Gloria

GLORIA

Der Highway zeigt nach Osten. Weiter und immer weiter, bis der schwarzblaue Himmel über der Tiefebene die ersten Strahlen des Morgengrauens verspricht. In einem Feld, fünf Kilometer entfernt, steht ein Wasserturm. Von der Straße her kann das Mädchen nur die Umrisse ausmachen. Sieht wie eine Glocke aus. Für wen sie wohl läutet? Ein Stück weiter, und der Wasserturm ist klar zu erkennen. Wie viele Tränen er wohl fasst? Unter ihr rattert das Moped selbstvergessen wie ein mechanisches Pony. Die Beine tun ihr weh. Hinter der Grenze zu Arizona hatte sie ein Schmerzmittel genommen – ohne spürbaren Erfolg. Ein Sattelschlepper rauscht in einem Wirbel aus Rädern und Hitze vorbei. Unter ihrem Sturzhelm summt sie einen alten Madonna-Song. Ihre Beine schmerzen wie Hölle, und am Horizont zeigt sich ein rosafarbener Streifen.

Drei Dollar und dreiunddreißig Cents, sagt ihr die Zapfsäule. Elendig schleppt sie sich zum Eingang der Tankstelle, ihren Sturzhelm noch immer auf dem Kopf. In einer der hinteren Kühltruhen findet sie einen Schokodrink, schiebt den Sichtschutz ihres Helms nach oben, trinkt alles in einem Zug, dreht den Verschluss wieder zu und stellt die Flasche in die Truhe zurück – so leer wie ihr Herz. Keiner hat’s gesehen.

Am Tresen schnallt sie ihren Rucksack ab, holt eine Handvoll Dollarnoten heraus und legt sie neben die Kasse. Trinkgelder aus dem Stripclub. Der Mann hinterm Tresen trägt einen kleinen Hund auf dem Arm. Er ist weiß, genau wie sein Rodeohut.

»Zapfsäule drei?«, fragt er.

Das Mädchen schaut nach draußen, wo ihr Moped in der gleißenden Sonne steht. »Nehm ich mal an. Sonst ist ja niemand da.«

»Drei drei drei«, sagt er. »Klingt wie ein Glückstreffer.«

Sie zählt die Scheine ab, die eher an zerknitterte Origamifalter aus einer extraterrestrischen Cafeteria erinnern. Dann die Münzen. Der Mann streicht die Scheine glatt, schiebt die Münzen auf seine Hand, öffnet die Kasse, sortiert sie säuberlich ein, schließt die Kasse – und tut das alles so langsam und bedächtig, als wolle er dem Hund, der wie ein tönernes Totem in seiner Armbeuge hockt, jegliches Ungemach ersparen.

»Wie viel braucht die Kiste denn?«, sagt er und deutet mit dem Kinn zu den Tanksäulen.

Sie schaut zu ihrem Moped heraus, das sie für dreihundert Dollar von einem Hollywoodstatisten gekauft hat. Am Valentinstag. Sie erinnert sich noch genau an das Datum, weil der Statist die ganze Zeit von seinem Verhältnis mit der Hauptdarstellerin erzählt hatte – und überhaupt nicht mehr aufhörte, von den amourösen Plänen für den Abend und ihrem gemeinsamen Leben zu prahlen. Sie hatte unter einer Lampe auf dem Parkplatz gestanden und seinen Lügen zugehört, während der Zündschlüssel in ihrer Faust immer feuchter wurde. Mit einem Anflug von Weltschmerz hatte sie gedacht: Ist schon recht, mein liebeskrankes Täubchen, du kannst heut Abend gerne eine Sprechrolle in meinem B-Movie übernehmen, aber ich werde dein beschissenes Moped lieben – mehr lieben, als es sich irgendjemand in dieser gottlosen Stadt vorstellen kann.

»Benzin?«, sagt sie und verspürt eine plötzliche Übelkeit, die ihr durch Mark und Bein geht.

»Genau. Wie viel Meilen schaffst du es denn mit einer Füllung?«

»Komisch«, sagt sie, »hab ich mir noch nie ausgerechnet.«

»Wenn’s um Sprit geht, hört der Spaß auf, Püppchen. Mit dem Stoff wäscht sich der Teufel den Schwanz.«

Das Mädchen versucht zu lachen, so gut es geht. »Was soll das denn bedeuten?«

»Weiß ich auch nicht. Klingt halt gut.«

»Hey, vielleicht können Sie mir ja eine landschaftlich interessantere Route empfehlen?«, sagt sie. »Ich kann den Highway nicht mehr sehen.«

»Wohin soll’s denn gehen?«

»Weg von Los Angeles.«

»Kann ich gut nachfühlen«, sagt er und krault den Kopf seines Hundes. »Interessantere Route. Hmmm. Moment mal, ich glaube, ich hab da was.«

Er dreht sich um und kramt in einem Stapel vergilbter Urlaubsprospekte, die in einem Drahtgestell an der Wand hängen. Während er ihr den Rücken zudreht, klaut sie schnell ein Feuerzeug aus einer Kiste an der Kasse. »Never forget« steht darauf, dazu eine billig anmutende Abbildung der Twin Towers.

»Hier haben wir sie«, sagt der Mann und legt eine alte Straßenkarte auf die Theke. Auf der Vorderseite des Faltblattes sieht man einen Kaktuszaunkönig, das Wappentier von Arizona. »Wenn dir das nicht den Weg in die Pampa weist, fress ich ’nen Besen.«

»Aber ich hab gar kein Geld, um …«

»Nun halt mal die Luft an, Püppchen. Das kostet nichts – von einem Outlaw zum anderen.«

»Danke«, sagt sie. »Sehr nett von Ihnen.« Das Feuerzeug in ihrer Tasche ist mit einem Mal merklich schwerer. »Ich mach mich wohl besser auf den Weg.« Ihre Hand zittert.

Sie schiebt den rosafarbenen Sichtschutz wieder über den Helm, hebt eine Hand zum Gruß und humpelt zum Ausgang.

Als sie fast an der Tür ist, sagt der Mann: »Was ist denn mit deinen Beinen passiert, wenn die Frage nicht zu indiskret ist.«

Noch ein paar Schritte, und sie lehnt sich gegen die Tür, öffnet sie mit ihrem Körper und wird von einer Prise frischer Wüstenluft überrascht. Sie schiebt noch einmal den Sichtschutz hoch und atmet tief durch.

»Gestern Nacht hat der Typ, mit dem ich zusammenlebe, mit einem Alu-Schläger auf sie eingeschlagen, bis ich bewusstlos auf dem Teppich lag. Er tat’s, weil ich die Aufnahmeprüfung der ›City Ballet Company‹ bestanden habe. Sie waren von meinem Auftritt hellauf begeistert. Sie hätten mich mal sehen sollen.«

»Heilige Scheiße«, wispert der Mann.

Mit ihrem Kopf zeigt sie aufs rechte Bein. »Ich hab gehört, wie es brach – wie ein trockener Stock am Strand. Er sagte: ›Ich bring dich um.‹ Dann sagte er: ›Ich liebe dich.‹ Dann lachte er wie eine Hyäne und zog seine Hosen runter. Als ich wach wurde, war er eingeschlafen, und ich machte mich aus dem Staub. Hab ein paar Sachen in den Rucksack gestopft und bin die Nacht durchgefahren. Haben Sie schon mal ’ne Million bleicher Windmühlen gesehen, die sich in der Dunkelheit drehen?«

Der Mann schließt für einen Moment die Augen – als könne er so sehen, wie sie sich drehen. Aber alles, was er sieht, ist ein tiefes, schwarzes Loch – und eine Verzweiflung, der er heute nicht zu begegnen glaubte. »Pass auf dich auf«, ruft er ihr durch den leeren Laden nach, aber sie ist schon draußen in der Sonne und humpelt zu den Tanksäulen. Ein Trucker, der gerade Diesel getankt hat, kommt ihr entgegen, schaut sie von oben bis unten an und zwinkert ihr zu.

»Menschen«, sagt der Mann zu seinem kleinen weißen Hund. »Wann zum Teufel werden sie endlich dazulernen?«

Ein Himmel voller Rot. Staub auf der schmalen Landstraße, auf die sie vom Highway 180 eingebogen ist. Sie fährt 25 Meilen pro Stunde und klebt auf dem weißen Seitenstreifen. Schilder mit Zeichen wie »Petrified Forest National Park« kommen und gehen. Ein Souvenir-Shop. Ein brutal blauer Himmel. Die kalte Wüstennacht rückt mit jeder Meile näher und verbeißt sich in Finger und Nacken. Erinnerungen. Gas geben. Stimmen in ihrem Helm. Der Geruch von verbrannten Bremsbelägen. Ein Himmel wie ein verkohlter Saphir.

Durch ihren rosafarbenen Sichtschutz sieht sie ein zusammengekauertes Etwas vor sich auf der Straße – vielleicht von einem Wagen oder Truck angefahren. Das Mädchen drosselt die Geschwindigkeit, kommt zum Halt, setzt die Füße auf den Boden und schaut auf den Körper. Es ist ein Bär. Ein kleiner. Ein junger. Und er lebt noch.

Der Ausreißerin fröstelt. Sie schaut auf die endlose Straße zurück, auf der sie gekommen ist. Niemand zu sehen. Sie dreht sich wieder zu dem Häufchen Elend zu ihren Füßen, das in seinen eigenen Eingeweiden auf der Seite liegt. Es hat die Arme über der Brust verschränkt und die Knie an den Körper gezogen. Irgendetwas an seiner Haltung berührt das Mädchen so tief, dass es zu weinen beginnt.

»Du armes Ding«, sagt sie und drückt ihren Sichtschutz nach oben. Tränen rinnen heiß über ihr Gesicht. Die Brust des Tieres hebt und senkt sich langsam. Seine wunderschönen Augen glänzen im Licht des Scheinwerfers – sie ist sich nicht ganz sicher, glaubt aber, dass es ihren Blick erwidert.

Der braune Pelz ist mit Blut durchtränkt, als sie den Bären auf den Schotter des Straßenrands zieht. Ein glühender Schmerz steigt von ihrem Bein hinauf ins Hirn. In der Dunkelheit sitzt sie neben dem Tier und streichelt über seinen Schädel, der so gebrochen und deformiert ist wie ihr eigenes Bein.

»Es ist alles in Ordnung«, sagt sie. »Du darfst jetzt gehen.« Das Tier blinzelt und zittert. »Du darfst jetzt ruhig gehen. Es muss einen besseren Ort geben als diesen.«