19

Es war bereits nach fünf, als Ephraim begraben wurde. Die Beerdigung war sehr aufwühlend gewesen, und Decker brauchte einen anständigen Scotch, bevor er sich mit Donatti traf. Außerdem wusste er noch immer nicht die genaue Adresse ihres Treffpunkts, da Donatti ihm nur einen Straßennamen gegeben hatte. Es kostete Decker über eine Stunde, nur um herauszufinden, dass sie sich in New Jersey befand.

Decker wollte als Abendessen einen kleinen Imbiss mit Rina einnehmen, doch die hatte jetzt andere Sorgen. Der Tradition entsprechend mussten sie als Nächstes zu den Liebers fahren und ihnen einen Kondolenzbesuch abstatten, um Emmanuel Lieber und seinen vier hinterbliebenen Kindern, darunter auch Deckers Schwägerin, persönlich ihr Beileid auszusprechen. Doch obwohl Decker sich gerne auch mit dem alten Mann unterhalten hätte, wollte er sich nicht an einem einzigen Abend mit Chaim und Minda Lieber und Christopher Donatti auseinander setzen. Und da er Shayndas Wohlergehen über die Tradition stellte, bat er Rina, ohne ihn zu fahren.

»Aber Jonathan erwartet dich.« Sie standen am rituellen Waschbecken vor dem Friedhofstor. Das Aschgrau des Himmels hatte sich in einen dunklen Anthrazitton verwandelt, und die Temperatur war noch weiter gefallen. Als Rina das eiskalte Wasser über ihre Hände goss, nahmen ihre Finger eine krebsrote Farbe an. Stumm sprach sie das traditionelle Gebet beim Verlassen des Friedhofs.

»Ich kann es nicht ändern.« Decker übernahm den Becher mit Wasser von ihr. »Da wir ja erst später abreisen, hab ich auch morgen noch Zeit, der Familie den schiwa-Besuch abzustatten. Kannst du Jonathan bitten, dich mitzunehmen?«

»Das ist nicht das Problem.« Rina trocknete sich die steifen Finger mit einem feuchten Papiertaschentuch ab. »Falls ich ihn finde.«

»Wir waren bei den Ersten, die gegangen sind. Und er muss doch auch hier vorbeikommen, oder?«

Rina nickte.

»Dann kannst du ihn also nicht verpassen.« Decker goss Wasser über seine Hände und murmelte die hebräischen Worte. »Sag ihm einfach, dass ich ihn morgen treffe.«

»Da drüben ist sein Wagen. Es wäre nett, wenn du es ihm selbst.«

»Herrgott noch mal!«, brummte Decker. »Also gut, ich werde es ihm sagen!«

Mit verquollenen Augen stieg Jonathan aus dem Van und ging, Arm in Arm mit seiner Frau, die von den Ereignissen der letzten Tage ebenfalls gezeichnet war, gebückt zum Wasserbecken. Auf Raisies Wangen zeichneten sich frische Tränenspuren ab, und ihre Nase war rot vor Kummer und Kälte. Decker klopfte seinem Bruder auf die Schulter. Jonathan drehte sich um und sah ihn mit einem überraschten Ausdruck an. Als Decker ihm ein Zeichen gab, löste er sich kurz von seiner Frau.

»Kannst du Rina zu deinem Schwiegervater mitnehmen und später zurück nach Brooklyn bringen?«

»Du kommst nicht mit?«

»Ich kann nicht, Jon. Es hat sich was ergeben.« »Was?« Das Gesicht des Rabbi nahm schlagartig wieder Farbe an. »Bist du auf eine Spur gestoßen?«

»Nein, nein«, log Decker. »Ich versuche nur, noch ein paar Dinge mit den Detectives zu klären.«

»Dafür würdest du ja wohl keinen schiwa-Besuch versäumen«, fuhr Jonathan ihn an. »Du hast eine Spur.«

Decker zog ihn beiseite, weg von den anderen. »Hör mir gut zu, Jonathan, denn es ist wirklich wichtig. Damit das klar ist:

Das muss unbedingt unter uns bleiben.« Der Rabbi nickte aufgeregt.

»Nein, ich habe dir nichts zu sagen«, beharrte Decker. »Du musst mir einfach vertrauen. Aber du darfst mit niemandem über mich sprechen - nicht mit deinem Schwager und auch nicht mit deine m Schwiegervater. Wenn sie fragen, wo ich bin, sag ihnen einfach, dass ich mich nicht wohl fühle.«

»Ja, ja, ich versteh schon.« Jonathan zog Decker am Ärmel. »Aber ich bin doch dein Rabbi, Akiva. Erzähl es mir! Ich sichere dir absolute Verschwiegenheit zu. Ich werde niemanden auch nur ein Wort davon sagen. Es ist nicht fair, mich auszuschließen! Bitte! Ich muss es einfach wissen!«

»Schluss jetzt!« Decker versuchte mühsam, sich zu beherrschen, und blickte seinem Bruder fest in die Augen. »Ich erkläre es dir noch mal: Ich habe dir nichts zu sagen, und du sagst zu niemanden auch nur ein Wort! Wenn du dich verplapperst oder irgendjemandem durch ein kleines Zwinkern oder einen Blick einen Hinweis gibst, vermasselst du alles! Hast du das verdammt noch mal verstanden?«

Der Rabbi wich erschrocken zurück.

Decker fuhr sich übers Gesicht. Der Umgang mit Donatti verwandelte auch ihn in einen Mistkerl. »Tut mir Leid.«

»Ich verstehe.« Jonathan legte seinem Bruder eine Hand auf die Schulter. »Ich habe nicht die geringste Vorstellung davon, mit wem oder womit du es zu tun hast, Akiva, aber offensichtlich ist es gefährlich. Denk einfach nicht mehr darüber nach. Ich weiß, wie man jemanden glaubwürdig entschuldigt. Sie werden keinen Verdacht schöpfen.«

Decker stieß laut die Luft aus. »Jon, du musst mir einfach vertrauen.«

»Das tu ich. Es tut mir Leid, dass ich dich so bedrängt habe.« Mühsam versuchte Decker, seine heftige Atmung unter Kontrolle zu bringen. »Ich werde Rina holen.« »Akiva.« Decker wartete.

»Danke.« Er reichte seine m Bruder die Hand und umarmte ihn innig. »Ich danke dir für alles.«

Es kostete Decker über drei Stunden, die Adresse ausfindig zu machen, aber nach etlichen Abzweigungen und Wendemanövern war er sich nicht mehr sicher, ob er auch die richtige Adresse gefunden hatte. Der eigentliche Treffpunkt lag unter verlassenen Hochbahngleisen, ein Stück von der Stelle entfernt, die Donatti ihm genannt hatte. Er war den Anweisungen gefolgt, aber Chris hatte ihn mit »rechts« und »links« statt mit »Osten« und »Westen« dirigiert. Decker wusste nur, dass er irgendwo in Jersey war, weit weg von jeder normalen Behausung, weit weg von jeglicher Zivilisation. Die letzte Stadt auf dem Weg hierher war Camden gewesen - eine völlig verarmte, verwahrloste, schlecht beleuchtete Gegend aus heruntergekommenen Mietskasernen und verbarrikadierten Bauruinen. Decker erinnerte sich, dass er vor einiger Zeit einen Artikel über Stadterneuerung im Raum New Jersey gelesen hatte. Aber nach dem zu urteilen, was er sah, konnte davon kaum die Rede sein.

Inzwischen war es kurz vor elf. Decker wartete in der feuchten Kälte, die ihm bis ins Mark kroch, und wippte auf seinen Füßen, direkt neben sich den Radschlüssel aus dem Wagen, seine einzige Verteidigungswaffe. Nervös rieb er sich die Hände, um die Blutzirkulation aufrechtzuerhalten. Warum zum Teufel hatte er Luisa seine Handschuhe gegeben? Der einzige Vorteil bestand darin, dass er sie später noch mal aufsuchen und aushorchen konnte und sie sich hoffentlich an sein idiotisches, aber ritterliches Verhalten erinnern würde.

Sein Wagen stand etwa fünfzig Meter von ihm entfernt; näher hatte er ihn nicht heranfahren können. In der Ferne hörte er das Rauschen des Highways - dumpfes Motorendröhnen, das Rumpeln schwerer Sattelschlepper und ein gelegentliches Hupen. Abgesehen von den Industriegeräuschen war die Gegend unheimlich still.

New Jersey, Heimat von Bruce »Born in the USA« Springsteen. Decker wusste, dass dieser Staat auch prachtvolle und wohlhabende Regionen besaß, aber diese Gegend hier zählte eindeutig nicht dazu. Beseitigte die Mafia im Fernsehen ihre Leichen nicht immer irgendwo in New Jersey? War das der Grund, warum Do natti diesen Ort ausgewählt hatte? Hatte er hier schon mal eine Leiche entsorgt?

In der Ferne lärmte plötzlich irgendetwas laut los - etwas, das sich fortbewegte. Durch den Dopplereffekt schwoll das Geräusch erst an und nahm anschließend wieder ab. Danach hörte er ein paar Tierschreie - eine Eule? Und dann war es plötzlich wieder vollkommen ruhig. Eine unheimliche Stille erfüllte die Luft, die unangenehmer war als jedes Knacken und Knirschen.

Und wenn Donatti gar nicht auftauchte? Dann war's das eben gewesen.

Diese Möglichkeit gefiel Decker gar nicht mal so schlecht, jedenfalls besser, als sich hier am Arsch der Welt die Eier abzufrieren. Ständig blickte er sich um, damit ihm nicht irgendein durchgeknallter Punk, der gerade nichts Besseres zu tun hatte, von hinten eins über den Schädel zog.

Ein Teil von Decker hoffte fast, dass C.D. sich wie früher als pathologischer Lügner erweisen und ihn attackieren würde. Donatti war ein seltsamer Vogel: nicht bösartig um der Bösartigkeit willen, sondern selbstsüchtig und ohne jede Moral -ein skrupelloser Hurensohn, der miese Dinger drehte. Und das machte seine nächsten Schritte noch schwerer vorhersehbar. Ein bösartiger Mensch stahl, vergewaltigte und tötete allein für den Kick, aus reiner Lust, während ein amoralischer Mensch wie Donatti zwar kein Problem mit Mord und Totschlag hatte, aber darin keinen Lustgewinn fand. Er war zwar jederzeit dazu in der Lage, aber nur, wenn es in seinem Interesse lag.

Doch was lag in Donattis Interesse?

Decker holte eine kleine Flasche Whisky aus der Tasche und nahm einen großen Schluck. Zum Abendessen hatte er ein fades vegetarisches Sandwich mit altbackenem Brot gehabt -sozusagen als Buße für das viele Fleisch am Abend zuvor. Er hatte seinem Magen etwas Gutes tun wollen; stattdessen lag ihm die »leichte Mahlzeit« nun wie ein Stein im Magen.

Noch ein Schluck Chivas, um die Nerven zu beruhigen. Decker hatte völlig die Orientierung verloren; er kam sich vor wie eine leichte Beute. Warum zum Teufel war er nicht wenigstens auf Donattis Angebot mit der Kanone eingegangen? Aber selbst das hätte ein Trick sein können.

Wenn du die Kanone nimmst, habe ich einen Grund, dich zu erschießen.

Bei C.D. konnte Decker einfach nie sagen, woran er war. Donatti hatte davon gesprochen, dass Decker jetzt alles schlucken müsste, so wie er zuvor acht Jahre lang hatte schlucken müssen. Handelte es sich bei diesem Treffen um eine Inszenierung? Ging es in Wahrheit nur um einen letzten Akt eines Racheplans, der jahrelang in einem grausamen Geist geschlummert und darauf gewartet hatte, ausgeführt zu werden?

Viertel nach elf.

Decker nahm noch einen Schluck.

Weitere fünfzehn Minuten vergingen, ohne dass etwas geschah. Kalte Schauer liefen ihm über den Rücken, und er spürte, wie seine Zehen langsam taub wurden.

Er würde bis zur Geisterstunde warten. Danach.. wäre es das eben gewesen.

Fünf Minuten vor Mitternacht sah Decker etwas, einen Schatten, der sich langsam näherte. Kein Auto weit und breit; Decker hatte noch nicht einmal entfernte Motorgeräusche gehört. Er fragte sich, wie der Schatten so leise so nah herankommen konnte. Hatte er sich angeschlichen, oder waren Deckers Sinne so abgelenkt gewesen, dass sie jeden Lärm ausblendeten?

Ein Adrenalinstoß jagte durch seinen Körper, als er sich herunterbeugte und nach dem Radschlüssel griff - kalt und schwer in seiner Hand. Langsam nahm der Schatten Gestalt an, und aus dem Nebel tauchten die Umrisse Donattis auf. Er trug einen Wollmantel, Handschuhe und zog eine Art Paket hinter sich her, ein schmales, zerbrechliches Wesen in einem viel zu großen Mantel. Seine Hände steckten in Wollfäustlingen, die jedoch Öffnungen für die Fingerspitzen hatten. Neben Donattis wuchtiger Gestalt wirkte es wie ein Kleinkind. Selbst aus dieser Entfernung konnte Decker erkennen, dass es weinte, schluchzend etwas zu Donatti sagte, ihn anflehte.

»Bitte schicken Sie mich nicht zurück.« »Niemand schickt dich zurück.« »Ich will nicht mit ihm reden..« »Er will dich nur sehen..«

»Nein, bitte nicht!« Sie umklammerte Chris' Arm; ihre Finger krallten sich in den Wollstoff des Mantels. Donatti zerrte sie weiter in Deckers Richtung, der ihnen ein paar Schritte entgegenkam. Decker sah, dass sie vor Angst immer stärker zu zittern begann, und ihre Beine kaum noch in der Lage waren, das Gewicht ihres Körpers zu tragen.

Decker blieb stehen. »Schon gut, es ist alles okay. Bleib, wo du bist.« Er musterte das Mädchen. Es schien sich um Shayndie zu handeln, aber da es so dunkel war und ihr Gesicht im Schatten lag, konnte er sich nicht sicher sein. Donatti blieb ebenfalls stehen, und sofort vergrub das Mädchen sein Gesicht in seiner Seite, kurz unterhalb der Achselhöhle.

»Sie fühlt sich offensichtlich wohl bei Ihnen«, sagte Decker.

»Was soll ich machen?«, antwortete Donatti. »Mein natürlicher Charme. Shayndie, beantworte einfach die Fragen dieses Mannes, und dann fahren wir zurück...«

»Er wird meinem Vater alles erzählen.«

»Ich werde deinem Vater gar nichts sagen«, antwortete Decker.

»Glauben Sie ihm nicht, Mr. Donatti. Er ist einer von denen.«

»Quatsch«, schnitt Chris ihr das Wort ab. »Die Juden sind ihm scheißegal. Er muss nur so tun, als wäre er einer von ihnen, sonst wird seine Frau wütend. Los jetzt, Shayndie. Mir ist kalt, und ich hab keine Lust, hier lange rumzustehen. Also bringen wir's hinter uns.« Er packte sie am Arm und schob sie von sich weg. Dann beugte er sich vor und schaute ihr in die Augen. Sofort schlug Shayndie die Hände vors Gesicht.

»Er wird dir nichts tun.« Donatti zog ihre Hände herunter. »Eigentlich ist er sogar ganz okay. Ich verspreche dir, dass er dir nichts tun wird. Und wenn er es versucht, lege ich ihn um, okay?« Eine Pistole tauchte aus dem Mantel auf. Es war eine große Waffe, wahrscheinlich eine Magnum. Donatti richtete sich auf und zielte damit auf Decker. »Siehst du? Ich hab eine Kanone, er nicht. Das bedeutet, wenn er irgendwas versucht, ist er tot.«

»Bitte - ich will nicht mit ihm reden.«

»Shayndie, beantworte seine Fragen, oder ich werde echt sauer. Ich bin müde, und ich will nach Hause. Tu's einfach, okay?«

Sie nickte, schlug aber dann wieder die Hände vors Gesicht.

»Und nimm die verdammten Hände runter! Los jetzt, Süße! Ich will dir doch nur helfen - aber du musst dich zusammenreißen.« Erneut beugte er sich zu ihr hinunter. »Komm schon, Shayndie«, sagte er mit leiser Stimme, »tu's für m ich.«

Sie antwortete nicht, aber Decker bemerkte, dass das Zittern langsam nachließ.

Donatti küsste ihre Stirn und strich ihr ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Bitte, Süße. Du möchtest mich doch glücklich machen, oder?«

Sie nickte.

»Und das hier würde mich sehr glücklich machen. Tu's für mich - rede mit ihm, okay?« Sie nickte wieder.

»Ich weiß, dass du das schaffst. Du bist ein großes Mädchen.« Donatti küsste sie auf die Wange, richtete sich erneut auf und starrte Decker an. »Beeilen Sie sich, oder wir haben beide ein Problem.«

»Kannst du mir sagen, was mit deinem Onkel passiert ist, Shayndie?«

Sie murmelte etwas, das Decker nicht verstand. »Ich kann dich nicht verstehen.«

Chris seufzte ungehalten. Er beugte sich ein drittes Mal zu ihr hinunter. »Mach jetzt, Shayndie. Flüster's mir ins Ohr.«

Sie gehorchte. Donatti nickte, während sie in sein Ohr sprach. Dann sagte er: »Irgendwer hat ihn sich geschnappt, als sie beide auf dem Weg ins Museum waren. Sie konnte weglaufen.« Dann fragte er Shayndie: »Konntest du sehen, wer's war?«

»Männer«, murmelte sie.

»Wie viele?«, fragte Decker.

»Zwei... drei. Sie waren frum. Sie trugen kapatas.« »Lubawitsch?«, fragte Decker. Ein verneinendes Kopfschütteln. »Satmar?«

Erneut schüttelte sie den Kopf.

»Breslau.«

»Nein. Ich meine, ich weiß nicht. Sie trugen. schtreimel.« »Schtreimel? Mitten in der Woche?« Sie nickte bejahend.

»Und sie trugen seidene kapatas oder etwas in der Art?« Sie nickte.

»Können Sie mir das übersetzen?«, fragte Donatti.

»Die Männer, die ihren Onkel entführten, trugen die Kleidung der chassidischen Juden. Es gibt viele verschiedene chassidische Sekten. Die Liebers gehören einer dieser Sekten an, und ich versuche herauszufinden, ob einer der eigenen Leute Ephraim umgelegt hat. Sie glaubt, es könnte eine andere Sekte gewesen sein, weil die Männer mitten in der Woche Sabbatkleidung trugen. Ein schtreimel ist ein typischer breitrandiger Pelzhut, der nur am Sabbat und zu besonderen Gelegenheiten getragen wird.« Decker runzelte die Stirn. »Irgendwas stimmt da nicht, Donatti. Das Ganze klingt so, als ob jemand Modenschau gespielt hat.«

»Und wer?«

»Wenn ich das wüsste.« Zu Shayndie gewandt, sagte Decker: »Hast du irgendeinen der Männer erkannt?« Ein schnelles Kopfschütteln. »Bist du ganz sicher?«

»Es ging alles so schnell«, murmelte sie. »Ich hatte Angst.«

Decker war sich sicher, dass das Mädchen ihm etwas verschwieg. »Hast du danach noch einmal mit deinen Eltern gesprochen?«

Mit weit aufgerissenen Augen schüttelte sie heftig den Kopf. Dann fasste sie nach Chris. »Können wir gehen, Mr. Donatti? Ich tu auch alles, was Sie wollen. Ich schwöre. Alles! Nur schicken Sie mich nicht mit ihm zurück.«

Man konnte es ihr ansehen - die Kleine meinte jedes Wort ernst, das sie sagte. Für Donatti hätte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, die Beine breit gemacht. Decker wurde speiübel davon.

»Bitte, Mr. Donatti!«, bettelte Shayndie.

»Okay. Du warst sehr brav.«

»Danke!« Sie brach in Tränen aus.

»Warte hier, Shayndie. Ich will nur kurz mit.«

»Bitte lassen Sie mich nicht allein!« Sie klammerte sich an ihn. »Bitte gehen Sie nicht.«

»Lass das!« Donatti schob sie von sich, als ob er einen Fussel wegwischen wollte. Seine Stimme wurde leise und bedrohlich: »Du wartest hier, verstanden?«

»Bitte schicken Sie mich nicht zurück.« »Hab ich das gesagt?« Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Hab ich das gesagt?« »Nein.«

»Du bist jetzt still, rührst dich nicht vom Fleck und lässt mich ihn loswerden! Dann fahren wir beide zurück.«

Tränen rannen ihr über die Wangen. Aber sie nickte.

Donatti legte seinen Arm um Decker und schob ihn außer Hörweite des Mädchens. Als ihr Beschützer sich von ihr entfernte, begann Shayndie, Donatti zu folgen. Er stoppte sie mit einem warnenden Blick. Dann sagte er zu Decker: »Sie ist noch Jungfrau.«

Decker schaute Donatti prüfend an. »Woher wissen Sie das?« »Weil ich sie gefragt habe.«

»Und Sie glauben, dass sie Ihnen die Wahrheit sagt?«

»O ja. Ich hab sie gefragt, bevor ich sie mitgenommen habe. Ich sagte ihr, es sei sehr wichtig, dass sie mich nicht anlügt. Ich sagte, es sei mir scheißegal, ob sie noch Jungfrau ist oder nicht, aber ich müsste die Wahrheit wissen. Denn wenn ich etwas hasse, sind es Lügen. Sie hat es mir geschworen. Sie war eine Jungfrau.«

Decker starrte ihn an. »Vor ein paar Sekunden haben Sie noch gesagt, sie ist eine Jungfrau. Gegenwartsform.«

Donatti schaute mit gespielter Verblüffung zurück. »Hab ich das gesagt?«

»Ja.«

Chris lächelte rätselhaft.

Du Bastard. »Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte Decker.

»Ich melde mich.«

»Was ist mit ihren Eltern?«

»Kein Wort, bis ich mich melde. Ein Wort zu ihren Eltern, und alle Absprachen sind null und nichtig. Ein Wort zu ihnen bedeutet auch, dass Sie Ihr Wort gebrochen haben - und dann sind Sie ein toter Mann.«

»Dann kann ich ja von Glück sagen, dass mein Testament schon gemacht ist. Wann werden Sie sich melden?«

»Keine Ahnung. Sie werden sich etwas gedulden müssen.«

»Geduld ist mein zweiter Vorname. Ich hab sowieso vor, mich erst mal in der unmittelbaren Umgebung der Liebers umzuhören. Jetzt, wo ich weiß, dass Shaynda bei Ihnen ist, finde ich ja vielleicht heraus, wer diese frommen Typen waren. Ich kann doch davon ausgehen, dass ich Ihnen mit meiner Suche nicht auf die Füße trete?«

»Kein Problem. Ich weiß absolut nichts über den Mord. Und was noch wichtiger ist, es ist mir völlig egal. Wenn alle Juden auf diesem Erdball plötzlich tot umfallen würden, wäre ich froh dann bliebe mehr Geld für mich über.«

»Sie sind hoffnungslos sentimental, Donatti, genau wie die Nazis. «

»Sie wissen doch, ich bin kein großer Wagner-Fan.«

»Wenn ich auf ein paar Namen und Gesichter stoße, muss ich noch mal mit ihr sprechen. Wie komme ich dann an sie ran?«, fragte Decker.

»Ich werde mich melden«, antwortete Donatti.

»Und dann kann ich ihr die Gesichter zeigen?«

»Wenn Sie sich an meine Regeln halten, wird sich das einrichten lassen.«

»Danke.« Decker legte seine Hand auf die Schulter des jüngeren Mannes. »Wahrscheinlich sollte ich Ihnen das nicht sagen, Donatti, aber Sie waren eine große Hilfe.«

»Gut«, grinste Donatti. »Ich tu gern jemandem einen Gefallen.«

»Das denk ich mir.«

Decker wandte sich zum Gehen, aber Donatti hielt ihn am Arm zurück. »Ich hab mit ihr herumgemacht, Decker, aber sie ist immer noch heil. Nur aus Respekt vor Ihnen hab ich sie noch nicht gefickt.«

»Das weiß ich zu schätzen«, entgegnete Decker. Er überlegte einen Moment und fragte dann: »Hatte sie schon irgendwelche sexuelle Erfahrung?«

Donatti verzog spöttisch den Mund. »Für derartige Details verlange ich normalerweise Geld, Lieutenant.«

Decker unterdrückte seine aufsteigende Wut. »Muss ich die Möglichkeit eines Missbrauchs in Betracht ziehen?«, fragte er mit Nachdruck.

»Seit Terry bin ich mit niemandem mehr zusammen gewesen, der noch unschuldiger war als die Kleine«, lachte Donatti leise. »Meine Güte, selbst Terry wusste, was ein Steifer war. Ich bin sicher, dass Shayndie gestern Nacht zum ersten Mal in ihrem Leben einen Schwanz gesehen hat - vom Anfassen ganz zu schweigen. Das Mädel kommt aus einem anderen Jahrhundert.«

Decker schwieg.

»Niemand hat an ihr herumgespielt«, wiederholte Donatti. »Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«

»Gut. Das hilft mir weiter.«

Donatti sah nach oben. »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie viel ich für ihren Weiterverkauf bekommen könnte? Ich habe mindestens drei Kunden aus dem Nahen Osten, die ein Vermögen dafür ausgeben würden, eine jüdische Jungfrau zu vergewaltigen. Sie setzen sie in ein Privatflugzeug, nehmen sie mit in ihr Land, haben ihren Spaß und verkaufen sie danach an ein Bordell.«

»Ich werde zahlen, was Sie verlangen!«, platzte es aus Decker heraus.

»Das können Sie sich nicht leisten.« Donatti verbiss sich ein Lachen. »Vielleicht können wir ja einen Tausch gegen Ihre Frau arrangieren.« Er trat blitzschnell einen Schritt zurück und hielt abwehrend die Handflächen hoch. »War doch nur Spaß! Keine Angst, Shayndie ist bei mir sicher. Wenn Sie rausgefunden haben, was passiert ist, und keine Gefahr mehr für die Kleine besteht, können Sie sie zurückhaben - heil und unversehrt.«

Decker atmete immer noch heftig. »Danke. Vielen Dank, Chris.«

»Noch ein Gefallen, den Sie mir schulden.« »Führen Sie etwa Buch?«

»Darauf können Sie Ihren jüdischen Arsch verwetten.«