll«, sagt der Größere in Lederhosen, der nach einem Globus greift und der Kugel einen Dreh gibt. »In London nennen wir das ›car boot sale‹.«
»Das ist ein Globus«, sagt Debbie.
»Nein, dies hier.« Er macht eine weit ausholende Armbewegung. »Wenn Leute ihren Krempel verkaufen.«
»Wie süß«, sagt Debbie lächelnd. »Aber wie Sie sehen, haben wir weitaus mehr als nur Boots im Angebot. Wir sagen hier gewöhnlich ›garage sale‹. Oder ›yard sale‹. Aber wir dachten, dass ›Flohmarkt‹ etwas weltläufiger klingen würde.«
»Etwas stilvoller«, murmelt Joe.
»So ist es«, sagt Black Jesus.
Die Engländer schauen auf den seltsamen Kauz im Schaukelstuhl, seine dunkle Sonnenbrille, das bekiffte Grinsen in seinem Gesicht, die Jogginghose, die offenen Militärstiefel und seinen Daumen, der über die Klinge des Beils fährt.
»Klingt sehr plausibel«, sagt der Größere und stellt den Globus wieder ab.
»Ich glaube, wir sollten uns wieder auf den Weg machen, Roger«, sagt der andere.