33

Er musste etwa fünfzehn Minuten warten, bis Angela vom Tattlers mit ihrem Kunden fertig war. Decker ging nach draußen an die frische Luft, um den Kopf klar zu bekommen. Der prasselnde Regen war inzwischen in einen gleichmäßigen Dauerregen übergegangen. Er zog sich den Schal fester um den Hals und vergrub die Hände in den Taschen. Plötzlich spürte er den kalten Stahl an den Fingern; er hatte den Revolver ganz vergessen. Er nahm ihn aus der Tasche und öffnete die Trommel. Vier Kugeln. Er ließ die Trommel wieder zuschnappen und legte den Sicherungshebel um.

Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für eine Zigarette und einen Scotch gewesen. Ihm war kalt, er hatte Durst, und er hätte einen Energieschub vertragen können. Er war sicher, dass es diese Dinge auch hier gab.

In diesem heruntergekommenen Puff fühlte er sich nicht so fremd, wie man hätte denken können. In Vietnam hatte er regelmäßig Bordelle besucht, aber nach seiner Rückkehr in die Staaten brauchte man für Sex nicht mehr zu bezahlen. Es waren die Sechzigerjahre, und er arbeitete in einer Universitätsstadt. Es gab reichlich freie Liebe. Aber da Cops in dieser Zeit zum militärischindustriellen Komplex - was immer das auch heißen mochte zählten und für die Flower-Power-Generation Parias waren, verschwieg er in den Bars seinen Beruf. Statt also den Mädchen zu erzählen, er sei Vietnamveteran und Polizist, behauptete er, seine Haare seien deshalb so kurz, weil er sich im Amazonasdschungel Läuse geholt hatte. Die Frauen fielen reihenweise darauf herein.

Manchmal, wenn er mit ihnen geschlafen hatte und besonders gemein sein wollte - und damals wollte er das häufig - verriet er ihnen, wer er wirklich war. Statt sich davon aber abgestoßen zu f ühlen, fanden die Frauen seinen Beruf so erregend, als hätten sie eine Affäre mit dem Feind. Bei Jan war es auch so gewesen. Er hatte sie bei einer Antikriegsdemonstration festgenommen. Zwei Abende später trieben sie es wie die Karnickel. Drei Monate später waren sie verheiratet. Weitere sechs Monate später wurde Cindy geboren.

Dann kam die Zeit nach der Scheidung - fünf Jahre Singledasein vor seiner ersten Begegnung mit Rina. Die ersten zwei Jahre waren toll - viel Sex ohne emotionale Bindungen -, die letzten drei schrecklich - viel Sex ohne emotionale Bindungen. Irgendwann wurde ihm klar, dass das Leben nicht nur aus endlosen Affären und einem Vierzehnstundentag bestand.

Dem Himmel sei Dank für Rina.

Auf einmal vermisste er sie schrecklich, sie, Hannah Rosie und sein tägliches Leben in L. A. Er wollte nach Hause. Aber er war hier draußen, fror sich die Eier ab und versuchte einer Familie zu helfen, die sein Engagement gar nicht wollte. Doch es war zu spät für einen Rückzieher. Plötzlich fiel ihm Jonathan wieder ein. Seit einer Stunde hatte er sich nicht mehr gemeldet. Er schaltete das Mobiltelefon ein, bekam aber keine Verbindung. Er schlotterte vor Kälte und ging ins Haus.

Jen blickte auf und sah dann auf die Uhr. »Kann nicht mehr lange dauern, Lieutenant.«

»Darf ich mal das Telefon benutzen?«

Sie schob es ihm zu, wobei sie sich über den Schreibtisch beugte und ihm vollen Einblick in ihren Ausschnitt gewährte. Vielleicht hatte Donatti gesagt, sie solle es noch einmal versuchen.

Decker wandte den Blick ab. »Danke.« Er rief Jonathans Handy an. Die Verbindung kam zustande, aber es rauschte stark. »Jon! kannst du mich hören?«

»Wo bist du, verdammt noch mal?«

Trotz des Rauschens hörte Decker, dass sein Bruder schrie. »Ist alles in Ordnung?«

»Ob alles in Ordnung ist? Nichts ist in Ordnung! Ich versuch seit einer halben Stunde, dich zu erreichen! Ich fahr hier durch den Wald und weiß nicht, wohin...«

»Wieso? Was ist los?«

»Akiva! Wo bist du?«, fragte er scharf.

Decker wandte sich an Jen. »Kannst du meinem Bruder den Weg beschreiben?«

»Wir sind in der Nähe der Landstraße zwischen Quinton und Bainberry.«

»Das weiß ich. Wo muss er abbiegen?«

»Ich glaube, die Straße hat keinen Namen.«

»Gibt es irgendwelche Orientierungspunkte?«

Sie zuckte hilflos die Achseln.

Er war verärgert. »Woher weißt du, wie du herkommst?« »Ich weiß es halt.«

Sein Ärger verwandelte sich in Frustration. »Jon, wo bist du?«

»Etwa anderthalb Kilometer vor dem Einkaufszentrum von Bainberry.«

»Du bist zu weit.«

»Zu weit von wo?«

»Von der Zufahrtsstraße.«

»Welche Zufahrtsstraße? Ich habe keine gesehen.« Die Spannung war durchs Telefon zu spüren. »Wir haben einen Notfall, Akiva. Ich muss dichjetzt finden!«

Deckers Puls beschleunigte sich. »Was für ein Notfall?«

»Chaim ist verschwunden.« Es knisterte. »Gleich bricht es ab!« schrie Jonathan. »Es regnet, ich sehe fast nichts, und es wird dunkel. Gib mir einen Hinweis!«

»Warte mal.« Er legte die Hand auf den Hörer. »Jen, kann mich jemand zur Landstraße fahren?«

»Jetzt nicht. Alle haben zu tun.«

»Was ist mit Angela? Du hast gesagt, sie ist in ein paar Minuten fertig.«

»Sie hat kein Auto. Sie wird abgeholt.«

»Und du?«

»Ich hab auch kein Auto. Ich werd auch meistens abgeholt.«

Sie war keine große Hilfe. Decker fragte sich, ob sie das mit Absicht tat. »Jon, ich laufe zur Landstraße. Ich bin näher an Quinton als an Bainberry, aber ich weiß nicht, wie viel näher.«

»Sie können dort nicht hinlaufen!«, unterbrach ihn Jen.

Decker ignorierte sie. »Ich werde wohl so zwanzig Minuten brauchen.«

»Sie können nicht im Dunkeln hinlaufen!«, wiederholte Jen. »Eine falsche Biegung, und Sie verlaufen sich.« »Es ist noch nicht ganz dunkel.« »Ich halt die Augen offen«, sagte Jonathan. »Bis gleich.« Decker legte auf.

»Sie können nicht im Dunkeln gehen. Sie werden sich verlaufen«, beharrte Jen. »Ich hab keine Wahl.«

»Und was ist mit Angela? Wollen Sie nicht mit ihr reden?«

»Die muss warten.«

»Sie werden sich verlaufen.«

»Du wiederholst dich.« Er ging zur Tür.

»Warten Sie!« Sie öffnete eine Schublade und zog eine Taschenlampe mit einem starken weißen Licht an der einen und einem roten Blinklicht an der anderen Seite heraus. »Nehmen Sie die. Vielleicht hilft es ja was.«

»Danke.«

Sie biss sich auf die Unterlippe und nickte. Diese Wendung der Dinge gefiel ihr nicht. Vielleicht war sie gern in seiner Gesellschaft... bei dieser Vorstellung musste er lächeln. »Mach's gut, Jen. Viel Glück.«

»Ihnen auch. Sie können's brauchen.«

Er lachte, nahm sich ihre Worte aber zu Herzen. Dann trat er hinaus in die Dämmerung und schlug den steilen Weg Richtung Landstraße ein.

Mit jedem Schritt wurde es dunkler, aber Decker ließ die Taschenlampe ausgeschaltet, damit seine Augen sich an das dämmrige Licht gewöhnten. Keine Orientierungspunkte, nur endloser Wald. Vor Jahren hatte er einen Stephen-King-Roman gelesen, in dem sich ein kleines Mädchen im Wald verirrte. Sie hatte wenigstens das Glück gehabt, im Sommer vom Weg abzukommen.

Was soll's, dachte er, folg einfach dem Weg. Dieser verwandelte sich rasch in einen Schlammstrom. Er musste am Rand entlanggehen, wo seine Füße auf Äste und Zweige traten und auf dem weichen Waldboden ausrutschten. Als das Gefälle stärker wurde, verlor er den Halt und fiel hin, aber wenigstens nicht auf die Pistole.

»Mist!« Er versuchte aufzustehen, aber seine Schuhsohlen glitten unter ihm weg. »Verdammt noch mal.« Es wurde dunkler.

»Mein Gott!« Er hielt sich an einem nassen Baumstamm fest und zog sich hoch.

Nach gründlichem Abwägen seiner Möglichkeiten beschloss Decker, die Hände zu Hilfe zu nehmen. Er faltete den Schirm zusammen und steckte ihn in die Gesäßtasche. Regen lief ihm über das Gesicht. Er hielt die Taschenlampe in der linken Hand und spielte Tarzan, indem er sich, Halt suchend, von Ast zu Ast h angelte. Er setzte seine Schritte langsam und mit Bedacht, damit er nicht ausrutschte. Mehrmals schlug er sich die Taschenlampe an den Kopf. Er fluchte lautstark.

Es wurde ganz dunkel. Das Licht der Taschenlampe strahlte nur ein endloses Dickicht kahler Äste an.

Es gab keine andere Orientierung als den Weg. Wenn er nicht durch den Matsch watete, würde er sich verirren. Vorsichtig hielt er sich an einem Ast fest und ließ versuchsweise den Fuß über den Boden gleiten - glatt wie ein Ölteppich. Um das Gleichgewicht zu halten, brauchte er eine große Oberfläche und Bodenhaftung.

Es ging nur auf dem Hintern, mit den Beinen voraus. Er öffnete den Schirm und setzte sich langsam darauf. Dann stieß er sich ab, wobei er den Griff als Ruder und die Beine als Bremse benutzte.

Decker war nie ein toller Schlittenfahrer gewesen, aber er besaß einen guten Gleichgewichtssinn. Er konzentrierte sich darauf, nicht vom Weg abzukommen oder sich zu verletzen.

Er brauchte etwa eine halbe Stunde, bis er die Landstraße erreichte. Der Schirm war im Eimer, aber die Taschenlampe funktionierte noch. Als er die Lichter eines entgegenkommenden Wagens sah, schwenkte er sie wie wild. Der Wagen hielt an. Es war ein Laster.

Der Fahrer, ein Mann mit einem Gartenzwergbart, kurbelte das Fenster herunter. »Springen Sie rein.«

»Danke«, sagte Decker. »Ich warte auf jemanden.«

»Hier kommen nicht viel Autos lang, Mann.« Er musterte Decker von Kopf bis Fuß. »Sind Sie ganz sicher?«

Decker grinste. »Ja. Alles klar.« Er nickte bekräftigend. Der Fahrer schüttelte den Kopf, kurbelte das Fenster hoch und fuhr weiter.

Es schien wie eine Ewigkeit, aber nach etwa zehn Minuten n äherte sich ein Wagen von der anderen Seite. Es musste Jonathan sein, weil die Lichter nur über den Asphalt krochen. Decker winkte mit dem roten Blinklicht. Der Van bremste, wendete und hielt am Straßenrand.

Decker riss die Tür auf und kletterte hinein. Die beiden Männer schauten einander an. Er lächelte. »Darf ich dich küssen?«

Jonathan starrte ihn ungläubig an.

»Hast du zufällig was zum Anziehen dabei? Oder ein Handtuch? Ein Lappen reicht auch schon.«

»Wir besorgen dir was Trockenes«, meinte Jonathan.

»Erst erzähl mir von dem Notfall. Was hast du mit >Chaim ist verschwunden< gemeint?«

Jonathan fuhr los. »Genau das.«

»Ist er abgehauen?«

»Scheint so.« Jonathan warf seinem Bruder einen Blick von der Seite zu. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Ich bin klatschnass und mein Hintern ist etwas mitgenommen, aber sonst geht's mir gut. Erzähl mir von Chaim.«

»Als ich nach Quinton kam, war er schon weg. Anscheinend hat er gleich nach dem Schacharit gesagt, er fühle sich nicht wohl und müsse sich hinlegen. Als Minda nach ihm sehen wollte, war sein Zimmer leer.«

»Hast du eine Idee?«

Jonathan fuhr Schrittgeschwindigkeit, um nicht von der Straße abzukommen. »Ich war ungefähr zwanzig Minuten bei der schiwa, da kriegten wir einen Anruf von Leon Hershfield. Ich hab ihn angenommen.«

»Und?«

»Hershfield hatte gerade mit der Flughafenpolizei vom Kennedy Airport und dem örtlichen FBI-Büro gesprochen.«

»O Gott!«

»Du weißt, was jetzt kommt.« »Er hat versucht abzuhauen.«

»Diese Typen, von denen du mir erzählt hast. Randy hat sie auch erwähnt.«

»Weiss, Harabi und Ibn Dod. Waren sie dabei?«

»Hershfield war sparsam mit den Informationen. Er hat mir jedenfalls gesagt, sie wollten alle nach Israel fliegen. Die Flughafenkontrolle hat Harabi und Ibn Dod festgehalten, weil mit ihren Pässen was nicht stimmte oder sie zu nervös waren oder nicht chassidisch genug aussahen.«

»Sie waren als Chassidim verkleidet?«

»Scheint so.« Ein tiefer Seufzer. »Du weißt, wie scharf die Kontrollen jetzt sind, besonders bei El Al. Als die Sicherheitsleute auftauchten, sind sie in verschiedene Richtungen abgehauen.«

»Nicht sehr schlau von ihnen, gemeinsam zu reisen.«

»Last-Minute-Flüge nach Israel sind schwierig zu kriegen. El Al ist immer voll, und die anderen Linien haben ihre täglichen Israel-Flüge nach den Anschlägen reduziert.«

»Ist jemand festgenommen worden?«

»Keine Ahnung - niemand hat etwas Genaues gesagt.« Jonathan klopfte aufs Lenkrad. »Die Flughafenpolizei nicht, das FBI auch nicht. Sie sind etwa zur Zeit des Anrufs zu Mindas Haus und zur Schule gekommen. Hershfield war wohl auf dem Weg zum Flughafen, um die Sache zu klären, aber. ich hab das Gefühl, sie haben Chaim nicht festgenommen.«

»Wie kommst du darauf?« »Wegen Hershfields Fragen.« »Was hat er gefragt?«

»Er wollte wissen, wo Chaim sich verstecken würde. Aber das hat er natürlich raffinierter formuliert. Und das FBI hat mich im Grunde dasselbe gefragt.«

»Was hast du ihnen geantwortet?«

»Ich hab beschlossen, nach dem Desaster mit Shayndie erst mit dir zu reden, deshalb hab ich niemandem was gesagt. Es war wie im Tollhaus. Als niemand drauf geachtet hat, bin ich weg. Jetzt sag mir. wo fahren wir hin?«

»Nicht nach Quinton«, sagte Decker.

»Da würden sie dich auch nur stundenlang festhalten.«

»Weißt du, wo Chaim sich verstecken könnte, Jon?«

»Keine Ahnung. Zuerst hab ich an eins seiner Lagerhäuser gedacht, in Manhattan oder Brooklyn. Bestimmt wimmelt es da schon von Polizei.«

»Das wäre also unsinnig.«

»Wahrscheinlich. Vielleicht sollten wir uns am Flugplatz mit Hershfield treffen.«

»Hat er gesagt, er will dich sehen?«

»Nein.«

Beide schwiegen.

»Ach, was soll's! Fahren wir halt zum Flugplatz.« »Meinst du, die verraten uns was?«

»Nein, aber wenn sie Weiss, Harabi oder Ibn Dod festgenommen haben, rufe ich meinen Bruder an. Diese Typen werden in Miami dringend gesucht. Wenn ich ihn erreiche und er ein offizielles Auslieferungsgesuch stellt, sind wir glaubwürdiger.« Decker sah auf seine nasse Hose. »Aber bevor wir etwas unternehmen, brauche ich trockene Sachen. Quinton ist jetzt voller FBI-Leute. Wie wär's mit dem Einkaufszentrum in Bainberry? Irgendein Laden wird da noch offen sein.«

Jonathan wendete den Wagen.

Kurze Zeit fuhren sie schweigend dahin. Decker lehnte sich nach vorn und spähte durch die Windschutzscheibe.

»Dein Bruder wird sich freuen, dass die Polizei diese Typen gefasst hat«, sagte Jonathan. »Falls sie sie gefasst hat.« Decker gab keine Antwort. »Akiva.« »Ja, ja.« Schweigen.

»Akiva, hast du gehört, was ich.«

»Moment.«

»Was ist denn?«

»Warte mal.« Decker blickte von der Windschutzscheibe zum Rückspiegel, dann zum Außenspiegel und wieder zur Windschutzscheibe.

»Akiva, was ist los?«

»Ich weiß nicht.« Deckers Gedanken rasten. »Bevor du gewendet hast, war ein Scheinwerfer hinter uns. Nur einer, kein Paar... das fand ich seltsam bei diesem Regen.« Ohne nachzudenken, griff er in die Tasche und zog den Revolver heraus.

»Was. wo hast du den her?«

»Das ist eine lange Geschichte, aber jetzt bin ich froh, dass ich ihn hab. Kann ich den Griff an deiner Jacke abwischen?«

»Warte, ich zieh sie aus.«

»Nein, ich brauche bloß ein Stück.« Er wischte die Pistole trocken. »Weil es weiter weg war, dachte ich, es ist ein Wagen mit einem kaputten Scheinwerfer. Und nachdem du gewendet hast, musste er uns eigentlich entgegenkommen, aber er ist verschwunden. «

Die Welt draußen war pechschwarz. Mond und Sterne lagen hinter dichten Wolken.

»Jonathan, mach die Scheinwerfer aus und fahr rechts ran.« Der Rabbi tat wie ihm geheißen.

Völlige Dunkelheit umgab sie. Decker knipste die Taschenlampe an und leuchtete durch die Windschutzscheibe. Es war nicht viel, was er sah, aber besser als gar nichts.

Jonathans Hände zitterten. »Also dann.«

Der Van kam schräg am Straßenrand zum Stehen, nur wenige Zentimeter von einem Baum entfernt.

»Wir tauschen die Plätze«, sagte Decker. Jonathan wollte die Tür öffnen, dann hielt er inne. »Du meinst, ich soll über dich rüberklettern.« »Ja, klar. Bleib unten.«

Sie krochen übereinander, um die Plätze zu wechseln. Decker hockte auf dem Boden vor dem Fahrersitz, Jonathan kauerte sich auf der anderen Seite hin.

»Was.«

»Psst.« Pause. »Hörst du das?«

»Was?«

»Hör hin!«

Schließlich hörte Jonathan es auch, das leise Grummeln eines Motors. Decker spähte über das Armaturenbrett nach draußen, sah aber nichts. Er kurbelte das Fenster auf seiner Seite halb herunter, mehr als genug für den Lauf des Revolvers. Dann schaute er wieder über das Armaturenbrett.

Das Surren wurde etwas lauter, dann war plötzlich alles still, bis auf das Geräusch des Regens.

»Ohoh, das sieht nicht gut aus.«

»Was ist... ?«

»Psst.«

Jonathans Achseln waren durchgeschwitzt.

»Okay, okay. Wo ist die Taschenlampe?« Jonathan reichte sie ihm. »Was hast du vor?« »Ich muss ihn überrumpeln.« Decker redete mit sich selbst. Er klopfte auf die Lampe. »Hoffentlich ist das Scheißding stark g enug. «

»Was meinst du, wer das ist?«

»Keine Ahnung.« Er kurbelte das Fenster ganz hoch, dann öffnete er die Türverriegelung. Erneut spähte er nach vorn. Er konnte nicht direkt etwas sehen, aber die Dunkelheit vor ihm schien sich zu bewegen. Vielleicht spielte seine Fantasie ihm einen Streich. Doch dann bewegte sich wieder etwas. »Geh ganz runter, Jonathan. Leg den Kopf zwischen die Beine und die Hände übers Genick.«

Der Rabbi gehorchte. Decker bemerkte, dass sein Bruder die Lippen bewegte - stumme Gebete. Er hoffte, dass Jon auch eines für ihn sprach. »Ich sehe was. Na los. komm schon.«

Die Gestalt - vermutlich ein Mann - näherte sich dem Wagen und ging breitbeinig wie ein Westernheld, der eine Pistole ziehen wollte. Dann bemerkte Decker, dass er auf einem kleinen Motorrad saß, vielleicht eine Honda. Er kam ihnen auf der Fahrerseite entgegen, weil der Van mit der anderen Seite nah am Wald im Matsch stand.

»Los, los.«, flüsterte Decker.

Langsam näherte er sich ihnen.

»Noch ein Stückchen.«

»O Gott!«, stöhnte Jonathan.

»Halt durch, er ist fast da.« Decker schluckte.

Die Sekunden vergingen.

Eins. zwei. drei.

Er spähte wieder hinaus. »Na los, du Mistkerl, komm schon.« Vier. fünf. sechs.

Die Honda rollte zur Stoßstange auf der Fahrerseite. Jemand schaute durch die Scheibe. zum Armaturenbrett. Decker war klar, dass der Motorradfahrer sie nicht sehen konnte.

»Weiter.«

Der Mann ging zur Fahrertür. »Noch ein Stückchen.«

Decker stieß die Tür auf und streifte den Vorderreifen des Motorrads, wodurch Mann und Maschine aus dem Gleichgewicht kamen. Dazu richtete er den Lichtstrahl auf das Gesicht des Fahrers, der eine Skimaske trug. »Hände hoch!«

Etwas zischte an Deckers Kopf vorbei.

»Mist!« Er ließ die Taschenlampe fallen und duckte sich hinter die Fahrertür. Als er zum zweiten Mal hervorkam, schoss er aus der Hüfte, aber ein Kugelhagel zwang ihn erneut zum Rückzug. Die Geschosse prallten mit ohrenbetäubendem Scheppern auf die Vorderseite des Vans.

»Scheiße!«, schrie Decker. »Verdammte Scheiße!«

Er sprang hinter der Tür hervor und schoss zurück. Zwei Kugeln rissen einen Teil vom hinteren Schutzblech des Motorrads ab, was aber den Fahrer nicht daran hinderte davonzurasen. Decker beschloss, seine letzte Kugel nicht an ein fliehendes Ziel zu verschwenden.

Er keuchte heftig, hob die Taschenlampe, die den Schusswechsel überstanden hatte, auf und setzte sich hinters Steuer. »Bist du okay, Jon?«

»Ich glaube ja.«, flüsterte der Rabbi. »Abgesehen vom Zittern geht's mir gut.«

Decker ließ den Kopf aufs Lenkrad sinken. »Ich zittere auch.« »Sonst alles okay?«

»Ich bin noch ganz, und das ist jetzt erst mal das Wichtigste.« Er hob den Kopf und ließ den Motor an.

Jonathan kroch aus der Embryohaltung auf den Sitz zurück und schnallte sich an.

Decker legte den Gang ein, fuhr langsam auf die Straße zurück und gab dann vorsichtig Gas. Der Wagen bockte und holperte ein paar Meter vorwärts. Decker bremste.

»Wir haben einen Platten. Hoffentlich nur einen. Hast du einen Ersatzreifen?«

»Ja. Ich hab noch nie einen Reifen gewechselt, du hoffentlich schon.«

»Klar.« Decker fuhr wieder an den Straßenrand, stieg aus und besah sich den Schaden - eine durchlöcherte Motorhaube und ein platter Reifen. Den Motor wollte er gar nicht erst näher in Augenschein nehmen. Im Moment war es wohl besser, nicht alles zu wissen. Jonathan war ausgestiegen und starrte seinen ramponierten Wagen an.

»Ich mach das schon«, sagte Decker zu seinem Bruder. »Hat keinen Sinn, wenn wir beide nass werden.«

»Quatsch. Ich kann wenigstens die Lampe halten, auch wenn ich immer noch zittere.«

Decker legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter. »Du hältst dich gut.«

»Danke. Was meinst du, wer das war?«

»Keine Ahnung.«

»Donatti?«

»Vielleicht.«

»Merrin?«

»Auch möglich. Ich hab mir außerdem die Pistole von einem widerlichen Typen von Taxifahrer geborgt - das heißt, sie ihm abgenommen. Vielleicht war er es ja.« Er wischte sich den Regen aus dem Gesicht. »Ich hätte sogar gesagt, es war vielleicht Chaim, aber dein Schwager ist im Moment mit anderen Dingen beschäftigt.«

Gemeinsam holten sie den Ersatzreifen und das Werkzeug. Eine Stunde später fuhren sie auf den Parkplatz des Einkaufszentrums von Bainberry. Sie entschieden sich für den ersten Laden, der Sportsachen führte und gerade in Großbuchstaben einen RÄUMUNGSVERKAUF anpries. Sie wühlten in den stark heruntergesetzten Sachen und erstanden Sweat- und T-Shirts, leichte Regenjacken, Socken, Turnschuhe und einen Schirm. Gegen sieben Uhr abends waren sie in trockenen Sachen wieder auf der Schnellstraße unterwegs, verschlangen Bagel und heißen Kaffee aus Styroporbechern. Wärme auf der Haut, Wärme im Magen.

Jonathan saß am Steuer. »Wohin?«

Decker überlegte. »Mit dem ramponierten Wagen fahren wir besser nach Quinton. Vielleicht krieg ich was aus den FBILeuten raus.«

»Also nicht zum Kennedy Airport?«, wollte Jonathan wissen. »Hershfield dürfte längst weg sein«, antwortete Decker. »Stimmt.« Jonathan klopfte aufs Lenkrad. »Wenn wir nach Quinton zurückfahren, sitzen wir stundenlang fest.« »Ich weiß.«

»Außerdem hast du gesagt, dass es vielleicht Merrin gewesen sein könnte.«

»Möglicherweise.«

»Dann ist es dort vielleicht nicht allzu sicher.« »Jonathan, wenn Chaims Haus von FBI-Leuten wimmelt, müssen wir uns keine Sorgen machen.«

Sein Bruder gab keine Antwort. »Woran denkst du, Jonathan? Du schaust so seltsam.«

»Die Liebers besitzen ein Lagerhaus, ein alter, umgebauter Stall, etwa dreißig Kilometer nördlich von Quinton. Von uns aus müssten es also etwas über zwanzig Kilometer sein. Man findet es nicht, wenn man nicht schon mal da gewesen ist.«

»Und du warst schon mal dort.«

»Raisie und ich kriegen unsere Fernseher, Videogeräte, Computer, Fotoapparate und so weiter aus den überzähligen Beständen - den Modellen vom letzten Jahr. Manchmal ist es billiger, Sachen wegzugeben als sie zurückzuschicken. Wir sind immer abends hingefahren.«

»Du hast einen Plan.«

»Na ja, ich hab einen Ort. Außerdem weiß ich, wo sich die Hintertür befindet. Wenn sich niemand dort aufhält, ist sie sicher abgeschlossen und die Alarmanlage eingeschaltet, aber wenn Chaim da sein sollte, können wir über die Sprechanlage mit ihm reden.«

»Und was sagen wir ihm?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Jonathan. »Ihn zum Aufgeben überreden.«

Decker lachte. »Einen Mann, der seinen Bruder und womöglich seine Tochter auf dem Gewissen hat.«

»Unsinn.«

»Schön, mach dir halt Illusionen. Aber eins weiß ich: Chaim hat Angst, er wird gesucht und handelt wahrscheinlich völlig irrational. Ich glaube nicht, dass er so einfach aufgibt.«

»Vielleicht können wir ihn dann davon überzeugen, dass er bei uns besser aufgehoben ist als bei der Polizei.«

Deckers Gedanken rasten. »Wir können zumindest hinfahren. Meinst du, der Wagen schafft das?«

»Du bist hier der Techniker«, sagte Jonathan, »ich nur der Rabbi.«

»Wer sagt denn, dass Rabbis keine Ahnung von Technik haben?« »Ich.«

»Also knapp über zwanzig Kilometer. Und wenn wir nichts f inden, müssen wir es auch noch bis nach Quinton zurück schaffen. Das sind sechzig Kilometer im Regen in einem Van mit durchlöcherter Motorhaube und Ersatzreifen.«

»Ich würde es versuchen«, meinte Jonathan.

»Wenigstens haben wir jetzt Regenjacken..« Decker fuhr sich mit den Fingern durch das noch nasse Haar. »Also gut, versuchen wir's.«

Sie fuhren schweigend mehrere Kilometer. »Und was machen wir, wenn er Widerstand leistet? Wenn er auf uns schießt?« »Das weißt du doch gar nicht.«

»Ich kenne Psychopathen!« Decker griff ins Handschuhfach und nahm den Revolver heraus. »Ich hab noch eine Kugel. Wenn es heißt, er oder ich, erschieße ich ihn. Kannst du das akzeptieren?«

»Besser, er wird von dir erschossen als von der Polizei. Dann weiß ich wenigstens, dass der Schuss gerechtfertigt war.«

Decker spürte, wie sich sein Kiefer anspannte. »Das ist vielleicht besser für dich, Jon, aber nicht unbedingt für mich.«