22

Keinen Deut.

So viel glaubte Decker von dem, was Donatti ihm gesagt hatte.

Als er über den Riverside Drive zu seinem Wagen zurückging, behielt Decker die Hände in den Taschen und ließ seinen Blick über den Parkway schweifen. Die Sonne hatte kleine Löcher in die Wolkendecke gerissen, und ihre Strahlen ließen den träge dahinfließenden Hudson mal da, mal dort aufleuchten. Die Straßen waren rutschig, eine Mischung aus Motoröl, Wasser und Eis. Die Autos spritzten Schlamm und Matsch auf den Gehsteig, sodass Decker immer wieder ausweichen musste. Er berührte sein geschwollenes Gesicht und ignorierte stoisch den Schmerz. Er hatte zwei Möglichkeiten vorzugehen.

Die erste bestand darin, Donatti zu beschatten und herauszufinden, was seine nächsten Schritte waren. Doch Decker verwarf die Idee gleich wieder. Der Mann war nicht dumm und erkannte einen Verfolger so schnell, wie er seine Automatik zog. Außerdem waren ihm die Straßen der Stadt vertraut, Decker jedoch nicht. Ihn zu beschatten wäre nicht nur sinnlos, sondern würde Donatti auch auf die Tatsache aufmerksam machen, dass Decker ihm nicht traute.

Eins musste man ihm lassen: Donatti hatte eine gute Show geliefert. Aber der Schock und die Wut bedeuteten gar nichts. Chris war ein pathologischer Lügner, der mehrere, von erfahrenen Fachleuten durchgeführte Lügendetektortests bestanden hatte. Er war nicht perfekt gewesen, aber gut genug, um die Experten zu verblüffen. Was für Chris sprach, war die Frage »Warum die Mühe?«. Was hätte er durch Shayndies Tod gewonnen? Es gab nichts daran zu verdienen, und außerdem h atte er jetzt Decker am Hals.

C.D. tut nichts, ohne dass etwas dabei für ihn herausspringt.

Für den Augenblick war es vorteilhaft, Donatti auf Abstand zu halten - ihn zwar nicht unberücksichtigt zu lassen, aber seine Anstrengungen in eine andere Richtung zu lenken. Deckers zweite und etwas realistischere Möglichkeit bestand darin, noch einmal von vorn anzufangen und herauszufinden, was falsch gelaufen war. Das erforderte eine weitere Durchleuchtung der Liebers. Von Chaim und Minda konnte er keine Hilfe erwarten. Sie hassten ihn völlig irrational und hatten ihn zum Sündenbock gestempelt azazel auf Hebräisch, das symbolische Schaf, das an Jom Kippur von der Klippe gestürzt wurde und für die vergangenen Sünden der Gemeinde büßte. Minda und Chaim in dieser für sie schrecklichen Zeit zur Rede zu stellen war ausgeschlossen.

Aber bei Jonathan war das etwas anderes.

Decker dachte an Jonathans Reaktion auf die Nachricht von Shayndies Tod. Die Überraschung und der Schock waren echt, daran bestand kein Zweifel, aber etwas an seiner Reaktion erschien merkwürdig, als hätte er Shayndies Tod überhaupt nicht für möglich gehalten. Es kam ihm ungewöhnlich vor, weil Jon in den fünf Tagen vor ihrem Tod so skeptisch gewesen war. Er hätte mit Mord als Möglichkeit rechnen und sich darauf vorbereiten müssen, seinen Schwiegereltern beizustehen, wenn dies passieren sollte. Jon war Geistlicher; das war sein Beruf. Aber als er die Nachricht erfuhr, schien es, als würde es Jon noch härter treffen als Chaim.

Und da war noch dieser nagende Verdacht, den Decker während seines schiwa-Besuchs kurz vor seiner Begegnung mit Minda gehabt hatte.

Chaim und Jonathan verbergen etwas.

Decker kombinierte deren geheimnistuerisches Verhalten mit dem Wissen, dass Shaynda entweder von Donatti abgehauen o der weggebracht worden war, und kam zu dem Schluss, dass das Mädchen irgendwann zwischen sechs Uhr morgens - als Donatti sie zum letzten Mal gesehen hatte - und ihrem Tod ungefähr vier Stunden später mit Jon und Chaim Kontakt aufgenommen haben musste.

Er brauchte wirklich nicht von vorn anzufangen. Er musste diese entscheidenden vier Stunden rekonstruieren - die Ereignisse dieser vier Stunden waren wahrscheinlich Nebenprodukte des Mordes an Ephraim.

Er beschloss, mit der einfachsten Aufgabe zu beginnen, nämlich die Flugtickets umzubuchen.

Es gab nicht den geringsten Grund, dass Rina und Hannah bei ihm blieben. Das bedeutete, dass er seine Frau überzeugen musste, mit seiner Tochter und ohne ihn nach Florida zu fliegen. Seine Probleme mit Donatti waren ein Spaziergang, verglichen mit dem Ärger, den Rina ihm nun machen würde. Sie schien die Gefahr einfach zu ignorieren. Aber auch wenn sie keine besondere Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit nahm, so sorgte sie sich doch um Hannah.

Als er bei seinem Auto ankam, rief er über Handy bei der Familie Lazarus an. Wie erwartet ging keiner ans Telefon. Rina hatte kein Mobiltelefon, und er wusste nicht, wo sie sich aufhielt. Vermutlich hatte sie die Neuigkeit noch nicht erfahren, sonst hätte sie ihn bereits angerufen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass sie sich meldete.

Dann rief er Jonathans Handy an. Die Stimme am anderen Ende der Leitung war eine Mischung aus Wut und Angst. »Ich kann jetzt nicht sprechen, Akiva. Du weißt, dass hier ein furchtbares Durcheinander herrscht. Und es wird immer schlimmer.«

»Gut. Ich komme raus nach Quinton. Wir treffen uns in einer Stunde.«

»Nein, tu das nicht!«

»Wo können wir uns dann.«

»Akiva, ich kann dich jetzt nicht treffen! Ich muss mich um Chaim und Minda kümmern.«

»Jonathan, hör mir zu.« Decker klang entschlossen. »Etwas ist vorgefallen heute Morgen, bevor wir die schreckliche Nachricht erfahren haben. Du weißt etwas. Oder zumindest dachtest du, du wüsstest etwas. Entweder du redest mit mir, oder ich rufe die Polizei an und du setzt dich mit ihr auseinander. Du kannst es dir aussuchen.«

Schweigen am anderen Ende.

Dann sagte Jonathan: »Du erpresst mich.«

»Das ist nicht fair. Aber ich sehe es dir nach, weil du unter Druck stehst.«

»Ich wollte nicht... Was willst du von mir?« Jetzt war es nackte Wut.

»Ich treffe dich in Quinton - im Liberty Park direkt vor dem Gemeindezentrum«, sagte Decker.

»Nicht in der Öffentlichkeit.«

Decker unterdrückte seinen eigenen Zorn. »Schämst du dich, mit mir gesehen zu werden?«

»Akiva, bitte!«

Decker entschuldigte sich, aber er gab nicht nach. »Jon, du kennst mich nicht besonders gut, deshalb will ich dir etwas sagen. Du hast mich gerufen. Jetzt bin ich in die Sache verwickelt. Ich halte mich nicht raus, nur weil du und dein Schwager mich loswerden wollt. Diese Kehrtwendung macht mich sehr neugierig.«

»Es ist nicht das, was du denkst.«

»Also treffen wir uns, und du erklärst es mir.«

Wieder Schweigen.

Dann sagte Decker: »Wo wurde sie gefunden?«

»Fort Lee Park.« »Wo ist das?« »In Jersey.«

In Deckers Kopf fing es an zu hämmern. »Wo?«

»Fort Lee. Liegt direkt hinter der George-WashingtonBrücke. fünf Minuten von der Stadt entfernt. Der Park ist eine Gedenkstätte.«

»Groß?«

»Ja.« »Belebt?«

»Am Tag schon. Es ist ein weitläufiges Gelände.«

Decker wusste nicht genau, wo er sich letzte Nacht aufgehalten hatte, aber es musste weiter als fünf Minuten von der Stadt entfernt gewesen sein - er schätzte etwa eine Stunde bis Manhattan. Möglicherweise war Folgendes geschehen: Nachdem Decker mit Shaynda gesprochen hatte, hatte Chris sie ermordet und ihre Leiche dann auf dem Weg zurück in seine Wohnung irgendwohin geschafft. Aber warum sollte Donatti sie an einem so überschaubaren Ort und so nah bei seiner Wohnung abladen? Er war ein Profi; er machte nicht gern Reklame. Aber vielleicht gehörte er zu den Typen, die es wegen des Kicks taten - dann hätte Decker allen Grund zur Sorge.

Jonathan räusperte sich am anderen Ende der Leitung. »Die Cops denken, dass sie vielleicht« - er räusperte sich erneut -, »dass sie sich dort vielleicht versteckt haben könnte. Es gibt im Park viele Möglichkeiten, sich zu verstecken, weil er so groß ist. Historisch gesehen... geht er zurück auf die Zeit der Revolution. Deshalb liegt er so dicht an der Brücke. Man hat die Brücke nach George Washington benannt, weil sie sich so nahe bei Fort Lee befindet.«

Jonathan schweifte vom Thema ab. Decker unterbrach ihn. »Ich würde gern noch mal mit der Polizei in Quinton reden. Es m acht mir deshalb nichts aus, in den Norden zu kommen. Wenn du mich nicht in der Öffentlichkeit treffen willst, dann an einem privaten Ort.«

»Wir könnten uns in der City treffen. Sie wollen, dass ich nach Jersey komme. um die Leiche zu identifizieren.« Am anderen Ende war ein deprimiertes Seufzen zu hören. »Akiva, ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«

»Soll ich mitkommen?«

»Sie brauchen einen Verwandten, der sie identifiziert.«

»Ich weiß, Jon. Ich hab das Mädchen nie gesehen.« Die Lüge ging ihm leicht über die Lippen. »Ich meine nur, ich würde dich begleiten, um dich moralisch zu unterstützen.«

»Das ist sehr großmütig von dir. Danke.«

»Schon in Ordnung, Jon. Wann willst du fahren?«

»Man erwartet mich um fünf an der. an der Leichenhalle.«

In vier Stunden also. »Dann ist noch genug Zeit, dass ich zu dir rauskomme. Wenn du mich treffen willst, gut. Wenn nicht, reden wir später. Ich mach mich auf den Weg zur Polizei. Wenn du von zu Hause losfährst, sag mir Bescheid, dann folge ich dir nach New Jersey.«

Jonathans Stimme war nur noch ein Flüstern, seine Worte tränenerstickt. »Ich glaube, ich habe einen großen Fehler gemacht.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Decker. »Ich bin sicher, dass du getan hast, was du für das Beste hieltst. Wir treffen uns in Quinton und reden darüber.«

»Ja, das ist wahrscheinlich eine gute Idee.« Jetzt richtete sich seine Wut gegen sich selbst. »Das hätte ich heute Morgen tun sollen.«

»Es wäre schön, wenn wir alles im Voraus wüssten«, beruhigte Decker ihn. »Also, sag mir, wo wir uns treffen k önnen.«

»Keine Ahnung... mein Kopf ist völlig leer.«

»Gibt es dort irgendwo ein Starbucks?«

»Nein, das wäre nicht gut. Jemand könnte uns sehen.«

»Wie wär's, wenn wir einfach im Auto bleiben?«, schlug Decker vor. »Wenn die Fenster von innen beschlagen, kann uns keiner sehen.«

»Nein, das ist.« Er räusperte sich wieder. »Das Einzige, was mir einfällt, ist ein Tattlers zwischen Quinton und Bainberry.« »Klingt gut.« Sie schwiegen. »Kennst du diese Kette?« »Nein.«

»Es sind Striplokale, ähnlich wie Hooters.« »Da willst du dich mit mir treffen?«

»Ich bin nie dort gewesen, Akiva. Es ist der einzige Ort, der mir einfällt, an dem wir wohl kaum jemandem aus der Gemeinde begegnen werden. Und wenn doch, wird er mit Sicherheit so tun, als existierten wir nicht.«

Zwischen Quinton und Bainberry lagen zehn Kilometer Wald mit vielen kahlen Bäumen und jeder Menge dichtem Unterholz. Die Grenze zwischen den beiden Gemeinden wurde durch das Einkaufszentrum von Bainberry markiert, eine Reihe miteinander verbundener Backsteinbauten inmitten eines riesigen Parkplatzgeländes. Das Tattlers stand wie ein auf Abwege geratenes Kind abseits dieses Komplexes. Jonathan erwartete ihn bereits, und beim Anblick Deckers wurden seine Augen hinter der Brille groß.

Die Hostess, auf deren Namensschild BUFFY stand, schenkte ihnen ein strahlendes Lächeln und gewährte ihnen einen tiefen Einblick in ihr üppiges Dekollete. Nach Donattis Mädchen war Decker förmlich erleichtert, eine gesunde, wenn auch spärlich bekleidete Frau jenseits der zwanzig zu sehen. Da bei den Uniformen am Stoff gespart worden war, herrschten im Inneren des »Gentlemen's Club« Temperaturen wie in einer Sauna, was die Männer dazu brachte, ihre Jacken und Krawatten abzulegen. Anscheinend wollte jemand, dass die Jungs sich wohl fühlten -wahrscheinlich sorgte das für bessere Trinkgelder.

Decker steckte der Hostess einen Zwanziger zu. »Eine ruhige Nische im Hintergrund.«

Sie wandte kurz den Blick ab - vermutlich, weil er so übel zugerichtet aussah -, schaffte aber trotzdem noch ein verschmitztes Lächeln. »Jemand Besonderes, Sir?«

Er klappte seine Geldbörse auf und zeigte ihr seine Polizeimarke. »Irgendjemand, der mir eine Kanne starken Kaffee bringt und wieder verschwindet.«

Die Frau war sofort ernst. »Ich glaube, da können wir Ihnen weiterhelfen, Detective. Hier entlang, bitte.«

Sie führte sie an der Bühne vorbei, wo drei barbusige Frauen in Stringtangas sich unter farbigen Scheinwerfern im Kreis drehten. Männer johlten und pfiffen, um die Mädchen zu immer obszöneren Bewegungen anzustacheln. Ein Schild mit der Aufschrift BERÜHREN ABSOLUT VERBOTEN! hielt sie davon ab, noch unverschämter zu werden.

Jonathan wandte seinen Blick ab, Decker betrachtete jedoch die perfekten Körper genau. Sie waren jung, schön und energiegeladen. Vermutlich verdienten sie gutes Geld, mehr Dollars, als wenn sie Platinen schweißten oder Bettpfannen im Krankenhaus wechselten. Ganz zu schweigen von der Aufmerksamkeit, die sie bekamen. Es war wie im Zirkus - nur die Kuppel fehlte.

Wie gewünscht, wies Buffy ihnen eine versteckte Nische in einer Ecke zu, abseits von der Fleischbeschau, die von dort, wo s ie saßen, eher einer Peepshow glich. »Ich hole Ihren Kaffee, Detective.« Sie war sofort wieder zurück. »Sonst noch ein Wunsch?« »Jon?«

Der Rabbi schüttelte den Kopf und versuchte, seine Augen von Buffys üppigem Busen abzuwenden.

»Einen Bagel, wenn Sie so etwas haben«, antwortete Decker.

»Wir haben einen Teller mit Bagel, Räucherlachs und Frischkäse.«

»Schön. Und ich hätte noch gerne eine Schale Eis und eine Serviette. « Buffy nickte. »Tut es weh?« »Nicht besonders.«

»Ich gebe die Bestellung auf und bring Ihnen das Eis«, sagte Buffy. »Ambrosia wird sie bedienen.«

»Danke.« Als sie gegangen war, sagte Decker: »Wo haben die bloß diese Namen her?«

Jonathan versuchte zu lächeln, aber seine Augen waren auf Deckers Verletzungen geheftet.

Decker ignorierte seinen Blick. »Als ich bei der Sitte gearbeitet habe, bin ich ständig in solche Läden gekommen. Noch schäbigere als dieser. Richtig runtergekommene. Die Mädchen waren älter, viel verbrauchter, perfektes Futter für Psychopathen, die gern schlagen und vergewaltigen. Es war sehr traurig.«

Jonathan nickte.

»Diese Mädchen hier sehen gesünder aus.« »Aber wie lange noch?«, fragte Jonathan. »Sie sind alle unter fünfundzwanzig, was meinst du?« »Ja, das könnte hinkommen.«

»Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihr gutes Aussehen dahin i st. Und dann?«

»Nun, wenn sie sich nichts in die Venen gepumpt oder durch die Nase gezogen haben, geht es ihnen vielleicht gut. Hier kann man Geld machen. Es sieht nicht so aus, als hätten sie keine anderen beruflichen Möglichkeiten mehr.«

Buffy kam mit dem Eis und einer Serviette. »Ich hab Ihnen Schmerzmittel mitgebracht.«

Decker griff in seine Tasche und holte eine Schachtel Aspirin heraus. »Danke, aber ich bin versorgt.« Er schüttete die Eiswürfel auf die Serviette und legte sie sich aufs Gesicht.

»Was ist passiert?«, fragte Jonathan schließlich.

»Irgend so ein Psychopath auf der Straße mochte mich wohl nicht.«

»Das ist ja schrecklich!« Ein Zögern. »Er hat einfach zugeschlagen?«

»Ich hätte ihm vermutlich nicht in die Augen sehen sollen. Wenigstens hat er mir keine Spritze mit tödlichen Bakterien verpasst.«

»Mein Gott, sag so was nicht! Es ist schon alles beängstigend genug.« Jonathan schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen. »Es tut mir so Leid. Hast du Schmerzen? Ich könnte dir ein Rezept für etwas Stärkeres besorgen.«

»Ich bin okay. Sieht es schlimm aus?«

»Du hast noch nicht in den Spiegel geschaut?«

»Das hab ich vermieden.«

»Die ganze rechte Seite deines Gesichts ist blaurot.«

»Ich sage den Leuten einfach, man hätte mir einen Blaubeerkuchen ins Gesicht geworfen.«

»Das ist alles so furchtbar deprimierend!« »Wir haben beide schon bessere Tage erlebt. bessere Jahre.« Decker schenkte zwei Tassen Kaffee ein. »Hat dir jemand g esagt, wie sie umgekommen ist?«

»Sie wurde erschossen.« Jonathan hatte Tränen in den Augen.

»Wo?«

Er zitterte. »Warum willst du das wissen?« »Ich möchte nur herausfinden, ob es Ähnlichkeiten mit Ephraims Mord gibt.«

»Ich würde sagen, dieselben Leute, die Ephraim umgebracht haben, haben auch Shayndie auf dem Gewissen.«

»Das ist logisch, aber man kann nicht selbstverständlich davon ausgehen.« Das Eis tat gut. »Willst du mir jetzt sagen, was du heute Morgen verschwiegen hast?«

Der Rabbi fuchtelte mit seiner Serviette herum und gab Milch und Zucker in seinen Kaffee.

»Fang einfach an zu reden, Jon. Es wird leichter, wenn die ersten Worte heraus sind.«

»Chaim rief mich gegen sieben, halb acht an. Er sagte, er müsse mit mir persönlich sprechen.«

»Bist du nach Quinton gefahren?«

»Sofort«, antwortete Jonathan. »Seine Stimme klang aufgeregt. Nachdem ich angekommen war, ging er mit mir in den Keller, wo uns keiner hörte. Ich musste schwören, niemandem was zu verraten. Deshalb konnte ich dir nichts sagen.«

»Verstehe.«

»Ich erzähle es dir auch jetzt nur deshalb, weil du gedroht hast, zur Polizei zu gehen. Nicht dass ich ihnen etwas sagen würde ich habe das Recht, mich auf die Schweigepflicht zu berufen -, aber es würde Wunden aufreißen. Ich dachte, es sei einfacher, mich mit dir als mit der Polizei auseinander zu setzen.« Er hob seine Augenbrauen. »Vielleicht aber auch nicht.«

»Ob du es mir glaubst oder nicht, ich hab nicht die Absicht, den Leuten das Leben schwer zu machen.«

»Das weiß ich.« Jonathan seufzte. »Jetzt, wo sie nicht mehr lebt, ist wohl ohnehin alles bedeutungslos.« »Sag's mir, Jonathan.«

»Chaim meinte, er habe Grund zu glauben, dass Shaynda noch am Leben sei. Er sagte, er habe von gewissen Leuten erfahren, dass sie wohlauf sei. Offensichtlich hat sich jemand geirrt. Vielleicht hat Chaim etwas falsch verstanden. Er sagte, er vertraue sich mir nur an, weil er wisse, dass ich ein Geheimnis bewahren könne. Und Verschwiegenheit wäre das Allerwichtigste. Wenn etwas herauskäme, könnten schlimme Dinge passieren.«

»Ist etwas herausgekommen?«

»Keine Ahnung, Akiva. Ich weiß, dass Chaim es mir erzählt hat, aber ich weiß nicht, wem sonst noch. Irgendwann, wenn sich alles ein wenig beruhigt hat, werde ich ihn fragen.«

»Und das ist alles, was Chaim dir gesagt hat? Dass er Grund hatte zu glauben, Shaynda sei noch am Leben?«

»Nein. Er deutete außerdem an, dass es vielleicht eine Lösegeldforderung geben könnte. Und wenn alles so lief wie geplant und jemand eine Geldübergabe für Shaynda machen müsse, ob ich dann bereit sei zu helfen.«

»Was hast du geantwortet?«

»Ich sagte, dass ich selbstverständlich helfen würde.«

»Und Chaim hat nichts über Shayndas Aufenthaltsort angedeutet?«

»Nein.«

»Ich will sichergehen, dass ich dich richtig verstehe.« Decker nahm das Eis von seinem Gesicht. »Chaim erfuhr also aus einer anonymen Quelle, dass es Shaynda gut geht.«

»Ja.«

»Und er dachte, es könne eine Lösegeldforderung geben. Und falls es dazu kommen sollte, bat er dich, den Mittelsmann zu spielen.«

»Ja.«

»Hat Chaim selbst mit Shayndie gesprochen?« »Ich glaube nicht, nein.«

»Derjenige, von dem die Informationen stammten, hätte also lügen oder sich geirrt oder Chaim ihn falsch verstanden haben können.«

»Ja.«

»War die Geldübergabe der einzige Gefallen, um den Chaim dich bat?«

»Nein.« Jonathan rieb sich wieder die Augen. »Da war noch etwas. Es schien, als seist du zu einem Hindernis, einer Belastung geworden.«

»Wieso?«

»Das ist mir nicht bekannt, Akiva. Ich weiß, dass Chaim sagte, der Kidnapper oder Lösegeldforderer - oder wer auch immer wolle, dass du von der Bildfläche verschwindest. So schnell wie möglich.«

Decker hob eine Augenbraue. »Wie von der Bildfläche verschwinden?«

»Dass du die Stadt verlassen sollst, natürlich.« Jonathan riss die Augen auf. »Das bedeutet es doch, oder?«

Ambrosia - eine kräftige Blondine, die ein Bikinioberteil und weite Shorts trug - brachte Decker einen Teller mit einem Bagel und Räucherlachs. Er gab ihr einen Zwanziger. »Noch etwas Kaffee, und das war's dann.«

»Wirklich?«

»Ja.«

Ambrosia runzelte die Stirn.

»Es ist nichts Persönliches«, sagte Decker.

»Hey, denken Sie, dass ich mich beschwere?« Sie stopfte den Zwanziger in die Tasche ihrer Shorts. »Das ist bis jetzt mein bestes Trinkgeld für die wenigste Arbeit heute. Vor einer halben Stunde gab mir ein anderer Herr einen Fünfziger. Aber ich musste mich lange nach vorn beugen und so tun, als würde ich nicht merken, dass er sich einen runterholte.« Sie sah Decker an. »Die Polizei, dein Freund und Helfer. Sie sind doch Polizist. Helfen Sie sich auch selbst?«

Schweigen.

»Ha, ha, das ist doch lustig, oder nicht?«, kicherte Ambrosia. Decker und Jonathan saßen mit versteinerter Miene da. »Wenn Sie nicht verschwinden, verlange ich den Zwanziger zurück«, drohte Decker.

»Schon kapiert.« Sie ging und kam mit einer neuen Kanne Kaffee zurück.

Decker wandte sich wieder Jonathan zu. »Irgendeine Ahnung, mit wem Chaim gesprochen haben könnte?«

»Nein. Da es Shayndie gut ging, dachte ich, es steht mir nicht zu, Fragen zu stellen.« Jonathan senkte den Blick. »Ich bin sicher, sie meinten nur, dass du die Stadt verlassen sollst.«

»Eine seltsame Art, sich auszudrücken«, sagte Decker und zuckte die Schultern. »>Von der Bildfläche verschwinden.< Klingt irgendwie endgültig, findest du nicht?«

Jonathan begann zu schwitzen. »Ich hab's nicht so verstanden.«

»Vielleicht hast du Recht.« Decker strich Frischkäse auf sein Bagel.

Ein flüchtiges Lächeln. Jonathan verbarg das Zittern seiner Hände, indem er die Kaffeetasse umklammerte.

Er tat Decker Leid. »Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wie oft ich schon bedroht worden bin. Ich nehme alle Drohungen ernst, aber bis jetzt ist alles nur Gerede gewesen.« Er legte eine Scheibe Lachs auf den unteren Teil des Bagels und dann den oberen Teil darauf. Als er hineinbiss, schmerzten Lippen und Kiefer, aber nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. »Du solltest auch etwas essen.«

»So, wie Chaim es sagte... klang es, als sei das alles, was sie wollten. Dass du die Stadt verlässt.«

»Dann hast du vielleicht Recht. Beruhige dich.«

»Chaim bat mich, dich dazu zu bringen abzureisen.«

»Mich zum Abreisen zu bringen?«

»Er hatte nicht viel Erfolg.«

»War er so ungeduldig?«

»Ja, Akiva. Warum? Ich weiß es nicht. Jedenfalls sagte ich ihm, es sei nicht nötig, da du sowieso am Nachmittag abreisen würdest. Er schien sich mit der Antwort zufrieden zu geben.«

»Hat er dich nach meiner Flugnummer gefragt?«

»Nein. Warum sollte er.« Jonathan wurde bleich. »Was denkst du? Dass sie sichergehen wollten, dass du abreist?«

»Vielleicht.« Oder vielleicht dachte Chaim daran, mich für alle Zeiten zu verabschieden. Decker behielt seine Gedanken für sich.

Jonathan wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Dieser Psychopath, der dich geschlagen hat. Sollte das eine Warnung sein?«

»Nein, das war einfach nur Pech«, versicherte ihm Decker. »Ist schon in Ordnung, Jon. Hat Chaim dich noch um einen anderen Gefallen gebeten?«

»Er sagte, ich solle dich im Auge behalten«, gab Jonathan zu.

»Du meinst, mich ausspionieren.« Decker biss noch einmal in sein Bagel. »Was hast du ihm geantwortet?«

»Das sei nicht nötig. Es ist mir ein völliges Rätsel, Akiva.

Warum sollte Chaim mich bitten, dich zu bitten, hierher zu kommen - nur um dich wieder loszuwerden?«

»Weil ich nicht das getan habe, was er von mir erwartete. Ich habe überhaupt nichts getan. Er und Minda wollten nicht, dass ich etwas unternehme. Und vielleicht ging es nur darum vorzutäuschen, dass unbedingt etwas getan werden müsse, aber in Wirklichkeit wollten sie das gar nicht.«

»Ich kann dir nicht folgen«, entgegnete Jonathan.

»Ich war sein Alibi, Jon, etwas, auf das Chaim zeigen und sagen konnte, er hätte es versucht. Aber im Grunde hat er gar nichts versucht. Doch ich behaupte nicht, dass das der Fall ist. Ich stelle nur Vermutungen an. Mehr nicht.«

»Ich wünschte, ich hätte eine Antwort. Weil es merkwürdig ist, Akiva. Selbst in seiner Trauer wollte Chaim unbedingt wissen, wohin du verschwunden bist, nachdem du die Neuigkeit erfahren hast. Er schien von dem, was du tust, besessen zu sein.«

»Was hast du ihm gesagt?«

»Dass ich es nicht wüsste. Wo bist du hingegangen, Akiva? Du warst sehr schnell weg.« »Zurück in die Stadt.« »Warum?«

»Ich dachte, dass mir Detective Novack vielleicht etwas über die Einzelheiten des Falls sagen könnte. Er war nicht da. Ich machte einen Spaziergang und wurde dabei zusammengeschlagen.«

Jonathan gab sich mit der Erklärung zufrieden.

»Es wäre hilfreich gewesen, wenn du mir das alles heute Morgen erzählt hättest, obwohl ich verstehe, warum du es nicht getan hast. Du wolltest niemanden in Gefahr bringen.«

»Ja, und ich konnte mein Versprechen nicht brechen.«

»Ich frage mich, warum dieser >Jemand< unbedingt wollte, dass ich von der Bildfläche verschwinde.«

»Ich kann nur vermuten, dass du einer Sache auf der Spur warst, auch wenn du es selbst nicht wusstest.«

»Dann muss ich herausfinden, was oder wem ich auf der Spur war.«

»Nein, Akiva - du musst jetzt nur noch abreisen. Heute Abend. Wie geplant.«

»Was macht das jetzt noch für einen Unterschied, Jon? Sie ist tot.«

»Aber du lebst noch. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, klingt >von der Bildfläche verschwinden< äußerst bedrohlich. Und ich weiß nicht, ob die Prügel nicht eine Warnung waren, auch wenn du sagst, dass es nicht so ist. Wenn dir etwas passiert, werde ich mir das nie verzeihen. Ich glaube, wir sollten das Ganze der hiesigen Polizei überlassen.«

»Du hast Recht, aber ich werde nicht aufgeben. Rina soll abreisen, aber ich bleibe bis Freitag.«

»Akiva.«

»Es ist beschlossen, Jon. Versuch nicht, mich umzustimmen. Es wird dir nicht gelingen. Willst du mir helfen oder nicht?« »Natürlich. Was kann ich tun?«

»Ich brauche dein Auto. Sobald Rina weg ist, werde ich mir eine billige Unterkunft in der Stadt suchen. Was bedeutet, dass ich Sora Lazarus' Wagen zurückgeben muss.«

»Du wirst nirgendwo in der Stadt eine billige Unterkunft finden. Du wohnst bei mir. Keine Diskussion. Ich kann auch stur sein. Und du kannst natürlich meinen Wagen haben. Aber jetzt will ich dir meine Meinung sagen: Was du tust, ist Rina gegenüber nicht fair.«

Decker legte einen weiteren Zwanziger auf den Tisch. »Lass das meine Sorge sein.« Er stand auf. »Bringen wir den Besuch in der Leichenhalle hinter uns.«

Jonathan stand ebenfalls auf. »Ja.«

»Ich werde dich begleiten.« Decker legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter. »Wir stehen das durch.«

Als sie zum Ausgang gingen, kamen sie an der Bühne vorbei. Die gleiche Show, aber andere Mädchen, die Troddeln kreisen ließen, die von ihren Brustwarzen herabhingen. Deckers Augen wanderten über die Gäste, deren Gesichter von sexueller Erregung und Alkohol gerötet waren. Mit zitternden Händen steckten sie den Tänzerinnen Zwanziger in die Tangas, feuerten sie an, machten Kussgeräusche und obszöne Gesten.

Decker entdeckte plötzlich an einem der vorderen Tische Virgil Merrin, Chef der Polizei von Quinton. Er trank und brüllte wie ein Wahnsinniger. Sein strohblondes Haar war mit Gel an seinen Kopf geklebt, und wenn er lachte, wackelte sein Bauch.

Decker blieb stehen. »Einen Augenblick, Jon.« »Was ist?«

»Bitte, warte einen Augenblick.« Decker ging zu Merrin. »Hi, Merrin, erinnern Sie sich an mich?«

Merrin drehte sich um und sah zu ihm auf. Er starrte Decker an, zeigte aber keinerlei Reaktion. Vielleicht lag es an Deckers geschwollenem und verfärbten Gesicht.

»Lieutenant Peter Decker. Los Angeles Police Department. Ich habe Ihnen ein paar Fragen über Shaynda Lieber gestellt.«

»Ah! Ja, klar, ich erinnere mich, junger Mann.« Er starrte ihn immer noch an. »Was ist mit Ihrem Gesicht passiert?«

»Man muss auf diese Baseballschläger Acht geben.« Er lächelte. »Sollte ein Witz sein.«

»Das will ich hoffen.« Ein Lächeln, hinter dem sich etwas verbarg. »Setzen Sie sich.« »Nein, danke. Ich wollte gerade gehen.«

Der Polizeichef zwinkerte ihm zu. »Ich verrate nichts, wenn Sie auch nichts verraten.«

Decker zwinkerte zurück. »Wie wär's damit? Sie können es verraten - und ich auch.«

Merrins Miene wurde eisig. Decker lächelte immer noch. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Augenblick. Dann ging Decker. Er schaute noch ein letztes Mal über seine Schulter zurück.