2

Ihre Maschine landete pünktlich auf dem John-F.-Kennedy-Flughafen. Decker, Rina und Hannah kamen müde und erschöpft aus der Abfertigungshalle. Decker litt nicht nur unter flugbedingtem Schlafmangel. Er war am Abend zuvor erneut zur Polizeiwache gefahren, um vor der Abreise noch den nötigen Papierkram zu erledigen. Nachdem er diverse Dienstpläne und Termine hin und her geschoben hatte, war es ihm gelungen, sich vier Tage freizuschaufeln, sodass er erst Mittwochabend zurückfliegen musste. Die dringlichste Aufgabe - die Klärung einer Reihe von Überfällen auf verschiedene kleinere Supermärkte - stellte kein allzu großes Problem dar: Zwei der Täter saßen bereits in Gewahrsam. Mike Masters und Elwin Boyd kümmerten sich um diesen Fall, während Dunn und Oliver das vereinbarte Treffen mit dem Staatsanwalt in dem Harrigan-Entführungsfall übernehmen konnten. Da sie die Untersuchung leiteten, wussten sie sowieso mehr über die Geschichte als Decker. Die Beitran-Vernehmung stand ebenfalls erst nach seiner Rückkehr an, und während Deckers Abwesenheit konnte Bert Martinez - seit drei Monaten Detective Sergeant Bert Martinez - sich um den Verhafteten kümmern.

Rina hatte die Reiseplanung übernommen. Sie, Hannah und Decker würden New York am Montagabend wieder verlassen und dann zwei Tage bei Deckers Eltern in Florida verbringen. Dieser Besuch stand schon seit langem an. Vielleicht war diese unvorhergesehene Reise ja ein Wink des Schicksals.

Jonathan erwartete sie an der Gepäckausgabe. Er war schlanker, als Decker ihn in Erinnerung hatte, und sein Bart bestand jetzt zu gleichen Teilen aus braunen und grauen Haaren. Müde, rot geränderte Augen blinzelten durch die kleine Nickelbrille. Aber seine Kleidung war tadellos: ein blauer, dezent gemusterter Anzug, weißes Hemd und eine goldgelbe Krawatte mit Fischgrätmuster. Nach ein paar herzlichen Umarmungen und Küsschen für Hannah, die quengelig war, machte Decker eine Bemerkung über die elegante Erscheinung seines Halbbruders.

»Ach, das ist nur deshalb, weil wir in einer Dreiviertelstunde eine Verabredung haben«, erwiderte Jonathan. »Du hast gesagt, ich soll mir einen guten Strafverteidiger besorgen, und das hab ich getan. Er ist übrigens auch ein frum Jude. Dieser frühe Termin war die einzige Möglichkeit, uns noch in seinen Terminkalender zu quetschen. Er ist zwar bekannt dafür, dass er für in Schwierigkeiten geratene Juden immer ein wenig Zeit hat, aber als ich mit ihm sprach, wurde mir klar, dass ihn auch der Fall selbst interessiert. Ich glaube, er ist gespannt darauf, dich kennen zu lernen.«

Decker griff sich eine große schwarze Reisetasche vom Förderband und dankte dem Himmel für Gepäckstücke mit Rädern. »Ein Koffer fehlt noch. Warum ist er so interessiert daran, mich kennen zu lernen?«

»Weil du ein Cop bist... auf der anderen Seite stehst, sozusagen.«

»Da ist unser Koffer, Peter«, verkündete Rina.

Decker nahm das zweite Gepäckstück und lud es wenige Minuten später zusammen mit den anderen Sachen in Jonathans verbeulten silberfarbenen 93 er Chrysler-Minivan. Rina bestand darauf, dass Peter vorn Platz nahm, dann machten sie sich auf den Weg zum Anwalt.

Die Luft war bitterkalt - typisches Märzwetter, wie Jonathan erklärte. Dunkle Regenwolken hingen über der Stadt, schwer und grau wie schmutzige Wäsche. Die kahlen Äste der nackten Bäume zitterten wie Spinnweben im eisigen Wind. Noch floss der Verkehr auf dem Highway ohne Probleme. In Deckers Augen sah die Umgebung erbärmlich und heruntergekommen a us - eine Mischung aus alten Fabrikgebäuden, kleinen Geschäften und schmucklosen Backstein-Mietskasernen. Die seitlichen Betonwände der Fahrbahn waren übersät mit Graffiti.

»Wo sind wir hier?«, fragte er.

»In Queens«, erwiderte Rina. »Ist das schon Astoria?«

»Nein, noch nicht.«

»Macht nichts«, meinte Decker. »Sieht sowieso alles gleich aus. Erzähl mir was über deinen orthodoxen Anwalt.«

»Er hat sich extra Zeit für uns genommen, Akiva. Zeit, die er gut anderweitig gebrauchen könnte, wenn man bedenkt, dass er Anna Broughder verteidigt.«

Anna Broughder. Die Frau, der die Zeitungen den Spitznamen Lizzie Borden II. verpasst hatten. Sie stand im Verdacht, ihre Eltern mit einem Beil ermordet zu haben, aber sie behauptete, dass es das Werk einer Bande wahnsinniger Junkies gewesen sei. Ihr selbst war es irgendwie gelungen, durch das Badezimmerfenster zu entkommen, wobei sie nur ein paar Kratzer an den Unterarmen und eine klaffende Wunde an der Hand davongetragen hatte. Insgesamt stand ein ZweihundertMillionen-Dollar-Erbe auf dem Spiel.

»Leon Hershfield«, sagte Decker.

»Genau der. War der Fall auch in L.A. in den Zeitungen?«

»Riesige Schlagzeilen.« Decker versuchte, die Müdigkeit aus seinem Hirn zu vertreiben. »Ich wusste gar nicht, dass Hershfield religiös ist.«

»Er trägt zwar bei Gericht keine kippah, aber er bezeichnet sich selbst als modernen Orthodoxen.« Jonathan schlug leicht auf das Lenkrad. »Er hat sämtliche großen Tiere verteidigt und verfügt über einflussreiche Beziehungen.«

Decker warf Rina einen Blick zu. »Einflussreiche Beziehungen, wie etwa zu Joseph Donatti.«

»Unter anderem«, erwiderte Jonathan.

»Aber Donatti war sein größter Triumph.« Der Mafioso war wegen dreifachen Mordes sowie etlichen Betrugsfällen und anderen kriminellen Handlungen angeklagt gewesen. Nachdem die dritte Jury zu keinem einheitlichen Urteil gelangt war, sah der Staat davon ab, den Fall weiter zu verfolgen: Ständig waren irgendwelche Beweisstücke abhanden gekommen. Der Name Donatti weckte immer Deckers Neugier, obwohl sich sein Interesse nicht ausschließlich auf den Senior beschränkte. »Wie lange liegt dieses Gerichtsverfahren schon zurück? Sechs Jahre?«

»Ja, ungefähr.« Jonathan umklammerte das Lenkrad. »Hershfield hat ihn rausgehauen.«

»Tatsächlich?«

»Du hast gesagt, ich soll mir den besten Anwalt besorgen, Akiva.«

»Richtig.« Decker hob eine Augenbraue. Beide schwiegen eine Weile.

»Hat Hershfield dir irgendeinen Rat gegeben?«, fragte Decker schließlich.

»Er möchte uns sprechen, bevor wir mit der Polizei reden. Mit uns meint er wahrscheinlich meinen Schwager.« »Werden wir ihn dort treffen?«

»Chaim ist nicht in der Lage, auch nur mit irgendjemandem zu sprechen. Ich hab ihm gesagt, dass ich erst mal mit Hershfield rede.«

»Chaim muss völlig verzweifelt sein.« Rina beugte sich zu ihrer Tochter hinüber und streichelte ihr übers Haar. Hannah war wieder eingeschlafen.

»Die ganze Familie ist verzweifelt«, entgegnete Jonathan.

»Wie geht es denn Shayndas Mutter?«

»Minda? Sie. wir mussten ihr ein Beruhigungsmittel geben. Normalerweise würde ich in so einem Fall die Einnahme von Medikamenten strikt ablehnen, aber sie war vollkommen hysterisch.« Zögerlich suchte er nach Worten: »Sie und Shayndie lagen schon seit etlichen Jahren im Streit miteinander.«

»Das will nichts heißen«, sagte Rina. »Alle Eltern streiten mit ihren Kindern.«

»Ihre Auseinandersetzungen waren ziemlich. heftig«, erklärte Jonathan. »Ich bin mir sicher, dass Minda glaubt, das Ganze sei ihre Schuld. Was natürlich nicht stimmt.«

Es sei denn, sie hat irgendetwas mit dem Verschwinden ihrer Tochter zu tun, dachte Decker. »Chaim und sein Vater besitzen also mehrere Elektrogeschäfte.«

»Ja.«

»Als gleichberechtigte Partner?«

»Keine Ahnung. Es geht mich ja auch nichts an.«

»Ich frag ja nur. Und finanziell ist alles im grünen Bereich?«

»Die Läden gibt es schon seit über dreißig Jahren. Ich weiß zwar, dass das letzte Jahr ziemlich hart gewesen ist - der übliche Überlebenskampf in New York samt Wirtschaftskrise -, aber von größeren finanziellen Problemen habe ich nichts gehört. Andererseits würden sie mir natürlich auch nichts sagen, wenn es Probleme gäbe.«

»Hast du je von irgendwelchen unrechtmäßigen Geschäftspraktiken gehört?«

»Nein.« Jonathan biss sich auf die Lippe. »Mir tut mein Schwiegervater so Leid. Schließlich hat er einen Sohn verloren. Alle konzentrieren sich dermaßen auf Shaynda - was ja auch richtig ist -, dass man fast den Eindruck haben könnte, sie hätten Ephraim vergessen. Jetzt muss mein Schwiegervater nicht nur mit dem Verlust seines Sohnes fertig werden, sondern auch noch um seine Enkelin bangen.«

»Wann ist Ephraims Beerdigung?«, fragte Rina.

»Wir hoffen, dass sie seine Leiche heute freigeben, damit wir die lewaje am Sonntag halten können. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass das Ganze noch länger dauert. Der Schabbes wird die reinste Hölle werden, jetzt, wo alles in der Schwebe ist. Es sei denn, man findet Shayndie heute.« Jonathan warf Decker einen kurzen Blick zu. »Das wäre doch möglich, oder?«

»Natürlich«, erwiderte Decker. Es war noch viel zu früh, um irgendwelche Prognosen abzugeben. »Und ihr habt nicht die geringste Idee, wo sie sein könnte?«

»Wir haben alles abgeklappert - sämtliche Freunde, sämtliche Schulkameraden, Lehrer, Rabbiner, Obdachlosenzentren in dem Gebiet, wo das Verbrechen passiert ist. Die Polizei in Quinton hat umfangreiche Nachforschungen angestellt und ist von Haus zu Haus gegangen.« Er stieß einen Seufzer aus. »Wenn ich mich so höre, klingt das, als wäre die Lage ziemlich. ziemlich ernst.«

»Viel Zeit ist doch noch gar nicht vergangen, Jon. Vielleicht taucht sie von selbst wieder auf.«

»Ich bete, dass es so kommt.«

»Gibt es etwas, was ich tun könnte?«, fragte Rina.

»Nein, Rina, vielen Dank« Wieder schlug er leicht gegen das Lenkrad, um seine Nervosität abzureagieren. Schweigend fuhren sie weiter, bis sich die zackige Skyline von Manhattan vor ihnen am Horizont abzeichnete.

Rina blickte aus dem Fenster.

»Ihr seid nach dem elften September nicht mehr hier gewesen?«

»Nein.«

»Ich verstehe«, sagte Jonathan. »Selbst für mich ist es immer noch ein merkwürdiges Gefühl, die beiden Türme nicht mehr zu sehen.«

Rina schüttelte den Kopf. »Ich freue mich, die Jungs wieder z u treffen.«

»Meine Mutter hat mir erzählt, dass ihr den Schabbat bei den Lazarus verbringt«, sagte Jonathan. »Wie schön, dass ihr den Kontakt zu ihnen nicht verloren habt.«

»Sie sind die Großeltern meiner Söhne«, entgegnete Decker.

»Du wärst überrascht, wie viel Engstirnigkeit ich im Lauf eines Tages begegne, Akiva. Seelsorgerische Tätigkeit ist manchmal nur eine andere Bezeichnung dafür, dass man den Schiedsrichter spielen muss.«

»Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte Decker. »Aber die Lazarus' sind sehr nette Leute. Ich glaube, dass sie jedes Mal einen Kloß im Hals haben, wenn sie mich mit Rina sehen.«

»Unsinn«, widersprach Jonathan. »Sie haben dich als einen der Ihren angenommen. Das hat zumindest meine Mutter gesagt.« Er schlug auf das Lenkrad und räusperte sich. »Ich sollte nicht so egoistisch sein. Meine Mutter ist auch deine Mutter.«

Sie verließen die Schnellstraße irgendwo im Zentrum der Stadt. Es herrschte noch wenig Verkehr, sodass sie gut vorwärts kamen. Aber Decker wusste, dass sämtliche Straßen innerhalb der nächsten Stunde völlig verstopft sein würden. Seine Wahlheimat L.A. war zumindest eine autofreundliche Stadt, während die Straßen von New York für leichte Kutschen konzipiert waren und nicht für Lieferwagen, deren Fahrer es für ihr gottgegebenes Recht hielten, überall in der zweiten Reihe zu parken - auch wenn das hieß, dass sich alle anderen zwischen ihnen hindurchzwängen mussten. Und auch die Straßenbezeichnungen hier waren eine Welt für sich. Es schien vollkommen unmöglich, eine bestimmte Adresse zu finden, wenn man nicht genau wusste, wo man anfangen musste. In Deckers Augen war jede Fahrt durch Manhattan vergleichbar mit einer riesigen Schnitzeljagd.

Er lehnte sich zurück und blickte aus dem Fenster, während er ü ber Jons Worte nachdachte: »Meine Mutter ist auch deine Mutter. «

»Irgendwie ist es schon komisch, Jon. Ich betrachte dich als meinen Halbbruder und fühle mich den anderen - deinen Brüdern und Schwestern - auch irgendwie verbunden. Aber deine Mutter. die, wie du schon sagtest, auch meine Mutter ist. zu ihr habe ich diesen Bezug noch nicht hergestellt. Und wahrscheinlich wird es mir auch nie gelingen.«

Jonathan nickte. »Das verstehe ich. Schließlich gibt es diesen kleinen Unterschied: meinen Vater.«

»Ja, vielleicht liegt es daran. Ich bin mir sicher, dass sie sich bei dem Gedanken an mich ziemlich unwohl fühlt.«

»Nein, keine Sorge. Sie weiß, dass ihr Geheimnis bei uns gut aufgehoben ist.«

»Na, dann in psychologischer Hinsicht«, lachte Decker. »Ich mag deine Mutter. Wirklich. Aber meine eigene Mutter lebt schließlich noch. Man kann von einem Mann nicht erwarten, dass er mehr als eine Mutter gleichzeitig liebt.«

»Ganz zu schweigen von mehreren Schwiegermüttern«, fügte Rina hinzu. »Meine Mutter und Mrs. Lazarus.«

Decker runzelte die Stirn. »Ja, genau. Zwei Mütter, zwei Schwiegermütter, zwei Töchter und eine Ehefrau. Ich bin umzingelt von all diesen östrogengesteuerten Wesen, und man sollte mich deshalb bedauern.«

»Das würde ich ja gern«, erwiderte Rina. »Nur im Augenblick bin ich schlecht gelaunt, weil ich unter PMS leide.«

Dabei verzog sie keine Miene. Decker wusste nicht, ob sie es ernst meinte, aber er stellte keine weiteren Fragen. Schlafende Hunde sollte man nicht wecken.